Der Pakt und die Anderen
Der Migrationspakt der Europäischen Union sollte das europäische „Wir“ bestärken. Möglich gemacht wird das aber nur, weil die Last des Pakts vor allem von den Ländern entlang der Migrationsrouten getragen wird. Und von den Geflüchteten, die durch die Politik der Auslagerung europäischer Schutzverantwortung zu unerwünschten „Anderen“ werden. Lucas Rasche, Experte für Migration und Flucht bei dem katholischen Hilfswerk Misereor, beschreibt warum.
Die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) beruht in erster Linie auf einem Kompromiss im Inneren der Europäischen Union (EU). Nach jahrelangen Verhandlungen haben sich die EU-Mitgliedstaaten und das Europaparlament im April mit dem „Migrationspakt“ auf ein fragiles Gleichgewicht zwischen Solidarität und Verantwortungsteilung geeinigt. Doch dieser Kompromiss hat weitreichende Folgen, auch über die EU hinaus.
Insbesondere im Rat konnten sich die nationalen Regierungen nur auf einen gemeinsamen Weg einigen, weil sie das gleiche Ziel verfolgen: die Zahl der irregulären Ankünfte in der EU auf ein Minimum zu reduzieren. Dazu ist der Migrationspakt allein jedoch nicht in der Lage. Ein Großteil der darin enthaltenen Regelungen greift erst, wenn Schutzsuchende bereits in Europa angekommen sind.
Aus diesem Grund ist die EU auf die Zusammenarbeit mit so genannten Drittstaaten entlang wichtiger Migrationsrouten angewiesen. Die Verantwortungsteilung im Inneren ist also eng gekoppelt an eine Auslagerung eigener Verantwortlichkeiten in nicht-europäische Staaten. Besonders den Ländern Nordafrikas kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. So kamen im vergangenen Jahr insgesamt etwa 270 000 Schutzsuchende über das Mittelmeer in die EU. Davon wagten allein 157 000 die gefährliche Überfahrt entlang der zentralen Mittelmeerroute nach Italien. Die meisten Überfahrten gingen von Tunesien (62 Prozent) und Libyen (33 Prozent) aus. Im gleichen Zeitraum wurden in Spanien knapp 57 000 Ankünfte registriert, davon geschätzte 28 Prozent von Marokko aus. Das belegen die Zahlen des Flüchtlingshilfswerks UNHCR (https://data.unhcr.org/en/situations/mediterranean).
Abkommen mit Tunesien und Ägypten
Abkommen mit Tunesien und Ägypten unterstreichen die Dringlichkeit, mit der die EU bereits jetzt versucht, die Staaten Nordafrikas in das europäische Migrationsmanagement einzubinden. Jetzt, da die internen Querelen beendet sind, werden sich die Bemühungen der EU um weitere Deals noch intensivieren.
Wesentliche Ziele des Pakts bleiben ohne die Kooperationsbereitschaft der Staaten Nordafrikas leere Versprechen. Das gilt insbesondere für ein legislatives Kernvorhaben des Migrationspakts: die verpflichtenden Grenzverfahren. Hierbei sieht die Reform vor, dass direkt an der EU-Außengrenze in einem beschleunigten Verfahren festgestellt werden soll, welche Asylsuchenden einen Schutzanspruch haben – und welche nicht. Dabei wird zunächst überprüft, ob sich die Person zuvor in einem so genannten sicheren Drittstaat aufgehalten hat. Ist dies der Fall, wird ihr Antrag abgelehnt und es erfolgt eine unmittelbare Rückführung.
Das wiederum erfordert die Bereitschaft von Drittstaaten, abgelehnte Asylsuchende auch tatsächlich zurückzunehmen. Und genau daran scheitert es oftmals in der Praxis. Auch deshalb setzt der Migrationspakt nun die Kriterien erheblich herab, die einen „sicheren“ Drittstaat ausmachen. So ist es nicht länger notwendig, dass der Staat die Genfer Flüchtlingskonvention ratifiziert hat.
Schutzverantwortung ausgelagert
Maßgeblich ist lediglich der Zugang zu einem wenig definierten „effektiven Schutz“. Außerdem reicht es in Zukunft aus, wenn lediglich einzelne Landesteile als sicher gelten. Dazu muss das Land nur ein entsprechendes Abkommen mit der EU unterzeichnen. Allerdings sind die Staaten entlang der Migrationsrouten nach Europa selten wirklich sicher für Schutzsuchende. Und der Druck Europas, die eigene Schutzverantwortung auszulagern, wirkt dabei oftmals sogar kontraproduktiv. In Tunesien beispielsweise verläuft der Aufbau eines nationalen Asylsystems auch deshalb nur schleppend, weil das Land im Zuge einer möglichen Einstufung der EU als „sicherer Drittstaat“ nicht zu einem Auffanglager für abgelehnte Asylbewerber werden will. So hat die tunesische Regierung bereits deutlich gemacht, keine Staatsangehörigen anderer Länder zurücknehmen zu wollen. Die rassistischen Aussagen von Tunesiens Präsident Saied haben außerdem dazu geführt, dass Migranten aus Subsahara-Afrika sich zunehmender Gewalt im Land ausgesetzt sehen.
Mit der durch den Migrationspakt gestiegenen Relevanz der Länder Nordafrikas verstärkt sich auch deren Verhandlungsposition gegenüber der EU. Bereits in der Vergangenheit wussten diese, ihre geografisch wichtige Lage zur Durchsetzung eigener Interessen einzusetzen. So hat die marokkanische Regierung 2021 kurzzeitig die Kontrollen an der Grenze zur spanischen Exklave Ceuta eingestellt. Daraufhin versuchten tausende Menschen in kurzer Zeit, die Grenzanlagen zu überwinden. Die Sorge vor einem Kontrollverlust und die damit einhergehenden Bilder erzeugten ausreichend Druck auf die spanische Regierung, um deren Einlenken im Konflikt um Marokkos Machtansprüche in der Westsahara zu erwirken.
Letztendlich trägt der Migrationspakt somit dazu bei, dass Migranten und Geflüchtete zunehmend zur Verhandlungsmasse zwischen der EU und den Ländern Nordafrikas werden. Leidtragende sind die Schutzsuchenden selbst. Für sie wird es immer schwieriger, die eigenen Rechte geltend zu machen – sowohl in der EU als auch entlang der Migrationsrouten. Der Konflikt mit Marokko macht deutlich, dass Europas Bestreben, die eigene Asylverantwortung in die Länder Nordafrikas auszulagern, nicht konfliktfrei verläuft. Denn auch dort ist Migration oftmals ein innenpolitisch sensibles Thema. Als „Türsteher“ Europas möchte daher keines dieser Länder wahrgenommen werden. Entsprechend sind bisherige Migrationspartnerschaften zwischen der EU und Nordafrika von diversen Interessenskonflikten geprägt.
Unterschiedliche Interessen
Die EU ihrerseits versucht durch Abkommen mit Staaten wie Tunesien (2023), Ägypten (2024) oder Mauretanien (2024), Migranten und Geflüchtete bereits entlang ihrer Migrationsrouten aufzuhalten. Oftmals werden die Abkommen mit dem Argument begründet, sie würden das Sterben im Mittelmeer beenden. Durch mehr Schutz vor Ort würden Menschen von der Überfahrt abgehalten. Tatsächlich rechnet die IOM damit, dass seit 2014 mehr als 29 000 Menschen im Mittelmeer ertrunken sind. Nachdem es 2020 „lediglich“ 1 881 vermisste Personen gab, ist seither nicht nur die Zahl der gefährlichen Überfahrten wieder gestiegen. Sondern auch die Zahl der als tot oder vermisst gemeldeten Personen – auf mehr als das Doppelte im vergangenen Jahr (4 110). Ein genauerer Blick in die Verlautbarungen zu den Migrationsabkommen mit Tunesien und Ägypten zeigt zudem, dass Menschenrechte und Schutzperspektiven für Geflüchtete darin keine wichtige Rolle spielen.
Dem Anliegen der EU gegenüber steht eine Vielzahl unterschiedlicher Interessen der Partnerländer Nordafrikas. Tunesiens Wirtschaft beispielsweise profitiert von der finanziellen Rücküberweisung eigener Staatsbürger – unter anderem aus der EU. 2022 machten diese insgesamt 4,5 Prozent des BIPs Tunesiens aus (2,1 Milliarden Dollar). Es ist also nicht im Interesse Tunesiens, die Migration in Richtung Europa komplett zu unterbinden. Zudem steht das Einwirken der EU auf die Migrationspolitik der Länder Nordafrikas deren Selbstverständnis als eigenständige Akteure entgegen und wird auch vor dem Hintergrund kolonialer Vergangenheiten kritisch gesehen. So hat etwa Tunesiens Regierung im Oktober 2023 die im Migrationsabkommen vorgesehenen Zahlungen der EU in Höhe von 60 Millionen Euro zurücküberwiesen mit dem Verweis, Tunesien würde keine Almosen entgegennehmen.
Ägypten seinerseits hat eine eigene Flüchtlingskrise zu bewältigen. Insgesamt leben etwa 9,5 Millionen Migranten in Ägypten, darunter 4,5 Millionen Geflüchtete aus dem Sudan, 1,5 Millionen aus Syrien und eine Million Menschen aus dem Jemen. Obwohl Ägypten die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet hat, verstößt das Land immer wieder gegen deren Vorgaben. So werden Schutzsuchende regelmäßig festgenommen und illegal deportiert. Die Mehrzahl der Schutzsuchenden im Land lebt in der Informalität. Nur etwa 480 000 sind formell beim UNHCR registriert und haben dadurch Zugang zu Hilfsleistungen. Entsprechend gering ist das Eigeninteresse Ägyptens, Migranten, die ihrerseits auf dem Weg nach Europa sind, im Auftrag der EU aufzuhalten und selbst aufzunehmen. Allen Interessenskonflikten zum Trotz sind nach den jüngsten Migrationsabkommen mit Tunesien und Ägypten weitere Deals zu erwarten. Grund dafür ist neben den finanziellen Zuwendungen auch die diplomatische Aufwertung, die mit derartigen Abkommen einhergeht. Besonders im Fall von Tunesien und Ägypten ist dies jedoch problematisch. In beiden Ländern trägt die bisherige Migrationspartnerschaft der EU zur Festigung autoritärer Regime bei.
Bereits zwischen 2014 und 2020 wurden 43 Prozent der im EU-Treuhandfonds (EUTF) für Afrika vorgesehenen Gelder in Tunesien für Projekte im Grenzschutz ausgegeben. Auch in Ägypten zählt die EU zu einem der wichtigsten Zulieferer für Sicherheitsequipment – vieles davon zur Überwachung ägyptischer Außengrenzen. Es profitieren davon in beiden Ländern zumeist die Sicherheitsapparate, deren Behörden und Polizeikräfte für die Umsetzung der Grenzkontrolle verantwortlich sind. Deren Unterstützung geht einher mit weitgehend ausbleibender Kritik an den Menschenrechtsverletzungen in beiden Ländern. So wurde einer Delegation des Europaparlaments von der tunesischen Regierung die Einreise verweigert, weil sich diese mit kritischen Oppositionellen austauschen wollte. Die Umsetzung des Abkommens wurde dennoch ohne Einschränkung fortgesetzt. Auch das Abkommen mit Ägypten wurde ohne Verweis von Seiten der EU auf die systematische Polizeigewalt im Land oder die Unterdrückung der lokalen Zivilgesellschaft unterzeichnet.
Fehlende Geschlossenheit
Neben der finanziellen Unterstützung profitieren die autoritären Regime in beiden Ländern also auch politisch von den jüngsten Abkommen. So wurden die Vereinbarungen mit Tunesien und Ägypten auf Seiten der EU nicht bloß von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen unterzeichnet. Stattdessen waren auch die Staatschefs aus Italien und den Niederlanden sowie von Österreich, Griechenland, Zypern und Belgien zugegen. Ihre Anwesenheit signalisiert einerseits, wie wichtig die Abkommen innenpolitisch für die EU sind. Die prominent besetzte Vorstellung der Deals führt anderseits aber auch zur internationalen Legitimierung der autoritären Führungen in Tunis und Kairo. Beide Regierungen können sich dadurch als verlässliche Partner inszenieren und untermauern innen- wie außenpolitisch ihren Machtanspruch.
Der Migrationspakt sollte das europäische „Wir“ bestärken. Seine Verfechter sehen darin eine lang vermisste Geschlossenheit im Umgang mit dem Thema Migration. Möglich gemacht wird das neue migrationspolitische „Wir“ aber nur, weil die Last des Pakts vor allem von den „Anderen“ getragen wird: von den anderen Ländern entlang der Migrationsrouten in Richtung Europa und von den Geflüchteten, die durch die Politik der Auslagerung europäischer Schutzverantwortung zu unerwünschten „Anderen“ werden.
Lucas Rasche
Lucas Rasche ist Referent für Migration, Flucht & Menschenrechte beim Misereor Büro Berlin