Empathie ist unteilbar

Das „Ja, aber …“ im Nahostkonflikt muss ein Ende finden

„Ach wenn doch die Empathieblockaden endlich überwunden würden!“ – das habe ich oftmals innerlich ausgerufen, wenn ich die kontroversen Debatten um den Krieg in Israel und Gaza verfolgt habe. Ich meine Blockaden, die es unmöglich machen, das Leid der anderen zu sehen und sich nahegehen zu lassen. Immer wieder habe ich mit einiger Fassungslosigkeit wahrgenommen, wie Menschen, die guten Willens sind und gegen Unrecht aufbegehren, das Leid der anderen völlig ausblenden. Menschen protestieren mit guten Gründen gegen das Unrecht, das den Palästinensern in der Vergangenheit angetan worden ist und ihnen durch Siedlergewalt und völlig unverhältnismäßige israelische Bombardements heute angetan wird. Aber wie kann es sein, dass bei manchen von ihnen keinerlei Betroffenheit gegenüber brutalen Morden und Geiselhaft der Hamas mit so vielen unschuldigen israelischen Opfern zu spüren ist, ja einige sogar Freudentänze darüber aufführen? Wie kommt es, dass Feministinnen die schreckliche sexualisierte Gewalt von Hamas-Kämpfern gegenüber israelischen Frauen abhaken oder gar ganz leugnen?

Umgekehrt stehen Menschen angesichts von weltweitem Antisemitismus und kontinuierlichen Vernichtungsdrohungen nach den retraumatisierenden Hamas-Morden mit guten Gründen an der Seite Israels. Aber wie kann es sein, dass unter ihnen so wenig sichtbares Entsetzen angesichts des unfassbaren Leids zum Ausdruck kommt, das den Menschen in Gaza durch monatelange Bombardements mit mutmaßlich 35 000 Toten – viele davon Kinder – angetan worden ist und das mit legitimer Verteidigung nichts mehr zu tun hat? Von beiden Seiten ist immer wieder das „Ja, aber“ zu hören: Ja, es ist schlimm, aber um der Gerechtigkeit willen leider nicht anders möglich. Es muss Schluss sein mit dem „Ja, aber“! Die Verzweiflungsschreie der Bombenopfer in Gaza klingen genauso durchdringend wie die der Hamas-Opfer in Israel. Das Überwinden der Empathieblockaden, das Wahrnehmen des Leids der anderen, ist sicher noch keine Blaupause für den Weg zu einem gerechten Frieden, aber die Voraussetzung dafür, dass sich überhaupt eine Tür zu diesem Weg öffnen kann.

Dabei gilt es auch, die Vergangenheit einzubeziehen. Glücklicherweise ist es gelungen, in Deutschland eine Erinnerungskultur aufzubauen, die dem unfassbaren Leid der Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie ein Gesicht gegeben hat. Aber unsere Erinnerungskultur muss weiterent­wickelt werden. Der Kolonialismus mit all seinen rassistischen Entmenschlichungsformen ist noch weithin ein blinder Fleck. Die vermehrte selbstkritische Beschäftigung mit den Verbrechen des Kolonialismus darf indessen nie in Konkurrenz zur Erinnerung an den Holocaust geraten. Die Erinnerung an beide ist Ausdruck einer Leidsensibilität, die Kennzeichen einer humanen Gesellschaft ist. Sie ist genau darin radikal, als sie alle Grenzen überwindet. Die Menschen in Israel und Palästina und in aller Welt, die solche radikale Leidsensibilität ausstrahlen, weil sie den Schmerz der anderen sehen und sich nahegehen lassen, sind für mich die große Hoffnung auf dem Weg zu einem gerechten Frieden in Israel und Palästina. 

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