Der Mensch des Friedens

Der Katholikentag in Erfurt war vor allem eines: ein flammendes Plädoyer für die Demokratie
Große Menschengruppe bei einer Veranstaltung des Katholikentages vor dem Erfurter Dom
Foto: Philipp Gessler
Gut 20.000 Menschen kamen zum Katholikentag nach Erfurt.

Natürlich wurde viel gebetet und gesungen beim Katholikentag in Erfurt, der gestern nach fünf Tagen zu Ende ging. Aber auch die harte Politik drängte immer wieder mit Macht in die rund 500 Veranstaltungen, die in der thüringischen Landeshauptstadt zu besuchen waren. Denn die Demokratie ist bedroht in Ostdeutschland, vor allem durch den völkischen Nationalismus der AfD, die im Herbst den Ministerpräsidenten in Erfurt stellen könnte. Und die Kirchen haben hier, gewollt oder nicht, eine sehr große Aufgabe.

Wenn der Generalsekretär des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) seine christliche Sanftmut verliert, muss schon einiges passieren. Aber am Freitagmorgen war das in Erfurt der Fall, genauer: im Theater der thüringischen Landeshauptstadt nicht weit vom Domplatz. Im großen Saal des Musentempels sprach Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bei einer Veranstaltung des Katholikentages gewohnt trocken - um nicht zu sagen langweilig - und verschmitzt über die Weltlage. Da brüllten in den Sitzreihen strategisch verteilte junge Aktivisten der „Lost Generation“ und „Science Rebellion“ rund eine Viertelstunde lang, etwa in Zwei-Minuten-Abstand, Sprüche wie „Herr Scholz, ich bin 17. Ist Ihnen meine Zukunft egal?“

Das störte, wie beabsichtigt, die Podiumsdiskussion massiv. Was auf der Theaterbühne unter dem Titel „Gemeinschaft stärken - Gesellschaft gestalten. Unsere Verantwortung für die Demokratie“ gesagt wurde, war kaum noch zu verstehen. Unmutsäußerungen des Publikums wurden lauter, sobald die Aktivisten ihre eher schlichten rhetorischen Fragen in den Raum riefen. Ein Franziskaner in brauner Ordenskluft versuchte, einen Aktivisten in der Sitzreihe links vor ihm in eine beruhigende Privatdiskussion zu verwickeln. Was aber offensichtlich kaum gelang.

In die Jahre gekommen

Auch die übliche Kirchentags-Strategie für solch knifflige Situationen, „Tot- oder Stillsingen“ durch das fromme Publikum (in dem Fall mit dem Klassiker „Herr, gib uns deinen Frieden“), wollte nicht recht fruchten. Schließlich nahm sich der ZdK-Generalsekretär, in dem Fall eher „General“ als „Sekretär“, der Sache an. Eine „Science Rebellion“-Dame, gekleidet in einem weißen Laborkittel, wollte er zum Abbruch ihrer Aktion bewegen, während Ordner mehr oder weniger sanft an ihr rumzerrten. Man könnte das Gespräch zwischen dem katholischen Funktionär und der Aktivistin vorsichtig als eine intensive Debatte beschreiben.

Gerangel zwischen Ordnern und Demonstranten bei einer Veranstaltung des Katholikentages.

Gerangel zwischen Ordnern und Demonstranten bei einer Veranstaltung des Katholikentages. Foto: Philipp Gessler

Das dürfte er also gewesen sein in diesen fünf Tagen in Erfurt, der intensivste Moment des 103. Katholikentags, der seit nunmehr 175 Jahren, meist alle zwei Jahre, in einer deutschen Stadt stattfindet. Das katholische Laientreffen ist in die Jahre gekommen, ganz klar. Organisiert wird es vom ZdK, dessen Glanz und Macht aber seit Konrad Adenauers Zeiten in Westdeutschland doch stark verblasst ist. Es ist nicht zu bestreiten: Die glorreiche Zeit, da regelmäßig über 100.000 Männer und Frauen katholischen Glaubens in eine größere Stadt Deutschlands strömten (in Düsseldorf waren es 1982 sogar rund 200.000 Menschen), um die Weltlage und Katholisches zu diskutieren, um viel zu beten und noch mehr zu singen – diese Zeit ist endgültig vorbei.

Ein Paradigmenwechsel?

Das kann man beklagen, ist es doch Ausweis einer Konfession, die - trotz immer noch rund 20 Millionen Mitgliedern in der Bundesrepublik- zunehmend an gesellschaftlicher Relevanz verliert. Ähnliches lässt sich sagen über die Brüder und Schwestern evangelischer Konfession hierzulande. Aber die Evangelischen Kirchentage sind traditionell deutlich größer als die Katholikentage. Zum Evangelischen Kirchentag vergangenes Jahr in Nürnberg beispielsweise kamen immerhin noch rund 130.000 Personen. Das ist schon fast eine andere Welt.

Auch deshalb wurde immer wieder in Erfurt mehr oder weniger offen gesagt, zuletzt bei der Abschlusspressekonferenz am Sonntagmittag: Ohne die logistische Hilfe der evangelischen Geschwister wäre der gestern zu Ende gegangene Katholikentag gar nicht zu stemmen gewesen. Die ZdK-Präsidentin Irme Stetter-Karp nannte den Erfurter Christenkonvent sogar wie viele Organisatorinnen und Organisatoren einen „ökumenischen Katholikentag“, ja sie sprach von einer „Revolution“ im Verständnis der großen Katholikentreffen. Warum? Weil der Katholikentag nun sehr eng nicht nur mit evangelischen Christen, sondern auch mit Juden, Muslimen und Atheisten zusammenarbeite. Dies komme einem „Paradigmenwechsel“ gleich.

Programm geschrumpft

Das war vielleicht etwas viel Pathos, zumal die Realität zu mehr Nüchternheit zwingen sollte: Die Tatsache, dass zweimal im Vorfeld des Erfurter Events in katholischen Messen zu Kollekten für den Katholikentag aufgerufen wurde, zeigt, dass das Katholikentreffen bei solch niedrigen Teilnehmerzahlen auch finanziell bald an seine Grenzen stoßen könnte. Nur noch 20.000 verkaufte Dauerkarten und noch einmal 3.000 Tageskarten – da wird es langsam arg knapp. Zudem können die Katholikentage schon seit Jahren überhaupt nur noch finanziert werden, wenn die öffentliche Hand das katholische Großereignis ordentlich subventioniert.

Dabei war das Programm im Vergleich zum letzten Katholikentag in Stuttgart 2022 schon geschrumpft worden: um etwa zwei Drittel auf 500 Veranstaltungen seit Mittwochabend. In die baden-württembergischen Landeshauptstadt waren etwa 27.000 Menschen gekommen, was schon als wenig galt, aber mit den Nachwirkungen der Corona-Pandemie erklärt wurde. Nun waren es also noch weniger Dauer- und Tagesbesucher. Das sollte zu denken geben.

Krasse Diaspora

Etwas zu oft wurde auch von Seiten des ZdK in der thüringischen Landeshauptstadt betont, dass man ja sowieso nur etwa 20.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer eingeplant habe, weil Erfurt mehr Menschen auch nicht unterbringen könne. Dabei ist schon jetzt klar: Entscheidend wird sein, ob der zahlenmäßige Abwärtstrend in einem weniger säkularen Raum Westdeutschlands in Zukunft zu brechen sein wird. Für 2026 lädt Würzburg in Franken zum Katholikentag ein. Sollten auch da die Zahlen so niedrig sein wie in Stuttgart und nun Erfurt, wird die massive Krise der altehrwürdigen Katholikentagsbewegung kaum mehr zu leugnen sein.

Sicherlich, Thüringen, das ist für Katholikinnen und Katholiken schon eine krasse Diaspora. Nur etwa sieben Prozent der Landeskinder sind katholisch – insofern war der Erfurter Katholikentag auch ein Blick in das säkulare Morgen oder Übermorgen, das auch in Westdeutschland eher früher als später zu erwarten ist. Christsein ist in Thüringen alles andere als selbstverständlich. Und neben aller Gastfreundlichkeit, die in den Tagen von Erfurt ganz überwiegend zu erleben war, konnten manche Teilnehmerinnen und Teilnehmer auch von, wenn auch wenigen, bösen Zischeleien wie etwa „Scheiß Christen, haut ab!“ berichten. Willkommen in der Zukunft, könnte man sagen.

Kurze Wege

Interessant war jedenfalls, dass das stark abgespeckte Programm und die geringe Teilnehmerzahl es erlaubte, einen Katholikentag der kurzen Wege mitten in der Stadt zu organisieren (statt, wie sonst üblich seit vielen Jahren, in Messehallen). Alle Veranstaltungen waren wirklich fußläufig zu erreichen und fanden in passenden Räumen wie Kirchen, Gemeindehäusern, Kulturzentren oder Klöstern statt. Allerdings waren viele der Säle dann auch schnell überfüllt oder nur nach langem Warten zu betreten. Das führte zu einigem Frust, nicht zuletzt wegen des vielen Regens an diesen Tagen, der das Warten draußen nicht sehr angenehm machte.

Aber die mittlerweile oft weißhaarigen Kirchen- und Katholikentagsbesucher sind da in der Regel hart gesotten. Auffällig war, dass die jungen Leute doch zu einer immer kleineren Minderheit auf dem Katholikentag werden, was bei Evangelischen Kirchentagen noch nicht so deutlich ist. Es scheint, als altere der Katholikentag mit der Generation der Babyboomer, die ihn einst groß gemacht haben. Katholikentag, das ist absolut nicht mehr der "heiße Scheiß" – oder welcher Ausdruck heute in der Jugendsprache gerade angemessen wäre. Das hat absurder Weise eine unerwartete Folge: Es wurde wieder mehr gesungen, beim Warten, in Sälen, vor Sälen oder in Menschenschlangen – eben so, wie man es als junger Mensch auf Katholikentagen mal gelernt hat. Und die meisten Singenden waren bei den christlichen Songs durchaus textsicher.

Spiritualität im Vordergrund

Es war überhaupt eine ziemlich fromme Veranstaltung. Wo gebetet, meditiert oder gesungen wurde, waren die Säle oder Räume zuverlässig gut gefüllt. Damit setzt sich ein Trend fort, der seit Jahren zu beobachten ist: Sicherlich, man will gern mal den Bundeskanzler, den Wirtschaftsminister oder die Außenministerin live erleben. Aber das scheint nicht mehr der Kern des Ganzen zu sein, die Spiritualität steht nun auf Katholikentagen stark im Vordergrund, und die Organisatorinnen und Organisatoren nehmen mit der Auswahl der Veranstaltungen immer mehr Rücksicht auf diese Sehnsucht des Kirchenvolks.

Diese Entwicklung ist natürlich nicht negativ, denn den Glauben zu feiern und sich gegenseitig in ihm zu bestärken, das müssen zentrale Anliegen des Katholikentages sein. Ernüchternd ist dies nur vielleicht für die, die mehr über den innerkatholischen Reformprozess „Synodaler Weg“, das Thema sexualisierte Gewalt in der Kirche und andere Streitthemen in der Kirche Roms reden wollen. Nicht, dass diese Veranstaltungen leer gewesen wären, aber die brennendsten Themen scheinen sie auf dem Katholikentag in Erfurt nicht gewesen zu sein. Es ist fast so, als sei bei all diesen Themen nach vielen Jahren ziemlich intensiver Beschäftigung mit ihnen eine gewisse Ermüdung eingekehrt. Das kann man bedauern und falsch finden, aber die in Erfurt vertretene Basis scheint so zu ticken.

Das Thema der Stunde

Und wie war das mit dem großen Friedensthema, das immerhin das Leitmotto des Katholikentages war: „Zukunft hat der Mensch des Friedens“? Das schöne Wort aus dem Psalm 37 wurde an den fünf Tagen in Erfurt bei vielen Veranstaltungen immer wieder zitiert, insofern hat es gut funktioniert, ja vielleicht sogar inspiriert. Allerdings schien es so, dass das Friedenswort weniger stark außenpolitisch, denn innergesellschaftlich aufgenommen wurde. Die Kriege in der Ukraine und in Gaza waren natürlich immer wieder Thema. Es gab, fast pflichtschuldig, eine kleine Demonstration am Samstagabend vor dem Veranstaltungsort, wo die Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) auftrat. Die wenigen pazifistisch bewegten Demonstranten trugen ein Transparent, auf dem stand: „Christen sagen Nein zu Waffenlieferungen auch in die Ukraine!“

Anti-AfD-Graffito in Erfurt

Foto: Philipp Gessler

Aber nur wenige Menschen diskutierten mit ihnen. Das war doch alles sehr verhalten. Trotz des Katholikentagsmottos schien der Friede und der Zusammenhalt in der Gesellschaft für die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer das drängendere Thema der Stunde zu sein. Warum? Vermutlich weil Erfurt nun mal in Thüringen liegt, wo der Staat und die Zivilgesellschaft mit einem machtvollen Rechtsextremismus und einer manifesten Demokratiefeindlichkeit zu kämpfen haben. Die AfD hat mit dem Faschisten Björn Höcke als Spitzenkandidaten für die Landtagswahl im Herbst trotz großer Demonstrationen gegen die rechtsextreme Partei und für die Demokratie Anfang des Jahres überall in Deutschland immer noch Chancen, den Ministerpräsidenten in Erfurt zu stellen. Es wäre die erste Machtübernahme von Faschisten in Deutschland seit dem Ende der NS-Zeit vor 79 Jahren.

Menetekel an jeder Wand

Diese Gefahr stand während des Katholikentages in Erfurt wie ein Menetekel an jeder Wand. Zur Orientierung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Katholikentags gab es im Programm einen „Roten Faden Demokratie und Vielfalt“, der Veranstaltungen empfahl, die sich mit der Gefährdung der Demokratie auseinandersetzten. Wer auch nur eine Handvoll dieser ja nicht von oben, sondern vom Kirchenvolk organisierten Veranstaltungen besuchte, den erfasste ein kaltes Grauen bei vielen Erzählungen und Berichten, die dort zu hören waren: Darüber, wie machtvoll die AfD bereits in Thüringen wirken kann, wie sehr rechtsextreme Gewalt Teil des Alltags vor allem in Ostdeutschland geworden ist.

So sagte zum Beispiel der Theologe und Sozialwissenschaftler David Begrich, der Mitarbeiter der Arbeitsstelle Rechtsextremismus bei Miteinander e.V. in Magdeburg ist, am Samstagvormittag in der Alten Oper auf der Podiumsdiskussion „Politischer Extremismus. Gefahr für die Demokratie“: Die anstehenden Landtagswahlen im Osten seien die wichtigsten seit der Friedlichen Revolution 1989: „Es steht alles auf dem Spiel.“ Es gehe „um die demokratische Kultur in Ostdeutschland“. Die Verteidigerinnen und Verteidiger der Demokratie hielten derzeit ihr Gesicht „in den Sturm“, fühlten sich aber oft alleingelassen.

Drei rechtsextreme Gewalttaten täglich

Begrich berichtete von einem ehrenamtlichen Bürgermeister eines kleinen Ortes in einer umkämpften Region, der ihm gesagt habe: Mit kaputt gestochenen Reifen seines Autos komme er zurecht. Aber nicht damit, wenn sein Sohn auf dem Schulweg von rechten Schlägern bedroht werde. Immer wieder waren in Erfurt solch erschütternde Berichte aus dem gefährdeten demokratischen Alltag zu hören. Der Politikwissenschaftler und Rechtsextremismus-Experte Armin Pfahl-Traughber, Professor an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Brühl bei Köln, verwies bei dieser Veranstaltung darauf, dass derzeit in Deutschland jeden Tag drei rechtsextreme Gewalttaten erfasst würden, die aber oft nur sehr klein in den Medien berichtet würden. Übrigens wurden bei dieser Veranstaltung Taschenkontrollen, nicht unüblich in Erfurt, vorgenommen: Die Besucherinnen und Besucher mussten wie am Flughafen alle Trinkflaschen abgeben. Security-Männer vor Katholikentagsveranstaltungen – das wäre vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesen.

So wurde immer wieder und von sehr vielen auf dem Katholikentag vor dem Rechtsextremismus gewarnt, selbst beim Abschlussgottesdienst auf dem Domplatz von Erfurt noch einmal. Die klaren Äußerungen der Deutschen Bischofskonferenz und der EKD zum Völkischen Nationalismus und die Warnung vor der AfD haben zumindest den für die Demokratie Engagierten in Ostdeutschland offenbar ein wenig geholfen: Sie haben sie, so scheint es, bestärkt. 

Schon vor neun Jahren ließ der eigentlich ziemlich sanfte Erfurter Bischof Ulrich Neymeyr aus Protest gegen Kundgebungen der AfD auf dem Domplatz die sonst übliche Abendbeleuchtung des Doms ausschalten. Das Bistum Erfurt erklärt damals, es wolle diesen Veranstaltungen „keine prächtige Kulisse bieten". Für seine Haltung war Neymeyr bei mehreren AfD-Demonstrationen stets auf das Schärfste beschimpft worden. Der Katholikentag in Erfurt hat wieder gezeigt, die Kirchen haben derzeit in Thüringen und darüber hinaus eine immens wichtige Aufgabe: Die Demokratie zu verteidigen. Nicht nur in Sonntagsreden, sondern an jedem kleinen Tag, den der Herr geschenkt hat.

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