Allein vor der Klasse

Drei Lehrer berichten aus ihrem Alltag
Tafel
Foto: dpa

„Nicht nur Defizite sehen“

Andreas Meier (Name geändert), 53, ist im Quereinstieg Grundschullehrer geworden. Trotz vieler Herausforderungen hat er diese Entscheidung nicht bereut.

Seit zwei Jahren bin ich Lehrer an einer Berliner Grundschule. Zuvor habe ich viele Jahre in der Medienbranche gearbeitet, zuletzt als Pressereferent in einem großen Verband. Der Job war völlig in Ordnung, die Bezahlung stimmte, ich hatte nette Kollegen und Kolleginnen. Aber ich hatte zunehmend weniger Spaß an meiner Arbeit, konnte die Frage nach dem Sinn meines Tuns nicht mehr beantworten. Es war klar, ich musste mir mit Anfang 50 nochmal was anderes suchen.

Es reizte mich, Lehrer zu werden. Ich erkläre gerne, kann ganz gut mit Kindern umgehen und vor allem wollte ich der weit verbreiteten Klage über die schlimmen Zustände an unseren Schulen zumindest in puncto Lehrermangel etwas entgegensetzen. Meine eigenen Kinder sind schon groß und brauchen weniger Aufmerksamkeit, meine Frau verdient gut, weshalb wir die finanziellen Einbußen verkraften können. Ich verdiene etwa 30 Prozent weniger als in meinem vorherigen Job, bin aber auch noch in der Ausbildung. Dafür ist die Vergütung durchaus attraktiv. Ich gebe 17 Unterrichtsstunden in der Woche, an einem Tag pro Woche bin ich im Studium und lerne vor allem Fachdidaktik.

Eigentlich soll ich während der Ausbildung nur als Zweitlehrer eingesetzt werden. Aber die Personaldecke ist so dünn, dass ich schon ab dem zweiten Tag allein vor der Klasse stehen musste, weil ich auch Musik unterrichte. Und dieser Anfang hat mich ziemlich überfordert. Die Kinder verhalten sich nicht einfach mehr so, wie ich es aus meiner Schulzeit kannte. Ein Kind aus der dritten Klasse ist einfach während des Unterrichts aufgestanden und weggelaufen. Sollte ich nun hintergehen und die anderen allein lassen? Wie löse ich solche und viele andere Probleme mit der Disziplin?

Dabei will ich den Kindern gar keinen Vorwurf machen. Ich bin ja derjenige, der ihnen was beibringen soll. Aber ich fühlte mich schon ziemlich ins kalte Wasser geworfen und habe mich so manches Mal gefragt: „Was tue ich den Kindern da an?“ Eigentlich kann ich das nur damit rechtfertigen, dass es derzeit viel zu wenige gut ausgebildete Lehrkräfte gibt. Wenn ich nicht vor der Klasse stünde, würde da niemand stehen und sie unterrichten.

Mit der Zeit werde ich auch besser. Es ist ein wirkliches Erfolgserlebnis, wenn eine Schülerin, die lange Zeit nur große Buchstaben aneinandergereiht hat, irgendwann Groß- und Kleinschreibung versteht und beginnt, richtige Wörter zu schreiben. Mein Eindruck ist: Wir müssen wegkommen von dem ständigen Klagen über die Defizite im Lernstand der Kinder. Stattdessen sollten wir betonen, was die Kinder gelernt haben, und uns über diese Erfolge mit ihnen freuen.

Manchmal wünsche ich mir mehr Staat und mehr Verantwortungsübernahme. Wenn Eltern nicht zu vereinbarten Terminen erscheinen, kann ich nicht mit ihnen über Probleme ihrer Kinder reden. Manche sind an dieser Schule auch fehl am Platz, weil ihnen die Vorschule fehlt. Sie können nicht bis zehn zählen, ihre Schuleignung wurde nicht untersucht, aber sie sind trotzdem auf der Schule.

Viele der Schüler:innen kommen aus bildungsfernem Milieu, ihnen wurde nicht schon als Kleinkind vorgelesen, sie haben kein Instrument gelernt, kennen keine Bibliothek von innen. Einige haben auch eine Fluchterfahrung mit schrecklichen Erlebnissen hinter sich, sprechen wenig Deutsch. Das Problem ist, dass diese in puncto Bildung recht bedürftigen Kinder nun in eine Schule kommen, in der totaler Ressourcenmangel herrscht. Lehrpersonal, Räume, Materialien – von allem ist immer viel zu wenig da. Wenn ich Farbkopien brauche, muss ich sie selber bezahlen.

Dennoch habe ich meine Entscheidung bislang nicht bereut. Ich bin zwar in jeder Minute vor der Klasse gefordert, muss zu Hause viel Zeit in die Unterrichtsvorbereitung stecken und sehe an vielen Stellen Probleme. Aber meine Arbeit wird im Kollegium wertgeschätzt. Und die Sinnfrage habe ich mir bislang noch nicht wieder gestellt.

Protokoll: Stephan Kosch

 

„Die volle Breitseite“

Klaus Beckmann, 57, Pfarrer, unterrichtet seit 2020 an einer Berufsbildenden Schule Religion.

Nach dem 7. Oktober 2023 kam die volle Breitseite. Ich unterrichtete Reli im Klassenverband, ohne Abwahloption zu „Ethik“, oft in muslimisch dominierten Klassen, wie es an Berufsschulen Standard ist. So traf die Verhetzung durch Erdogan, Al Jazeera und TikTok meinen Unterricht mit Wucht. Kollegen aus „neutralen“ Fächern tauchten ab, mancher fürchtete Bürgerkrieg im Haus. Der Relilehrer konnte nicht kneifen, wollte es auch nicht. Was drinsteckte in jungen Köpfen, platzte heraus. Ende aller Illusion. Und wie angemessen reagieren, laufen Absolventinnen zur Zeugnisausgabe mit Palästinaflagge auf?

Leisere und selbständigere Töne, immer wieder dazwischen, bestärkten mich, dem rationalen Argument doch zu trauen. Ein assyrisch-christlicher Azubi bat mich diskret, nachdrücklicher historische Fakten zum Nahostkonflikt zu vermitteln, ihn belaste das hohle Hassgeschrei anderer Migranten. Im Unterricht erwies sich schnell: Die lautesten Wortführer hatten von den Zusammenhängen die geringste Ahnung, Hass auf Israel kompensierte Frust und Unterlegenheitsgefühl. Unter vier Augen bedankte sich ein schüchterner Türke, weil er jetzt alles besser einordnen könne.

Junkiemäßig hingen viele junge Menschen an ausländischer Propaganda. Eine Schülerin erklärte im Unterricht, was „ihr Land“ sage, zähle für sie mehr als die deutschen Medien, denen sie misstraue. Sie folge dem, was sie fühle. Meine Rückfrage, wieso sie als Volljährige hier lebe und lerne, blieb ohne Antwort. Überhaupt steht Medienpädagogik auf verlorenem Posten; sie müsste früher und gründlicher ansetzen. Ging es an religiöse Inhalte, waren viele Muslime, die demonstrativ ihre Community feierten, genauso blank wie junge Christen. Einzelne überraschten immer wieder: Kopftuchträgerinnen äußerten differenzierte Meinungen, während grenzwertig locker bekleidete Schülerinnen harte islamistische Phrasen raushauten. Ein Russlanddeutscher stand kritisch-reflektiert gegen Putin. Das gab es, jedoch sehr selten.

Bedrängend für den Ein-Nebenfach-Lehrer ist die schiere Zahl der Gesichter. Mit vollem Deputat versorgte ich 18 Klassen – ein oder zwei Stunden pro Woche –, rund 350 Lernende. Bis Schuljahresende griff ich bei Namen daneben. Dergleichen stresst und schadet pädagogisch. Ein Lehrer sollte die reelle Chance haben, seine Schüler zu kennen.

Religiöse Themen sind keineswegs obsolet. Im Gegenteil: Fragen um „Woher“, „Danach“ und „Ob es die Hölle gibt“ beschäftigen junge Menschen intensiv. Wenn ich von meinem Glauben an den gekreuzigten Christus sprach, wurde zugehört. Das gesellschaftliche Wegbrechen der Kirchen hingegen untergräbt den Reli-Unterricht; seine Akzeptanz leidet, bei Schülern, im Lehrerkollegium und politisch. Es reicht eben nicht, als das Fach zu gelten, das freundlich gute Noten verschleudert.

Wichtig wäre genügend zeitlicher Freiraum für Schulseelsorge, zudem ein Islamunterricht mit solider aufgeklärter Basis. Dafür allerdings müsste Bildung nicht nur am Sonntag gelobt, sondern effektiv politisch gefördert werden.

 

„Fruchtbare Doppelung“

Peter Schultze, 59, aus Hamburg, ist seit über dreißig Jahren als Gymnasiallehrer für Musik und Biologie tätig. Er wollte schon immer in die Schule und ist noch gerne dort.

Dass ich Lehrer werden wollte, war mir eigentlich schon immer klar – jedenfalls seit ich selbst als Schüler ab Ende der 1970er-Jahre darüber nachzudenken begann, was aus mir beruflich einmal werden könnte. Die Gründe waren zum einen, dass ich selten Hemmungen hatte, vor größeren Gruppen zu sprechen, was ja als Lehrer durchaus von Vorteil ist, und zum anderen, dass ich selbst – obwohl kein besonders herausragender Schüler – mich in der Schule immer wohlgefühlt habe. Ich habe die beiden Fächer studiert, die ich selbst als Leistungskurse hatte: Musik und Biologie. Ich studierte ab Mitte der 1980er-Jahre in Hannover und habe dann nach dem ersten Examen doch gezögert, ins Referendariat zu gehen, weil ich kurzfristig überlegte, als Geiger Berufsmusiker zu werden. Das probierte ich aus, während ich pro forma Philosophie studierte. Es machte mir viel Freude, aber mir wurde bald klar, dass ich so nicht dauerhaft mein Leben fristen könnte – also ohne die finanziellen Vorteile, die ein Studentenausweis mit sich brachte. Deswegen absolvierte ich das Referendariat in Wilhelmshaven.

Seit fast dreißig Jahren bin ich nun als Gymnasiallehrer für Musik und Biologie in Hamburg und habe selbst schon viele Referendarinnen und Referendare ausgebildet. Verglichen mit unserer Ausbildung Anfang der 1990er-Jahre, tun mir die jungen Kolleg:innen ein bisschen leid, denn sie haben es sehr deutlich schwerer als wir, da sie von Anfang an quasi aus dem Stand heraus unterrichten müssen. Kein Wunder, denn ich denke, dass heute aus finanziellen Gründen LiVs (Lehrer:innen im Vorbereitungsdienst) schon während der Ausbildung als Lehrkräfte eingeplant und dementsprechend im Einsatz sind. Keine gute Entwicklung. Ich bewundere aber immer wieder, wie engagiert und mutig die Jungen zu Werke gehen! Das freut mich sehr, denn ich finde, Lehrer ist ein wunderbarer Beruf, und die etwa sechs Jahre, die ich nun noch bis zur Pensionierung vor mir habe, stehen mir keinesfalls besonders bevor. Ich versuche, so gut es geht, lähmender Routine vorzubeugen, und gestatte mir durchaus, meine eigenen Konzepte und Methoden immer wieder auf den Prüfstand zu stellen. Das ist wichtig, sonst ist man selbst nicht glücklich und die Schülerinnen und Schüler sind es auch nicht.

Ich habe das Glück, dass ich immer auch noch – nebenberuflich sozusagen – als Musiker in professionellen Ensembles tätig gewesen bin. Deswegen hatte ich nie volles Stundendeputat, sondern meistens eine Dreiviertelstelle. Für mich ist das eine sehr gute Kombination, und ich bin froh, dass ich es seit Jahrzehnten so einrichten kann. Ich denke, diese fruchtbare Doppelung – denn ich bekomme durch mein aktives Musizieren auch immer wieder Stoffe und Anregungen für meinen Musikunterricht – sorgt auch dafür, dass ich mir meinen Elan für die Schule erhalten konnte.

Natürlich hat sich sehr viel geändert seit Mitte der 1990er-Jahre: Fast die Hälfte aller Schüler:innen eines Jahrgangs geht heute aufs Gymnasium, immer mehr Schülerinnen und Schüler haben Pro­bleme mit der deutschen Sprache, weil zuhause eine andere Sprache gesprochen wird. All das macht das Unterrichten nicht einfacher, aber andererseits bereichert dieser Input aus verschiedenen Kulturen auch unseren Schulalltag, unser Leben und unser Land. Ich jedenfalls freue mich auf meine letzten Jahre als Lehrer, wobei ich dann – in ein paar Jahren – sicherlich auch in Frieden loslassen kann. Den Bogen als Streicher kann ich hoffentlich noch etwas länger in der Hand halten, denn ohne Musik zu leben, scheint mir doch schwerer vorstellbar als ein Leben ohne Schule.

 

 

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