„Die Hoffnung nie aufgeben“

Wie eine Orgel von Deutschland nach Jordanien reiste
Orgel
Foto: Carolin und Wolfgang Albers

Kürzlich wurde ein langgehegter Traum wahr: In einer jordanischen Schule in Russeifa bei Amman steht eine Orgel aus dem Schwabenland. Der Journalist Wolfgang Albers war beim ersten Konzert am neuen Ort dabei, beleuchtet die Hintergründe des spektakulären Transfers und erzählt vom besonderen Alltag in der Schneller-Schule.

Man soll die Hoffnung nie verlieren. Im Jahr 1965 allerdings kannte Hermann Schneller nur die Resignation: „Es ist sehr unwahrscheinlich, dass je eine Pfeifenorgel in einer unserer Kirchen stehen wird, was zu bedauern, aber nicht zu ändern ist.“

In Russeifa nahe der jordanischen Hauptstadt Amman hatte er das gesagt. In einer der Schneller-Schulen, die er mit seinem Bruder hier und im Libanon leitete. Schulen, die aus dem Jerusalemer Syrischen Waisenhaus hervorgegangen sind.

Die neu aufgebaute Orgel in der Kirche der Schneller-Schule in Russeifa.
Foto: Carolin und Wolfgang Albers

Deutschunterricht in Russeifa

Das hatte der schwäbische Missionar Johann Schneller im Jahr 1860 gegründet und zum größten diakonischen Komplex im Nahen Osten ausgebaut. Bis im Zweiten Weltkrieg erst die Briten das Gelände beschlagnahmten und später es der Staat Israel übernahm. Die Schneller-Enkel setzten deshalb das Werk ihres Großvaters und ihres Vaters im Libanon und in Jordanien fort und bauten dort Schulen auf.

Johann Schneller und seine Nachfahren waren Orgel-Kenner und Orgel-Enthusiasten. Und so stand bald im Syrischen Waisenhaus die größte Orgel im Vorderen Orient. Als Israel das Gelände übernahm, durften die Schnellers einige Habe abholen. So stehen in der Kirche der Schneller-Schule in Russeifa die originalen Kirchenbänke aus Jerusalem, auch die Glasfenster sind hierhin übertragen worden.

Sogar die Orgel war auf einen Lastwagen verpackt worden, aber was dann in Jordanien ankam, war so lädiert, dass Hermann Schneller, der in der Kirche schon eine Orgelempore hatte einbauen lassen, Abschied nahm von seinem Traum.

Das Eröffnungskonzert spielte Klaus Schulten (unten). Deutschunterricht in Russeifa (oben).
Foto: Carolin und Wolfgang Albers

Das Eröffnungskonzert spielte Klaus Schulten

„Und diesen Traum haben wir jetzt erfüllt“, sagt der jetzige Direktor der Schneller-Schule, Khalid Freij. Er ist gleichzeitig anglikanischer Pfarrer an dieser Schul-Kirche, und kürzlich leitete er mit Hosam Naoum, dem anglikanischen Erzbischof von Jerusalem, eine Abendandacht mit dem ersten festlichen Konzert auf dieser neuen Schulorgel.

Die Orgel, die ja ein nicht mehr ganz so junges Instrument ist: 1968 haben der Orgelbaumeister Helmut Bornefeld und die Echterdinger Orgelbaufirma Weigle (die auch drei Orgeln an das Syrische Waisenhaus lieferte) dieses Instrument gebaut – für die Johanneskirche in Wendlingen. 

Wunsch im Kopf

Diese Kirche musste Wendlingens Pfarrer Paul-Bernhard Elwert, gerade jung im Amt, schließen. Vor dem Abriss wurde die Orgel in Einzelteilen in einer ausrangierten Wendlinger Turnhalle abgelegt. Dass sie jetzt in Jordanien wieder erklingt – da half erst der Zufall. Auf einer Vollversammlung saß Paul-Bernhard Elwert neben Chaled Freij. Sie kamen ins Gespräch: Der eine hatte ein Instrument eingelagert, das niemand haben wollte, der andere hatte noch Hermann Schnellers Wunsch im Kopf . . .

Musiklehrerin Qamar Badwan und der Schulchor.
Foto: Carolin und Wolfgang Albers

Musiklehrerin Qamar Badwan und der Schulchor.

Dass dann tatsächlich die Wendlinger Orgel in Russeifa wieder ertönte – das war einem intensiven Teamwork zu verdanken. Da setzte sich zum Beispiel der Orgel-Experte Klaus Schulten dafür ein, der an vielen Stellen als Kirchenmusiker gewirkt hat und auch Organist in Jerusalem war. Oder auch Uwe Gräbe, der Geschäftsführer des „Evangelischen Vereins für die Schneller-Schulen“ (die Nachfolge-Institution der Familie Schneller und vor allem der finanzielle Garant der Schulen).

Ganz wichtig: die Orgelbauer Gerhard und Alexander Walcker-Mayer. „Kein Abbauschema, wie ich es tun würde“, erkannte Gerhard Walcker-Mayer in der rumpeligen Wendlinger Turnhalle. „Schlimmer als bei Ikea“, seufzte sein Sohn Alexander. Aber dann machten sie sich unverdrossen ans Werk. Auch in Russeifa hatten die beiden etliche Schwierigkeiten zu überwinden – den Container, der übers Wasser nach Akaba verschifft worden war, ließ der Zoll erst mal Wochen in der prallen Sonne stehen. Aber die beiden Männer, übrigens auch aus einem traditionsreichen Orgelbau-Unternehmen, bauten das Instrument, das haargenau unters Dach des Kirchenschiffes in Russeifa passte, wieder auf – so perfekt, dass Klaus Schulten schwärmte: „Sie steht da wie neu. Es wäre unverantwortbar gewesen, sie zu vernichten.“

Der Komplex der Schneller- Schule in Russeifa nahe der jordanischen Hauptstadt Amman.
Foto: Carolin und Wolfgang Albers

Der Komplex der Schneller-Schule in Russeifa nahe der jordanischen Hauptstadt Amman.

Die Orgel, schwäbisch-bescheiden in Holz verkleidet und nicht mit einem metallenen Prospekt prunkend, ist jetzt eine Attraktion – das erste Paar hat sich schon zur Trauung angemeldet, eben wegen der Orgel. Das ist schön – aber darum geht es gar nicht mal in erster Linie. Denn die Orgel, die als Instrument ja landläufig für Pracht und Glanz steht, kommt an eine bescheidenere Adresse. Das weitläufige Areal der Schule ist eingezwängt von einem Palästinenserviertel, das einst ein Flüchtlingslager war, und von dichtgedrängten Straßenzügen, die erkennbar nicht zu den gutsituierten Vierteln der Region Amman gehören. Und damit ist die Schule am richtigen Standort. Denn sie strebt nicht wie andere Privatschulen die ausschließlich zahlungskräftige Klientel an, sondern orientiert sich immer noch am Konzept Waisenhaus. Auch wenn Waise nicht unbedingt elternlos bedeutet – aber Familienverhältnisse, die geprägt sind von Gewalt und Vernachlässigung bis zum schieren Hunger. Eben den siamesischen Zwillingen sozialer Randexistenzen. Dem setzt die Schule, vor allem durch ihr Internat, ihr Konzept entgegen, besonders bei Kindern, die traumatisiert aus schwierigen Verhältnissen kommen: „Verändere die Umgebung eines Kindes, und du veränderst das Kind“, sagt Samer Batarseh, der Internatsleiter. Die Kinder kommen hier in eine „Familie“, so werden die Wohngruppen genannt. Sie erleben eine klare Struktur – verlässlich schon darin, dass niemand bangen muss, ohne Essen über den Tag zu kommen. Verlässlich auch darin, dass nie die Hand gegen ein Kind gehoben wird.

In der Schulbäckerei entstehen Leckereien für den Abend der Orgeleinweihung.
Foto: Carolin und Wolfgang Albers

In der Schulbäckerei entstehen Leckereien für den Abend der Orgeleinweihung.

Und so beruhigen sich auch die Kinder, die manchmal hochaggressiv in die Schule eintreten – und mit der Zeit Vertrauen fassen, den Kopf frei bekommen für die Schulbildung, im Umgang miteinander respektvoll sind. Zum Beispiel auch interreligiös: Im Fastenmonat Ramadan essen auch die christlichen Schüler erst nach Sonnenuntergang. „In einem solchen Umfeld können sich die Kinder bestmöglich entwickeln“, sagt Samer Batarseh. Das soll auch auf die Eltern oder die Verwandten wirken. Die Kinder gehen jedes Wochenende in ihre Familie. Bewusst gehört das zum Konzept: Das Internat will sie nicht von ihrer Gemeinschaft entfremden. Und die Schulverantwortlichen halten da auch den Kontakt, von offiziellen Stellen wie etwa der Polizeistation bis zu den Eltern.

Samer Batarseh telefoniert wöchentlich mit ihnen, macht ihnen klar, wie sie mit ihren Kindern umgehen sollen. Und sieht Fortschritte: „Sie reden viel ruhiger mit ihnen, sind höflicher und respektvoller.“ Die Schneller-Schule bietet den rund 450 Kindern und Jugendlichen viele Chancen. Vom Kindergarten an – oft mit Gruppen, die viele Nationen umfassen, vor allem, seit die Kriege der Region zu den Palästinensern weitere Menschen ins Land getrieben haben, aus dem Irak etwa oder aus Syrien.

Dann ist da die eigentliche Schule. Manchmal sieht man 28 Kinder statt der eigentlich vorgesehenen 20 in einem Raum – aber die Schule hat so viele Bewerbungen zum Beispiel aus dem Palästinenserviertel, in das von allen Privatschulen nur die gelben Schulbusse der Schneller-Schule fahren, dass die Schulleitung auch mal etwas vollere Klassen in Kauf nimmt.

Eine Fülle von Speisen

Und die Schneller-Schule bildet auch in etlichen Berufen aus, von der Autowerkstatt bis zur Schreinerei. Dort schließen zum Beispiel gerade zwei Schwestern ihre Lehre ab. Beide haben schon eine Ausbildung, in klassischen Frauenberufen, als Krankenschwester und in der Gastronomie. Aber sie möchten sich als Schreinerinnen selbstständig machen. Das wird in dem männerorientierten Geschäftsfeld nicht einfach, das wissen sie – aber sie schauen mit sehr viel Optimismus dieser Zukunft entgegen. Und haben sich in diesem familienorientierten Land wichtige Unterstützung gesichert: Ihre Mutter hat gesagt, dass sie dieses Projekt gut findet. Ihr Gesellenstück, eine Massivholzbank, die auch einen Schaukelmodus hat, haben sie in einer Woche gefertigt – ein tolles Schau-Objekt.

Sie bauten die Orgel in Deutschland ab und in Jordanien auf: Gerhard und Alexander Walcker-Mayer aus dem saarländischen Kleinbittersdorf.
Foto: Carolin und Wolfgang Albers

Sie bauten die Orgel in Deutschland ab und in Jordanien auf: Gerhard und Alexander Walcker-Mayer aus dem saarländischen Kleinbittersdorf.

Schnell fällt auf, was für ein Niveau erreicht wird. Nach dem Orgelkonzert hatte die Schule noch ein Festzelt mit einem Büffet gefüllt – und alles hatten die Mädchen in der Bäckerei vorbereitet. Eine Fülle an Speisen, von einer Qualität, die man sich bei mancher Bäckerei in Deutschland wünscht.

In der Schneller-Schule setzen die Verantwortlichen auch sehr auf Musik. Es war auf dem Höhepunkt des IS-Terrors, dass die Schule ihren Musiksaal einrichtete, der voller Keyboard-Reihen ist. „Hier muss Friedensarbeit geleistet werden“, sagten die Verantwortlichen.

„Musik ist ein besonders wunderbares Werkzeug für den Frieden“, schreibt George Haddad, Schulleiter der libanesischen Schneller-Schule. „Wenn es eine Sprache des Friedens gibt, dann ist das Musik“, sekundiert Klaus Schulten, der Organist des ersten Kirchen-Konzerts war, das unter dem Motto „Musik für den Frieden“ stand. Das sind ja keine gefälligen Worte für nette Augenblicke. Wer momentan durch Jordanien reist, merkt, wie genau die Menschen das Sterben und die Verheerungen rings um ihr Land wahrnehmen – und wie intensiv sie hoffen, nicht in diese Vernichtung hineingerissen zu werden. Zumal die Lage im Land mit seiner palästinensischen Bevölkerungs-Mehrheit immer fragiler wird – die Demonstrationen vor der israelischen Botschaft in Amman, die einen Konfrontationskurs fordern, sind nur ein Zeichen dafür. 

Gegenseitiger Respekt

Die Schule mit ihren gemischtreligiösen Kindern und Jugendlichen (70 Prozent sind Muslime) arbeitet sehr gezielt an gegenseitigem Respekt – gerade in der Ära nach dem 7. Oktober. „Wir waren sehr bedrückt und deprimiert“, erzählt eine Englischlehrerin der Schule. „Wir haben viel geredet, gerade weil es so nah ist. Es geht nicht um Völker und Religionen – es geht darum, dass wir uns alle nach Frieden und Freiheit sehnen.“

Aber der Weg dorthin ist steiniger geworden. Andreas Stechbart, Prädikant der deutschsprachigen evangelischen Gemeinde von Amman, spürt, wie Einladungen ausbleiben, wie Zustimmung zur palästinensischen Sache erwartet wird: „Die Leute hier fühlen sich total hilflos.“ Seit dem 7. Oktober gelte: „Die rosigen Zeiten sind vorbei.“

Deshalb ist auch Khalid Freij ratlos, wenn es darum geht, wie die Orgel ins Schulleben eingebunden wird: „Das sollte so sein, aber ich weiß nicht, wie.“ Klar, die christlichen Schüler erleben sie bei ihren Schulgottesdiensten.

Aber es war schon bezeichnend, dass die Musiklehrerin Qamar Badwan, eine hochgelobte Person, die mit vielen Projekten die Schülerinnen und Schüler zum Musizieren und Schauspielern motiviert, nach dem Orgelkonzert mit ihrem Chor im Schulsaal auftrat. Dass Muslime die Kirche betreten, ist eine rote Linie, und Khalid Freij beachtet sie gewissenhaft: Die muslimischen Nachbarn sollen nicht den Verdacht bekommen, ihre Kinder würden dem Islam entfremdet.

In diesem Sinne ist die Orgel momentan ein Zukunftsprojekt. Wie auch sie zum Symbol der Gemeinschaft werden kann, muss sich erst noch erweisen. Aber wie man jetzt aus der Historie der Schneller-Orgeln, die so ausweglos beendet schien, weiß: Man soll die Hoffnung nie aufgeben.

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Foto: privat

Carolin Albers

Carolin Alberst hat Fotografie an der Hochschule Hannover studiert und ist Foto-Redakteurin am Schwäbischen Tagblatt.


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