Überschießende Hoffnung

Sonntagspredigt
Foto: privat

Die Predigthilfe dieses Monats kommt von Traugott Schächtele. Er ist Prälat i.R. in Freiburg/Breisgau.

Gemischte Gefühle

3. Sonntag nach Trinitatis, 16. Juni

Er … sprach zu seinem Vater: Siehe, so viele Jahre diene ich dir und habe dein Gebot nie übertreten, und du hast mir nie einen Bock gegeben, dass ich mit meinen Freunden fröhlich wäre. Nun aber, da dieser dein Sohn gekommen ist, der dein Hab und Gut mit Huren verprasst hat, hast du ihm das gemästete Kalb geschlachtet. (Lukas 15,29–30)

Da fühlt sich einer zu kurz gekommen. Und ich kann ihn gut verstehen. Mit überschwänglichen Worten wird meist beschrieben, wie gütig sich der Vater zeigt. Dabei wird der Taugenichts gegen alles menschliche Gerechtigkeitsdenken wieder aufgenommen und ins Recht gesetzt.

So gnädig möge Gott doch auch mit mir umgehen. Aber wenn er es dem einen oder der anderen überraschenderweise mehr gelingen lässt als mir, finde ich mich leicht in der Rolle des zu Hause gebliebenen Bruders wieder. Dann bin ich mit einem Mal nicht mehr der reich Beschenkte, sondern der Übergangene, zu kurz Gekommene. Habe ich es Gott nicht immer recht gemacht oder zumindest recht machen wollen? Habe ich nicht anderes, mir eigentlich näher Liegendes zurückgestellt? Und meine freie Zeit drangegeben? Sicher ist es mir nicht wirklich schlecht ergangen. Aber wenn ich sehe, dass Gott anderen einfach etwas in die Wiege legt, das mich an den Rand meiner Kräfte bringt, möchte ich ein zorniges „Genug jetzt!“ rufen.

Der Bruder, der im Gleichnis zu Hause blieb und sich um Hab und Gut kümmerte, hielt den Betrieb am Laufen und übte dafür Verzicht. Aber der Dank dafür war kümmerlich. Mit dem Willkommensfest für den Jüngeren war der Neid des Älteren also vorprogrammiert. Keine Frage, der Vater provoziert bis an die Grenzen des Erträglichen.

Die Abbilder dieses Urkonfliktes spiegeln sich längst auch in unserer Gesellschaft. Bürgergeld, soziale Grundsicherung für die, die nichts mitfinanziert haben und jetzt – so der Vorwurf – genauso abgesichert dastehen wie die, die lebenslang eingezahlt haben. Und schon besteht die Gefahr, dass der Zorn des älteren Bruders irgendwie verständlich wird. Aber Jesus kennt auch die Gefühle derer, die das Gefühl haben, dass sie zu kurz gekommen sind. Und gerade deswegen provoziert er mit diesem Gleichnis wie mit kaum einem anderen. So gütig ist Gott und – so gerecht ist er. Ja, provokant, auch gegenüber all meinen Gefühlen.

Dabei bin ich sicher: Gott hat auch den älteren Bruder im Blick, ohne den es Haus und Hof längst nicht mehr gäbe. Dieser Sonntag wäre doch eine ausgezeichnete Gelegenheit, ein Fest der zu Hause Gebliebenen zu feiern. Bei denen könnte es Kräfte freisetzen für weitere Willkommensfeste. Damit die, die wirklich zu kurz kommen, Sicherheit, Auskommen und Heimat finden und sich als Teil der einen weltweiten Familie Gottes erleben können.

Lohnendes Wagnis

4. Sonntag nach Trinitatis, 23. Juni

Wo ist jemand, der seinen Feind findet und lässt ihn im Guten seinen Weg gehen?
(1. Samuel 24,20)

Mit der Bergpredigt kann man keine Politik machen!“ Otto von Bismarck soll das gesagt haben. Auch Helmut Schmidt. Und zuletzt Wolfgang Schäuble. Denn was die Bergpredigt zum Umgang mit unseren Feinden vorschlägt, passt so gar nicht in das Bündel der Konzepte und Regeln, an denen wir in diesen herausfordernden Zeiten unsere Politik ausrichten.

Schon ziemlich weit vorne in der Bibel, lange vor der Bergpredigt, findet sich die Geschichte der beiden Rivalen Saul und David. Politisch betrachtet, ist es ein Machtspiel. Zwei Rivalen kämpfen um den Thron. Der Stern des einen ist im Sinken, der des anderen steigt nach oben. Interessant, wie David alles noch einmal unter einem anderen Horizont betrachtet. Er sieht Gott am Werk. Darum muss er Saul nicht aus dem Weg räumen, um ans Ziel zu gelangen. Solange dieser der Gesalbte Gottes ist – also der, den Gott auf den Thron gesetzt hat –, wäre ein Machtkampf die Kampfansage an Gott. Und diesem Risiko, diesem Frevel, geht David aus dem Weg. Also lässt er Saul ungeschoren davonkommen.

Ich finde die Geschichte so ergreifend, dass ich jedes Mal von Neuem eine Gänsehaut bekomme, wenn ich sie lese. Wie noch öfter in seinem Leben fällt David das Glück in den Schoß. Auch schon hier, in der Begegnung der beiden in der Höhle bei En-Gedi. Saul nutzt sie für seine menschlichen Bedürfnisse und ahnt nicht, dass er dabei Kopf und Kragen riskiert. Doch David lässt die tödliche Falle nicht zuschnappen, sondern begnügt sich damit, einen Zipfel des Gewandes abzuschneiden, das Saul abgelegt hat. Den präsentiert David Saul danach als sichtbares Zeichen seines Verhaltens und seiner Verweigerung gegenüber den Regeln politischer und militärischer Macht. Machtverzicht als Ausdruck einer an Gott ausgerichteten Lebenspraxis. Immer wenn Gott im Spiel ist, werden die Regeln der Macht in Frage gestellt und sogar umgekrempelt. Im säkularen Staat mit seiner klaren Unterscheidung von Gemeinwesen und Religion kann man mit Davids Beispiel und der Bergpredigt nicht einfach im Sinne einer direkten Eins-zu-eins-Umsetzung Politik machen. Aber David hatte den Mut, auch dem ärgsten Feind einmal überraschend anders zu begegnen, um ihm so den Wind aus den Segeln zu nehmen. Und das Wagnis hat sich für ihn am Ende gelohnt.

Nein, ein politisches Konzept für unsere Zeit ist das nicht. Aber zu einer Haltung des Glaubens daran, dass Gott im Spiel bleibt, selbst gegen allen Augenschein, könnte Davids Beispiel führen. Der Gottesglaube macht einen Überschuss an Hoffnung möglich, der über alle politischen Konzepte weit hinausgeht. Und als Kirche sind wir aufgerufen und berufen, Orte solch überschießender Hoffnung zu sein.

Quelle der Freiheit

5. Sonntag nach Trinitatis, 30. Juni

Damit ich mich wegen der hohen Offenbarungen nicht überhebe, ist mir gegeben ein Pfahl ins Fleisch, nämlich des Satans Engel, der mich mit Fäusten schlagen soll, damit ich mich nicht überhebe. Seinetwegen habe ich dreimal zum Herrn gefleht, dass er von mir weiche. Und er hat zu mir gesagt: Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit. Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, auf dass die Kraft Christi bei mir wohne. Darum bin ich guten Mutes in Schwachheit, in Misshandlungen, in Nöten, in Verfolgungen und Ängsten um Christi willen; denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark. (2. Korinther 12,7–10)

Jetzt nimmst Du den Mund zu voll, lieber Bruder Paulus. In Verfolgung, bei Misshandlungen guten Mutes sein, ist doch zu viel des Sich-selber-Rühmens. Und irgendwie nimmt es die Verletzung menschlicher Integrität durch Gewalterfahrungen nicht ernst. Ich denke nur an die Opfer sexualisierter Gewalt, wenn sie anderen von ihren Erfahrungen berichten wollten. Viel zu viele erzählen, wie sie nicht ernst genommen wurden. Ob ihnen da Paulus’ Worte wirklich weitergeholfen hätten? Oder hätten sie diese nicht vielmehr als blanken Zynismus empfunden?

Auch wenn Paulus nicht darauf angewiesen wäre – ich will ihn dennoch erst einmal in Schutz nehmen. Der Apostel schreibt, als sei er eigentlich schon auf der anderen Seite, als habe er die Niederungen dieses Lebens schon hinter sich gelassen. Er berichtet von Entrückungen und Visionen, die ihm schon einmal Einblick in die Welt Gottes gewährt haben. Sein Ausgangspunkt ist schon jenseitig, transzendent. Ja, eigentlich wäre er innerlich schon abgehoben, würde ihn nicht eine schmerzhafte chronische Krankheit daran erinnern, dass er sich nach wie vor unter den Sterblichen befindet.

Paulus muss, entgegen seiner oft vernunftgeprägten theologischen Argumentation, zugleich ein sehr spiritueller Mensch gewesen sein, offen für Erfahrungen der Gegenwart und Wirksamkeit Gottes jenseits dessen, was der menschliche Geist erklären und einordnen kann. Die von Paulus beschriebene Haltung inmitten dessen, was ihm an Schmerz und Machtmissbrauch zugefügt werden, entspringt darum keinem Nicht-ernst-Nehmen. Es ist vielmehr die vorweggenommene Proklamation einer Freiheit, die in Christus gründet und der die irdischen Machthaber am Ende nichts entgegensetzen können.

Sie rechtfertigt aber nicht den Machtmissbrauch der Herrschenden. Vielmehr setzt sie zugleich ein Ausrufezeichen hinter die Tatsache, dass es eine Linie der Opfer gibt, die über Jesus Christus, Paulus und die unzähligen Märtyrer des Glaubens bis in die Gegenwart reicht. Sie gehören zur großen Zahl der Zeuginnen und Zeugen, die sich nicht aus dem Spiel des Lebens nehmen lassen, weil Gottes Kraft gerade auf die Schwachen setzt. Weil sie niemand auf der Rechnung hat, führt die Linie der Erfahrung der Teilhabe an der großen Wirkkraft Gottes geradewegs zu ihnen. Und am Ende haben die Täter das Nachsehen.

Mutiger Dreischritt

6. Sonntag nach Trinitatis, 7. Juli

Da sprach der Kämmerer: Siehe, da ist Wasser; was hindert’s, dass ich mich taufen lasse? Und er ließ den Wagen halten und beide stiegen in das Wasser hinab, Philippus und der Kämmerer, und er taufte ihn. (Apostelgeschichte 8,36+38)

Schon die Ortsangabe führt mitten in die brennende Aktualität. Die Straße von Jerusalem nach Gaza: Die Bilder im Kopf sind so eindrücklich, dass ich der Begegnung des Philippus mit dem Finanzminister, dem Kämmerer der nubischen Königin, erst einmal Raum verschaffen muss. Dass das gelingt, weitet den Horizont. Es ist ein Dreischritt, der dem Leben des nordafrikanischen Touristen auf geistlichen Spuren am Ende eine neue Richtung gibt. Er liest. Er lässt sich erklären. Er drängt zum Handeln. Der Finanzfachmann ist ein Grenzüberschreiter. Er hat keine Angst, sich mit Ideen und Vorstellungen zu beschäftigen, die nicht seiner Tradition entstammen. Womöglich könnte man sein Interesse ein interreligiöses nennen. Immerhin fährt er, um zu beten, nach Jerusalem. Aber der Kämmerer erkennt auch seine Grenzen. Tiefe Verwurzelung im Vertrauten und Offenheit und Lernbereitschaft für Neues sind nicht einfach gegeneinander auszuspielen. Was im Leben hilft, ist vielmehr ein kundiger Wegbegleiter. Ein Mensch, der zuhört und Verstehens-Angebote macht. Keiner, der alles besser weiß und drängt, wo Sensibilität und Zurückhaltung angebracht sind. Der Kämmerer aus fernem Lande muss selber entscheiden, zu welchen Schritten er bereit ist. Nicht ein theologisches Examen steht am Ende der kleinen Unterweisung durch Philippus. Stattdessen eine im Grunde simple Frage: „Was hindert’s, dass ich mich taufen lasse?“ Als Neugetaufter zieht er dann fröhlich weiter. Eine komplizierte Situation verstehen wollen, sich informieren und dann zum Mut finden, einfach das Richtige zu tun. Ob das weiterhilft – zwischen Jerusalem und Gaza und überall da, wo Menschen nach rechten Schritten suchen und diese anmahnen? 

 

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