Woran wir uns auch erinnern müssen

Warum das Streben nach „gerechtem Frieden“ für die Ukraine nicht aufgegeben werden darf
Aufräumarbeiten nach einem russischen Raketen- und Drohnenangriff auf Wohnviertel im Zentrum (von Lwiw (Lemberg) in der Westukraine, bei dem am 6.9. 2024 sieben Menschen starben.
Foto: picture alliance
Aufräumarbeiten nach einem russischen Raketen- und Drohnenangriff auf Wohnviertel im Zentrum von Lwiw (Lemberg) in der Westukraine, bei dem am 6. September 2024 sieben Menschen starben.

Am 1. September, dem Antikriegstag veröffentlichte der Leipziger Theologe und Journalist Stefan Seidel an dieser Stelle einen Text, in dem er generell forderte, einer „Friedenslogik“ zu folgen. Die Theologen Peter und Gabriele Scherle kritisieren dies und wenden sich auch gegen einen folgenden Beitrag von Hans-Jürgen Benedict, der die Politik der Ukraine kritisierte.

In seinem Artikel zum Antikriegstag „Den Frieden ins Spiel bringen“ hat Stefan Seidel eine polemisches Argumentationsmuster bemüht, das den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 von Anfang an begleitet. Denjenigen, die sich dafür einsetzen, dass die Ukraine sich selbst militärisch verteidigen darf und dabei auch von allen anderen Staaten unterstützt werden müsste, wird vorgeworfen, sie seien in einer „Kriegslogik“ gefangen.

Diese Polemik nimmt Stefan Seidel zwar auf, aber er abstrahiert völlig vom russischen Angriffskrieg, wie auch von allen anderen Kriegen, die gegenwärtig auf der Erde toben. Sein Beitrag will ohne jede Konkretion auskommen – obwohl doch alle Leserinnen und Leser wissen werden, welcher Krieg (vorrangig) gemeint ist. Dieses Vorgehen führt außerdem dazu, dass der Text als zeitloses und im wahrsten Sinn des Wortes blutleeres Gedankenspiel erscheint.

Das ist auch insofern bemerkenswert, als der Antikriegstag eben aus seiner Konkretion seine Bedeutung gewonnen hat. Am 1. September erinnern wir uns an den Überfall Nazi-Deutschlands auf Polen, mit dem der Zweite Weltkrieg begann. Konkret erinnern wir uns auch daran, dass diesem Angriff auf Polen der geheime Hitler-Stalin-Pakt vorausging, in dem sich das Dritte Reich und die Sowjetunion auf eine Teilung Polens einigten und alle Gebiete zwischen beiden Mächten jeweils als Einflusssphären verstanden, die sie sich beliebig einverleiben konnten. Auf dieser historischen Erfahrung beruhen die Ängste der Länder vom Baltikum bis zur Ukraine, die im russischen Angriffskrieg eine bittere Bestätigung erhalten haben.

Gegen die Westbindung Deutschlands

Zur historischen Erfahrung der Länder Ostmitteleuropas gehört auch, dass es in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert eine geopolitische Tradition gab und gibt, die sich keine eigenständige staatliche Macht zwischen (Groß-)Deutschland und (Groß-)Russland vorstellen kann oder will. Diese Tradition hat sich im 20. Jahrhundert mit jenen Kräften verbinden können, die sich gegen eine Westbindung Deutschlands zur Wehr setzen und Europa von den USA entkoppeln will. Das beinhaltet nicht nur die politische und militärische Macht, sondern auch den kulturellen Einfluss, der sich mit dem (angelsächsisch geprägten) westlichen Liberalismus verbunden ist. 

Daraus hat sich eine politische Vision entwickelt, die sich einen Kulturraum von Lissabon bis Wladiwostok erträumt, der befreit von US-Imperialismus eigenes weltgeschichtliches Gewicht erhält. Hier trifft sich die Vorstellung Putins von einer „russischen Welt“, die in Europa keine Grenzen kennt, mit der deutschnationalen Vision, wie sie AfD und BSW pflegen, die jede Einbindung in die EU und die NATO ablehnt, die der deutschen Politik Grenzen setzt.

Bei den Landtagswahlen in Thüringen am 1. September 2024, haben nun jene beiden Parteien fast die Hälfte der Stimmen erhalten, die im Blick auf die Ukraine an eben jene Tradition anknüpfen, die am 1. September 1939 zum Überfall auf Polen geführt hat. Höcke und Wagenknecht könnten nun paktieren und eine Dynamik in der deutschen Politik freisetzen, die der Ukraine die Mittel entzieht, sich gegen die seit 2014 andauernde russische Aggression weiter zur Wehr zu setzen. Die Ukraine gehöre – so die politische Vorstellung – ohnehin zur russischen Einflusssphäre, weshalb die Unabhängigkeit des Landes und der Wille zur Mitgliedschaft in EU und NATO gar nicht zur Debatte stünden.

„Westliche Werte“

Hans-Jürgen Benedict hat inzwischen unter der Überschrift „Menschenrechte ernst nehmen“ ein zusätzliches Argument entwickelt. Angesichts dreier politischer Entscheidungen in der Ukraine meint er den Nachweis führen zu können, dass die Ukraine ohnehin nicht zum Westen gehöre. 

Weil die Ukraine kein „allgemeines Recht auf Kriegsdienstverweigerung“ kennt, sondern „nur Angehörige von zehn kleineren Glaubensgemeinschaften pazifistischer Herkunft vom Wehrdienst befreit“ sind, könne es auch nicht die „westlichen Werte“ verteidigen. Deshalb ist er der Ansicht, diejenigen männlichen Ukrainer, die im wehrpflichtigen Alter nach Deutschland ausgereist sind, müssten von der Bundesrepublik als Kriegsdienstverweigerer anerkannt werden und auf dieser Basis – wenn das Aufenthaltsrecht als Kriegsflüchtling erlischt – in der Bundesrepublik Asyl erhalten. „Die EKD mit ihrer großen Tradition der Beratung von Kriegsdienstverweigerern“ solle sich dafür einsetzen. Allerdings vergisst Benedict eine Kleinigkeit bei dieser Überlegung: die betroffenen Ukrainer müssten selbst erst den Kriegsdienst verweigern. Dann hätte sie denselben Schutz verdient wie Kriegsdienstverweigerer aus anderen Ländern, unter anderem auch aus Russland und Belarus.

Sein zweites Beispiel ist das Verbot der Russisch-Orthodoxen Kirche (ROK) in der Ukraine durch ein Gesetz, das das ukrainische Parlament am 21. August verbschiedet hat. Dieser Schritt wird zu Recht kritisiert, weil die Belege für seine Begründung schwach sind und im Blick auf jede russisch-orthodoxe Gemeinde erbracht werden müssten. Benedikt allerdings macht das ganz große Fass auf und vergleicht die ROK mit der Bekennenden Kirche: „Und hier wird die ganze Sache für den Westen schwierig – kann er ein Land zu unterstützen, das das Recht auf Religionsfreiheit mit Füßen tritt, indem es eine Kirche total verbietet? Man fühlt sich an den Kirchenkampf zwischen der von Hitler unterstützten deutsch-christlich eingestellten Führer-Kirche und der Bekennenden Kirche erinnert, die im Barmer Bekenntnis sagte: ‚Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Leben werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen.‘ (5. Barmer These)“ Damit suggeriert Benedict zum einen, das ukrainische Parlament sei mit dem nationalsozialistischen Führer-Staat vergleichbar und knüpft damit nahtlos an die Behauptung Putins an, er befreie die Ukraine von einem Nazi-Regime. Zum anderen behauptet er fälschlicherweise, die ukrainische Regierung – die keineswegs andere Religionsgemeinschaften als die (dem Patriarchen Kyrill verbunden bleibende) ROK verbietet – hätte selbst den Anspruch, „die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens“ zu werden, wie es das „Tausendjährige Reich“ versuchte.

Verantwortung verwischt

Das dritte Beispiel ist für Benedict „der Einmarsch ukrainischer Truppen in die russische Region Kursk und damit die ukrainische Besetzung eines gesamten Landstrichs“. Damit verstoße die Ukraine gegen Auflagen: „Denn die lange Auseinandersetzung in den westlichen Staaten um den Umfang und die rein defensive Verwendung der Waffen wird mit dieser gerade auch durch westliche Waffen ermöglichten kleinen Offensive ad absurdum geführt.“ Ausdrücklich fordert er die Kirchen auf, gegen diesen Schritt, ebenso wie die Stationierung von Mittelstreckenwaffen in der Bundesrepublik, zu protestieren – nicht ohne gleich zweimal auf die Gefahr der Eskalation des Krieges und des Einsatzes von Atomwaffen durch Russland hinzuweisen. Und er endet mit dem Hinweis, „dass an den russisch-ukrainischen Fronten auf beiden Seiten täglich Soldaten verletzt werden und sterben, ein Morden, das gen Himmel schreit!“ Damit verwischt er nicht nur die Verantwortung für den andauernden Krieg, sondern macht sogar die Ukraine für jene Eskalation haftbar, mit der Russland droht.

Inwiefern die Offensive der Ukraine ein Argument dafür sei, dass das Land nicht dem Westen zugehören kann, erschließt sich nicht. Erkennbar ist allerdings eine Argumentationsfigur, die den Unterschied einebnet, der zwischen dem russischen Angriffs- und Vernichtungskrieg und der ukrainischen Verteidigung und dem Kampf um das Überleben des Landes besteht.

In der Folge landen wir dann wieder bei jener Abstraktion, die den Text von Seidel kennzeichnet. Demnach gehe es um den Krieg und das Morden im Krieg an und für sich. Genauso abstrakt lässt sich dann behaupten, es ginge darum, die „Kriegslogik“ durch eine „Friedenslogik“ zu ersetzen. 

An politischen Fragen nicht interessiert

Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass ausgerechnet jene, die unentwegt nach „Verhandlungen“ rufen, gar keine Vorstellung davon äußern, was denn das Ziel solcher Verhandlungen sein soll. Wenn es um einen „gerechten Frieden“ gehen sollte, dann müsste doch zumindest von vornherein festgehalten werden, dass die Ukraine als souveräner Staat existieren kann und dass es Sicherheitsgarantien der Völkergemeinschaft gibt, die verhindern, dass Russland das Land erneut überfällt. 

Doch solche banalen politischen Fragen interessieren Seidel nicht. Er sucht nach einer „Friedenslogik“ und ist der Ansicht: „Hier könnte der Beitrag einer Ethik hilfreich werden, die sich dem christlichen Friedenszeugnis und der (sic!) prophetischen Visionen verpflichtet fühlt.“ Seine Rekonstruktion des christlichen Friedenszeugnisses folgt nun allerdings erneut einer Hermeneutik der Abstraktion. Er ignoriert die Konkretion und die Vielfalt der biblischen Traditionen, die den „Gott des Friedens“ in seiner Auseinandersetzung mit einer Welt „voll von Gewalttat“ (Genesis 6,11) bezeugen. Es gibt in der Bibel nicht nur die Aufforderung zum Gewaltverzicht in der Nachfolge Jesu, sondern auch die wiederkehrende Aufforderung, die Gewalt notfalls mit Gewalt zu begrenzen, aus der sich die Ethik der Gewaltbegrenzung entwickelt hat, die leider missverständlich als „Lehre vom gerechten Krieg“ bezeichnet wurde. Eine Tradition, die Seidel – in Abgrenzung zur neuen Schrift der deutschen Bischofskonferenz „Friede dem Haus“ (2024) und damit indirekt auch der letzten EKD-Denkschrift „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“ (2007) – ausdrücklich negiert. Drittens gibt es in der Bibel auch die Sehnsucht der Unterdrückten und Verfolgten, die sich danach sehnen, dass Gott die Gewalttäter mit seiner heiligen Gewalt besiegt. Es ist daher problematisch, sich mit einigen Bibelzitaten eine nur scheinbar eindeutige Position verschaffen zu wollen. Mehr noch: Es gibt hermeneutische Regeln, die eingehalten werden müssen, um den Missbrauch biblischer Texte zu verhindern. Dazu zwei Beispiele:

Die Verwendung der Sprache der Rachepsalmen und der apokalyptischen Texte auch des Neuen Testaments durch den Patriarchen Kyrill zur Rechtfertigung des russischen Angriffskrieges. Die genannten Texte sind Texte aus der Perspektive der Opfer geschrieben und dürfen nicht von Tätern gebraucht werden, die ihre eigenen Machtphantasien biblisch begründen wollen. Indem Kyrill für sich das Recht der „heiligen Gewalt“ beansprucht, lästert er den biblischen Gott, wie es die ehemalige Ratsvorsitzende Annette Kurschus zurecht formuliert hat.

Hermeneutisch unverantwortlich

Die Verwendung der Bergpredigt und der Jesus-Worte „Wer das Schwert zieht, wird durch das Schwert umkommen“ wie in dem Text von Seidel, ist ebenfalls hermeneutisch unverantwortlich. Vor allem wenn sie konkretisiert werden, etwa um die militärische Unterstützung der Ukraine zu delegitimieren und damit die Selbstverteidigung der Angegriffenen entscheidend zu schwächen. (Und was ist mit Matthäus 10,34: „Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“) Die Ukrainerinnen und Ukrainer gar aufzufordern „die andere Wange hinzuhalten“, wie es wiederholt zu hören war, missbraucht das Jesus-Wort, indem es anderen als der Gemeinschaft der Jüngerinnen und Jünger einen „Gewaltverzicht“ auferlegen will. Im Blick auf den Ukraine-Krieg ist dem Schlusssatz von Seidel zu widersprechen, der postuliert: „Insofern ist die Bergpredigt kein realitäts- und politikfernes Programm, sondern möglicherweise der letzte rettende Ausweg, der noch offensteht.“

Das hermeneutische Problem zeigt sich besonders deutlich in der Inanspruchnahme einer prophetischen Vision. „Von einer andersgearteten Realität als Erwartungs- und Möglichkeitshorizont in einer gewaltvollen Realität spricht die Bibel: ‚Die Völker werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen‘ (Micha 4,3). Eine solche Vision kann das Fixiert-Sein auf die Gewaltzirkel auflösen und den Geist öffnen für andere Wege, die auch vorauslaufend und zunächst einseitig eröffnet werden können.“ 

Isoliert und abstrahiert

Der biblische Text wird von seinen konkreten geschichtlichen Bezügen und seinen intertextuellen Verweisen isoliert und abstrahiert, um als Begründung einer kontextlosen „Friedenslogik“ herhalten zu müssen. Dazu nur zwei kurze Anmerkungen. Erinnert sei zum einen daran, dass im Zusammenhang des prophetischen Buches Joel die Aufforderung Gottes laut wird, „Pflugscharen zu Schwertern“ zu schmieden (Joel 4,10), um die Unterwerfung und Vernichtung des Gottesvolkes zu richten. Zum anderen sollte die Formel „Schwerter zu Pflugscharen“ bei Micha und Jesaja im Zusammenhang des ganzen Textes gelesen werden. Dieser beginnt mit der endzeitlichen Verheißung, dass von Zion Weisung ausgehen und Gott Recht sprechen wird. Die Völkerwallfahrt zum Zion ist also keine Vision des Gewaltverzichts „an und für sich“, sondern steht im Zusammenhang der Verheißung, dass Gott für Gerechtigkeit sorgt. Und die prophetische Vision endet mit der Verheißung, dass alle Völker inmitten ihrer Feigenbäume und Weinstöcke sicher wohnen können. Ein Bild, das auch im letzten Buch der Bibel wieder auftaucht, dort allerdings so, dass die Völker ihre Wunden mit Blättern von den Bäumen des Lebens heilen, die Spuren der Gewaltgeschichte also noch erkennbar sind.

Wer diese biblischen Bilder des endzeitlichen Schalom von ihrer textlichen und geschichtlichen Einbettung abstrahiert, endet mit einer blutleeren „Friedenslogik“, die angesichts konkreter Gewalterfahrungen und Kriege, wie etwa dem Überlebenskampf der Ukraine, stumm bleiben muss. Wo bleibt die Gerechtigkeit? Wie können Menschen wieder sicher wohnen? Wer schützt die Feigenbäume und Weinstöcke?

All das kommt in den Blick, wenn der Antikriegstag nicht von der Erinnerung isoliert wird, dass am 1. September 1939 nicht einfach „Krieg ausbrach“, sondern Nazi-Deutschlands einen Angriffskrieg gegen Polen begann und den Zweiten Weltkrieg entfesselte. Erst die militärische Niederlage des Dritten Reichs beendete das größte Gewaltinferno des 20. Jahrhunderts.

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.
Foto: epd

Gabriele Scherle

Gabriele Scherle war Pröpstin für Rhein-Main der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Sie ist Vorstandsvorsitzende der Bildungsstätte Anne Frank, Frankfurt und Mitglied im Vorstand der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste.

Foto: privat

Peter Scherle

Peter Scherle, Jhg. 1956, ist Pfarrer i.R. der EKHN. Er war bis 2020  Professor für Kirchentheorie und Kybernetik am Theologischen Seminar Herborn und Visiting Lecturer für Ökumenische Theologie und Sozialethik an der Irish School of Ecumenics (Trinity College Dublin).


Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Kirche"