Europa der Regionen?

Befriedet vom Elsass bis zur Krim – ein heißer Abend mit einem Soldaten
Foto: privat

"Die ist immer noch auf Trunkenheitsfahrt, anders lässt sich das nicht erklären!“ Worauf sein Höhnen hinauswollte, war klar, nur hatte ich gerade gar keine Lust drauf. Ich zündete eine Nebelkerze: „Viele Kollegen spekulieren bis heute, wer im Auto damals neben ihr saß.“ Zu flapsen, dass die Polizisten bei der Kontrolle bewaffnet waren, verkniff ich mir. Ich wollte ja nur weg vom Thema, ablenken, entschärfen, Unverfängliches, kriegte die Kuh aber nicht vom Eis.

Er hatte sich drauf eingeschossen. Verstehen konnte ich ihn – und machte dann doch mit. Es war die Woche, als Nawalnys Mutter um die Leiche ihres ermordeten Sohnes bettelte – und unserer Wut und Ohnmacht jedes nur irgendwie damit verbundene Ventil recht. „Elsass-Lothringen“, tobte er, „sag das mal denen, die da leben oder denen sie die Kinder verschleppt haben.“

Er war derart geladen, dass die Ausrufezeichen kaum noch nachkamen. Vielleicht spielte mit hinein, dass er nur wenige Tage später verlegt werden würde, wie das unter Soldaten heißt: Er ging erneut in den Auslandsein­satz, in eine Region mit hoher Gefahrenstufe. Außerdem war ihm Kirche nie gleichgültig. Doch jetzt der Reihe nach: Was war passiert?

EKD-Emerita Margot Käßmann (im Folgenden MK) hatte in der Frankfurter Rundschau mal wieder die „Fixierung aufs Militärische“ angegriffen, jedoch mit frischer Volte garniert. „Russland hätte die Ukraine nicht ausgelöscht“, befand sie, und zur Gegenfrage zum „Einverleiben“: „Wir müssen von dem Denken weg, dass es um nationale Grenzen geht. Elsass-Lothringen wurde lange hin und her geschoben in Europa. Heute ist es eine Region in Europa. In einem Europa der Regionen wäre Nationalität weniger wichtig. Ist es Zehntausende Tote wert, dass die Krim zur Ukraine oder zu Russland gehört?“

Das EKD-Portal evangelisch.de hatte das nicht als Meldung gebracht, obwohl dort sonst fast alles von ihr ein Echo findet. Wohlweislich, dachten historisch Informierte unter kirchlich Interessierten. Dies war offenbar sogar der Redaktion zu arg. Zum zweiten Jahrestag des solcherart zu Krim-Kinkerlitzchen erklärten Krieges stand dann in Frankfurt eine Demo mit ihr als Rednerin an. Die dortige Landeskirche unterstützte diese Demo, meldete evangelisch.de – und verlinkte zur Netzseite der Landeskirche. Auf der war dann auch der Demo-Aufruf zu finden. Er enthielt den Satz: „Der Krieg hat eine Vorgeschichte, in der auch die NATO eine negative Rolle spielt.“

Vorab sagte MK auf evangelisch.de erneut, Menschenleben für Land zu opfern sei falsch – und erwähnte Verdun. So kam Elsass-Lothringen immerhin bloß implizit vor, umso deutlicher indes ihre Kritik daran, das Gewissen von Kriegsdienstverweigerern zu prüfen, das von denen, „die Kriegsdienst leisten“, aber nicht.

Der befreundete Soldat schnaubte: „Meine Kamerad:innen und ich halten den Arsch dafür hin, dass die so einen Quark weiter frei fabulieren kann – pensionsabgefedert und was weiß ich –, und wir sollen auch noch um Vergebung dafür bitten?“. Pure Empörung.

Ich verstand ihn, wollte aber jetzt raus aus dieser Nummer und suchte nach Aufbauendem, fand aber nichts außer dem halbgaren Schwenk aufs Publizistische. Nennen wir es mal etwas unscharf vergleichende Kirchenportalkritik. katholisch.de, von der Bischofskonferenz verantwortetes Domain-Pendant, hatte den Elsass-Lothringen-Lapsus nämlich sehr wohl sofort als Meldung gebracht. Höhnende Hintergedanken anzunehmen wäre unfair: Sie wissen mutmaßlich um MKs EKD-Relevanz, haben die Sprengkraft des Vergleichs bemerkt und daher entschieden, dies sei eine Nachricht.

Das ist journalistisch bloß sauber und zugleich frei vom Abwägen, ob dies vielleicht jemandem auf die Füße träte. Ob das für die Protestanten in diesem Fall ebenso klar ist, muss man zumindest fragen. Von spätem Beziehungsglück bis Enkelfreude, Mahnung zu gründlicher ForuM-Nacharbeit und allem Friedensmäßigen sowieso finden hier nämlich all ihre Äußerungen ein Echo.

Und so auch Reichweitenverstärkung; man gebe auf evangelisch.de nur mal MK als Suchwort ein. Das hat bestimmt auch mit ihrer Beliebtheit über die Kirche hinaus zu tun. Charisma, mediales Etabliertsein und Rücktritts- beziehungsweise Bestseller-Nimbus gehen da Hand in Hand. Ihr Standing in den EKD-Strukturen kommt hinzu, zumal Kirche wenige solcher Gesichter hat. Schielen auf Klicks und Bedienen von Klientel- oder Fraktionsvorlieben trüben den Blick – eine weitere Spielart der heiklen Verantwortungsdiffusion in der EKD wäre es zudem. Fragen muss man das.

Und für meinen Soldatenfreund wurde es Zeit. Wir haben uns zum Abschied fest umarmt. Er ist jetzt dort, wo es brandgefährlich ist. Auf der Treppe hörte ich ihn noch mal „Elsass-Lothringen!“ schnauben. 

 

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