Jenseits der Unschuld
Der US-amerikanische Regisseur Sidney Lumet war ein Kind des jiddischen Theaters. Das passt, denn er hatte ein kreatives Verhältnis zur Religion: Seine Beziehung zu ihr wurde umso ernster, je mehr sie Anfeindungen und Missbrauch ausgesetzt war. Eine Würdigung des großen Filmemachers anlässlich seines diesjährigen 100. Geburtstags durch den Journalisten und Theologen Roland Mörchen.
Sidney Lumet sah sich selbst als intellektuellen New Yorker Juden ohne Gott. Er sei Jude im kulturellen, nicht im religiösen Sinn, sagte er 1992 dem Filmkritiker Kenneth Turan von der Los Angeles Times. „Doch sobald ich Antisemitismus wittere, werde ich mehr zum Juden als je zuvor.“ Künstler können privat der Religion den Rücken kehren, davonlaufen können sie ihr nicht. Das menschliche Transzendenzbedürfnis ist schwer zu stillen, zu oft ist es Thema in Literatur und Film, sei es auch nur als gesellschaftliches Zerrbild, als numinoses Relikt, als pervertiertes Ritual oder als Ersatzreligion. Lumet, vor hundert Jahren am 25. Juni 1924 in Philadelphia im Bundesstaat Pennsylvania geboren, lebte von 1926 bis zu seinem Tod 2011 in New York. Er war ein Kind des jiddischen Theaters und stand schon als Vierjähriger neben seinem prominenten Vater Baruch auf der Bühne. Mit 15 mimte Sidney den zwölfjährigen Jesus in Maxwell Andersons biblischer Polit-Parabel „Reise nach Jerusalem“.
Als Lumet 1957 zur Leinwand wechselte, hatte er bereits ungezählte Episoden für das amerikanische Live-Fernsehen in Szene gesetzt. Später sollte er in „Network“ (1976) mit dem quotengeilen, zum neuzeitlichen Götzen mutierten Fernsehen abrechnen. Lumet und sein Autor Paddy Chayefsky erzählen darin vom Nachrichtensprecher Howard Beale, der vor laufender Kamera ungeschminkte Wahrheiten ausspricht, sich wie ein Erweckungsprediger gibt und im Auftrag seiner Programmchefin von einer „ökumenischen Befreiungsarmee“ ausgeschaltet wird.
Regelmäßig solidarisierte sich der Regisseur mit den Anliegen seiner Drehbuchschreiber. Besonders kam es ihm entgegen, wenn seine Herkunft hineinspielte. So war es beispielsweise in der Komödie „Bye, Bye Braverman“ (1968), in der vier jüdische Intellektuelle auf dem Weg zur Trauerfeier eines Freundes die Orientierung verlieren, oder beim Pessach-Fest in der Gaunergeschichte „Family Business“ (1989), auch bei den wegen Spionageverdachts hingerichteten jüdischen Kommunisten in „Daniel“ (1983) und nicht zuletzt im Krimi „A Stranger Among Us“ („Sanfte Augen lügen nicht“, 1992), wofür Lumet seine Talmud- und Kabbala-Kenntnisse auffrischte.
Die junge Polizistin Emily, weder beruflich noch privat auf der Sonnenseite des Lebens, ermittelt wegen Mordes in einer chassidischen Gemeinde. Sie verliebt sich unglücklich in den Rabbinersohn und erliegt dem seltsamen Zauber dieser fremden, gottesfürchtigen Welt, die zugleich eine Gegengesellschaft zum verkommenen Großstadtgetriebe darstellt. Lumet wollte mit diesem Film Kenntnisse vermitteln und Verständnis wecken, weswegen er tief, aber mit einem Hang zur Verklärung in die jüdisch-orthodoxe Lebensart und ihre strengen Regeln eintauchte, die auf außenstehende Zuschauer so fremd wie auf Emily wirken müssen. Der doppeldeutige Arbeitstitel „Close to Eden“ – Eden ist sowohl der Paradiesgarten als auch Emilys Nachname – machte Platz für „A Stranger Among Us“, was den Einbruch des Fremden in die Gemeinschaft herausstellte.
Ein beseeltes System
Bleibt der Glaube dort ein beseeltes, aber hermetisches System, sprengt eine der Frauen in „Die Clique“ (1966) die kirchlichen Mauern und findet Gott überall. Obwohl säkularisierter Zeitgenosse, war Lumet nie ein Spötter, auch wenn sich in der Krankenhaus-Groteske „Critical Care“ (1997) Höllenboten und Engelwesen die Klinke in die Hand geben. Wie es um den alten Adam steht, hatte er in „Angriffsziel Moskau“ (1964) sogar mit bitterem Ernst durchexerziert. Die tödliche Falle, in die sich die Welt getrieben hat, ist in keinem anderen Lumet-Film so entsetzlich ausgefallen. Wenn der Mensch das Schlimmste verhüten will, weil er längst unerträgliches Leid verursacht hat, verbrennt er noch einmal so viel zu Asche. Um die Welt vor einem Atomkrieg zu bewahren, hat der amerikanische Präsident nur die Wahl zwischen Pest und Cholera: Als Preis für das irrtümlich zerbombte Moskau lässt er die Metropole New York in Schutt und Asche legen.
Lumet wusste, dass menschliche Gerechtigkeit auf tönernen Füßen steht. Wahre Gerechtigkeit ist göttlich, ließ er sinngemäß in „Blick von der Brücke“ (1961) ausrichten. Das stellt in „The Verdict“ (1982) auch das kleine Wunder eindringlich klar, das keine Berge zum Einsturz bringt und dennoch große Wirkung erzielt. Der Gerichtsfilm handelt von dem heruntergekommenen Anwalt Frank Galvin, der sich moralisch wieder aufrichtet. „Manchmal stehen wir auf“, dichtete Marie Luise Kaschnitz. „Stehen wir zur Auferstehung auf / Mitten am Tage / Mit unserem lebendigen Haar / Mit unserer atmenden Haut.“
Lumet und sein Autor David Mamet zeigen eine solche Auferstehung mitten am Tag, als der Anwalt für die Rechte einer im Koma liegenden Frau streitet. Die katholische Erzdiözese, in deren Krankenhaus die Patientin ohne Hoffnung auf Genesung liegt, versucht alles, um einen Behandlungsfehler zu vertuschen. Galvin ist David im Angesicht eines Goliaths. An erster Stelle steht für ihn einmal nicht die Höhe der Entschädigung, sondern der Wille, sich wieder selbst im Spiegel anschauen zu können, indem er einer Hilflosen beisteht. Galvin, der auf verlorenem Posten für Gerechtigkeit streitet, formuliert sein Schlussplädoyer wie ein Gebet und gewinnt überraschend den Prozess. Was sich dramaturgisch als Deus ex Machina zuspielt, offenbart sich narrativ wahrhaftig als göttlicher Beistand. „Handle so, als hättest du Glauben, und der Glaube wird dir gegeben werden“, hatte Galvin den Geschworenen gesagt. Lumet relativiert seinen Unglauben angesichts der Frömmigkeit des Autors Mamet.
Lumets Protagonisten befinden sich gern auf Holzwegen, wo es die Religion als erlösende und heilende Kraft nicht leicht hat. Die Sünderexistenzen überwiegen, jene sperrigen und nicht unbedingt sympathischen Gestalten, die zwar wie Georg gegen den Drachen das Schwert ziehen, aber sich an ihren menschlichen Schwächen abrackern. „Jenseits der Unschuld“, im Original „Guilty as Sin“, heißt geradezu symptomatisch ein Lumet-Film von 1993.
Dellen in der Rüstung
In der gesellschaftlichen Lasterhöhle ist es beinahe unmöglich, den Kopf oben und die weiße Weste sauber zu halten. Untadelige Ritter der Gerechtigkeit wie Henry Fonda in Lumets Kino-Debüt „Die zwölf Geschworenen“ (1957) laufen eher am Rande mit. Cops à la Serpico im gleichnamigen Film von 1973 und Daniel Ciello in „Prince of the City“ (1981) haben schon Dellen in der Rüstung, lange bevor sie sich unbeirrt oder nur widerstrebend gegen Korruption stark machen.
Lumet filmte nicht gegen Tod und Teufel, sah sich nicht auf einem Kreuzzug für eine bessere Welt. Weit davon entfernt, ein Besserwisser zu sein, trat er als Augenzeuge auf, der schlicht etwas zur Anatomie des täglichen Lebens aussagt. Für politische Korrektheit interessierte sich Lumet nicht. Vorurteile, Rassismus, Bestechlichkeit, Verbrechen aller Art machen vor keiner Hautfarbe und vor keiner Nation Halt. Sogar wenn Lumet ätzende Typen zeigte – den herzlosen, desillusionierten Sol Nazerman in „Der Pfandleiher“ (1964), den gefährlich frustrierten Ermittler Johnson in „Sein Leben in meiner Gewalt“ (1973) oder den misanthropischen, kriminellen Cop Mike Brennan in „Tödliche Fragen“ (1990) –, verlor er nie die Empathie. Man verfolgt nicht zwei Stunden lang das Schicksal von dreckigen Helden, wenn man das verlorene Menschenkind in ihnen nicht aufspüren will.
Lumets Filme drehen sich um Verrat und Loyalität, Sünde und Schuld, Gewalt und Widerstand. Nazerman, dessen Familie den Nazis zum Opfer fiel, ist ein zeitgemäßer Hiob, der Gott aus seinem Leben gestrichen hat, die Menschen verachtet und seinen Schmerz konserviert. Doch Hass auf jeden und alles, getarnt als Gleichgültigkeit und Unberührbarkeit, war noch nie ein guter Lebensberater. Bevor Nazerman das erkennt, muss er einen Toten mehr beklagen.
Lumet verfilmte einige religiös grundierte Theaterstücke wie „Der Mann in der Schlangenhaut“ (1959) nach Tennessee Williams, ein wegen mystisch-christlicher Erlösungssymbolik etwas überspanntes Stück in freier Anlehnung an die Orpheus-Sage. Als Gitarre spielender Val Xavier ist Marlon Brando, nur knapp drei Monate früher als Lumet geboren, eine Art Katalysator für die Lebensprobleme anderer, bis hin zum unfreiwilligen (Opfer-)Tod. Nicht immer war Lumet überzeugt, den verfilmten Stücken gerecht geworden zu sein. „Child‘s Play“ (1972), ein in deutschen Kinos nicht gezeigtes Lehrer-Schüler-Drama an einer katholischen Jungenschule, mag vielleicht im Vergleich zu Robert Marascos Vorlage abfallen. Anders jedoch bei Peter Shaffers „Equus“ (1977).
Wer zufällig an diesen Film gerät, kann sich von ihm leicht überfordert und abgestoßen fühlen oder aber ihn als Psycho-Schmonzes ad acta legen. „Equus“ ist ein religionspathologischer Parforceritt, auf den man sich bewusst einlassen muss. „Ritt“ ist dabei das richtige Wort, denn es geht, wie der lateinische Titel schon verrät, um Pferde.
Die Wurzeln für den Pferdespleen des streng religiös erzogenen Alan Strang liegen in der Kindheit. Am Strand kam ihm die Einheit aus Ross und Reiter wie eine Erscheinung vor. Die Entdeckung des Pferdegottes „Equus“ und der ungezügelte Rausch auf nächtlichen Ausritten verschaffen viele Jahre später dem splitternackten Alan sowohl spätpubertäre Erregung als auch Glücksgefühle. Zugleich schwingt eine sadomasochistische Faszination für den Schmerz des Tieres mit, das Kandare und Knute so still erduldet wie Christus sein Leiden. In Ekstase und Selbstgeißelung empfindet der 17-jährige Alan alles mit. Passion ist ihm Leiden und Leidenschaft. Dionysische Lust und Karfreitagsstimmung fallen in eins.
Als Alan aber im Pferdestall beim Beischlaf mit der etwa gleichaltrigen Jill versagt, kommt es zur Katastrophe. Indem er den Pferden brutal die Augen aussticht, rebelliert er in einer krankhaften Mischung aus Schuldbewusstsein und Bestrafung gegen Equus, der als „eifersüchtiger Gott“ alles sieht.
Lumet inszeniert so sinnlich wie naturalistisch, ganz nah an Personen und Ereignissen. Weder der Bibelglaube von Alans frömmelnder Mutter noch die Psychoanalyse, diese Pseudoreligion der allwissenden Moderne, kommen allzu gut weg. Alans Psychiater Martin Dysart leidet selbst unter saftigen Problemen, so dass man sich fragt, wer hier wen therapiert.
Rauschhaftes Erleben
Dysart ist emotional ausgetrocknet, ein sinnlicher Totalausfall, dem der junge Patient unabsichtlich auf die Sprünge hilft. Selbstverständlich braucht der neurotische Alan eine Behandlung, aber was er an rauschhaftem Erleben seiner innerlich gezügelten, regelkonformen Umwelt voraushat, macht ihn für Zivilisationskrüppel Dysart zum Korrektiv – wobei andererseits dessen Desillusionierung bereits zu tief sitzt.
Der Regisseur Lumet stülpte sich gleichsam wie ein Schauspieler Masken über, hinter denen er sich dennoch nicht versteckte. Mit seinem Namen stand er für die Themen ein, die er bearbeitete. Das bestimmte auch sein kreatives Verhältnis zur Religion, das umso ernster wurde, je mehr sie Anfeindungen und Missbrauch ausgesetzt war. Lumet zeigte sich offen für alles Menschliche, das die Sehnsucht nach dem Göttlichen einschließt, auch wenn ihn selbst die inneren Konflikte seiner Filmfiguren weit weniger plagten.
Roland Mörchen
Roland Mörchen ist Diplom-Theologe und Kulturjournalist.