Gestrandet in der Abschreckung

In Triest und Harmanli unterwegs an den Rändern Europas
Ankunftsort aus der ganzen Welt: Die norditalienische Hafenstadt Triest bildet das Ende der so genannten Balkanroute.
Fotos: picture alliance
Ankunftsort aus der ganzen Welt: Die norditalienische Hafenstadt Triest bildet das Ende der so genannten Balkanroute.

Im Dezember einigte sich die Europäische Union auf eine Verschärfung des Asylrechts, im April stimmte das Parlament zu. Gleichzeitig tauchen immer mehr flüchtende Menschen in Europa ins Verborgene ab. Wie sieht es heute aus, an den Rändern Europas? Eindrücke aus Harmanli in Bulgarien und der italienischen Hafenstadt Triest – dem Ende der so genannten Balkanroute, die die Journalistin Franziska Grillmeier bereist hat.

Zigaretten werden entzündet, drei Kellner stehen in Anzügen neben den dicht besetzten Tischen auf der weiten Piazza. An diesem Abend glüht die norditalienische Abendsonne in den Weingläsern der Gäste. Triest, die Stadt der Schriftsteller und der Melancholie. Hier wird doppelt so viel Kaffee getrunken wie im Rest des Landes und die Bewohner sind stolz darauf, dass man die Stadt zu Fuß ablaufen kann.

Ein paar Gehminuten von der Piazza Unità d‘Italia entfernt, machen die herrschaftlichen Bauten eine Biegung, und man erreicht den Hauptbahnhof. Auf einem kleinen Platz stehen ältere Paare in Daunenjacken und mit grauen Haaren. Sie stellen Klapptische auf. „Triest ist ein bisschen wie Lampedusa, nur schaut hier keiner so genau hin“, sagt eine Helferin, die sich schon seit fünf Jahren ehrenamtlich für geflüchtete Menschen einsetzt. In den vergangenen beiden Jahren seien immer mehr Helfende dazugekommen, vor allem ältere Triester in Rente. Ein Herr in Daunenjacke und Turnschuhen drapiert Schüsseln mit Alufolie, Plastikgabeln, Brot und Fleischbällchen darauf. Man könnte meinen, die Nachbarschaft trifft sich zu einem Straßenfest.

Riesige Versorgungslücken

Dabei findet diese Szene jeden Tag um halb acht auf der Piazza della Libertà statt. Seit der neue Bischof in die Stadt gekommen ist, kamen immer mehr dazu. Meist Rentner, die mit anderen Solidaritätsgruppen versuchen, die riesigen Versorgungslücken zu kitten, durch die Asylsuchende in der norditalienischen Stadt seit Jahren hindurch rutschen. Sie kommen über die so genannte Balkanroute – aus Kroatien oder Slowenien – nach Italien. Manche von ihnen tragen Verletzungen der monatelangen Flucht, versorgen sich selbst und versuchen durchzukommen. Im vergangenen Jahr stieg die Zahl der Menschen, die über Triest nach Italien kamen, laut Schätzungen auf rund 15 000 Menschen.

Die meisten von ihnen zogen laut lokalen Hilfsorganisationen weiter. Rund zwanzig Prozent der Menschen stellen in der Stadt einen Asylantrag. Und damit intensivierten sich vor allem vor zwei Jahren die Probleme. Denn es fehlt an Unterkünften, um die Menschen, die auf eine Antwort in ihrem Asylverfahren warten, unterzubringen. Einige von ihnen landen in einem alten Getreidespeicher, der auch auf dem Platz nur unter „Silo“ bekannt ist.

Geht man durch den großen Eingang des Hauptbahnhofs und biegt links in die Parallelstraße, beginnt der Wind, stärker durch die Schneisen zu wehen. Die großen Bögen des Backsteingebäudes haben keine Fenster, vor manchen stehen dünne Stahlgitter. Seit Jahrzehnten ist der im Jahr 1800 im Habsburger Kaiserreich erbaute Getreidespeicher immer wieder Schauplatz von Abschottung, Vertreibung und Widerstand mitten in Europa: Unter Mussolini wurden hier im Dezember 1943 die Jüdinnen und Juden versammelt, die mit dem Zug nach Auschwitz gebracht wurden. „Es war das erste Mal, dass Silos als ‚Container‘ für Menschen und nicht für Getreide verwendet wurden“, schreibt Roberta Altin von der Universität Triest in ihrer sehr lesenswerten Arbeit über die Geschichte der Silos.

Seitdem brannte das Silo immer wieder, stand leer und wurde zu einem Ort für Vertriebene aus aller Welt. Heute stehen hier zwischen den Gemäuern Sommerwurfzelte auf Pappdeckeln. Daneben: Feuerstellen und Plastiksäcke mit Feuerholz. Zwischen den Bögen schwingen Wäscheleinen. In manchen Zelten liegen Dokumente und Klamotten aufeinandergestapelt, durch schwere Steine fixiert, damit die starken Böen sie nicht forttragen.

Kein fließendes Wasser

Im April 2024 leben noch etwa einhundert Menschen zwischen den Pfützen des alten Getreidebaus, im Oktober 2023 waren es zeitweise über 500 Menschen. Einer von ihnen heißt Choudhry Balan, sein Name wurde aus Schutzgründen geändert. Balan trägt nur T-Shirt und Flip-Flops, trotzdem steht ihm beim kräftigen Wind der Schweiß auf der Stirn. Er schiebt einen dreirädrigen Quinny-Kinderwagen mit zwei Kanistern über den Lehmboden. Das Wasser hat er von dem Brunnen an der Piazza della Libertà, an dem die Triesterinnen und Triester sich jeden Abend zusammentun, um etwas Essen zu verteilen. Elektrizität oder fließendes Wasser gibt es hier in den Gebäuden nicht. „Wir haben eine strenge Aufgabenteilung in unserer Gruppe“, sagt Balan. Heute sei er für das Wasserholen zuständig, jemand anderes kocht. Und morgen? „Feuerholz sammeln“, sagt Balan. Vor drei Monaten kam Balan über Slowenien nach Triest. In Bulgarien, habe er „Glück gehabt“, denn dort würden die meisten Menschen wieder in die Türkei zurückgebracht werden, sagt er. 

Balan will in Italien bleiben, um hier eine Arbeit zu finden und ein Leben jenseits des Wartens zu beginnen. Er hofft, bald eine Antwort zu bekommen. Es sei ein „künstlicher Ausnahmezustand“, der erschaffen wurde, um ein „Bild der Überforderung“ zu kreieren, sagt Gianfranco Schiavone. Der Anwalt, blauer Baumwollpullover, runde Brille, sitzt nur wenige Gehminuten von den Silos entfernt in einem geschäftigen Büro der Hilfsorganisation ICS. Seit über dreißig Jahren kümmern sich die Mitarbeitenden hier um die Aufnahme und Integration von Geflüchteten der Stadt. Ein Solidaritätsnetzwerk, das es jahrelang schaffte, Menschen im Asylverfahren und später nach ihrer Ankunft in Triest durch die großen Systemlücken zu navigieren, bis die Plätze in den Unterkünften und Wohnungen mit der neuen Regierung unter der Ministerpräsidentin Giorgia Meloni immer weniger wurden. „Die Menschen sollen unsichtbar werden“, sagt Schiavone. Er ist davon überzeugt, dass niemand in den Silos wohnen müsste, wäre der politische Wille da, etwas ändern zu wollen. Doch in Triest setze man, wie es schon oft an den Grenzen der Europäischen Union zu beobachten ist, auf Abschreckung.

Gerade jetzt ein politisch heikles Thema, da Papst Franziskus ankündigte, am 7. Juli in die Stadt zu kommen. Bei seinem Besuch soll es auch um den europäischen Umgang mit Flucht und Migration gehen und Triest soll als Ankunftsort tausender Menschen aus der ganzen Welt in den Blick genommen werden. Ein Thema, um das momentan nicht nur in der Lokalpolitik in Triest gerungen wird, sondern in ganz Europa. Denn im Dezember vergangenen Jahres einigte sich die Europäische Union erstmals auf eine Reform für ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem. Im Zentrum der neuen Regelungen, kurz: GEAS, steht die Pflicht für alle Mitglied­staaten, alle Asylsuchenden an den Außengrenzen zu erfassen und zu überprüfen. Maßnahmen, die vor allem in EU-Ländern entlang der EU-Außengrenzen umgesetzt werden sollen, wie etwa in Bulgarien. 

Eine Grenze, an der Asylsuchende schon seit Jahren immer wieder mit Gewalt zurückgedrängt werden. Einer, der davon zu berichten weiß, ist Hamid Khoshseiar. „Kaffee?“, fragt er und blinzelt über seine rahmenlose Brille. Würden sich nicht Plastiksäcke voller Klamotten vor ihm stapeln, könnte man meinen, dort säße ein Arzt in seiner Praxis. Doch Khoshseiar, 40, weiße Jeans und hellgraues Haar, sitzt in dem kleinen Büro der Hilfsorganisation Mission Wings. Bei der Frage, warum er noch immer in der Grenzstadt sei, lacht Khoshseiar. Man solle sich nicht durch Sorgen, sondern nur durch Fakten leiten lassen, zitiert er den britischen Mathematiker Bertrand Russell. Und faktisch würde ihm das Leben hier guttun, weil er Anderen nach ihrer Ankunft in Bulgarien helfen könne. „Hier bin ich weniger Nerd und mehr Mensch.“

Abseits der Medienaufmerksamkeit

Es ist Februar 2024 in der bulgarischen Kleinstadt Harmanli, 50 Kilometer von der türkischen Grenze entfernt, über die der Physiker aus dem Iran vor vier Jahren floh. Die bulgarisch-türkische Grenze liegt oft abseits der Medienaufmerksamkeit. Dabei hat der Ort eine große Bedeutung für Europa. Fast zehn Jahre ist es her, dass Millionen Menschen über die Balkanroute kamen, der Umgang mit Flucht und Migration hat sich seither nachhaltig verändert. Viel Geld floss in die Infrastruktur der EU-Außengrenzen, Checkpoints wurden errichtet, Personal wurde aufgestockt, Überwachungstechnik eingesetzt, auch an der bulgarisch-türkischen Grenze. Gleichzeitig häuften sich immer mehr Berichte von brutaler Gewalt im bulgarisch-türkischen Grenzgebiet. Im Jahr 2023 „verhinderte“ die bulgarische Grenzpolizei nach eigenen Angaben knapp 180 000 „illegale Grenzübertrittsversuche“ von Menschen, die danach wieder „freiwillig“ in die Türkei zurückgekehrt seien. „Wenn die Polizei davon spricht, Grenzübertritte zu verhindern, geht das meist nicht freiwillig über die Bühne“, sagt Khoshseiar. Seit eineinhalb Jahren sammelt seine Organisation neben der täglichen humanitären Arbeit auch die Berichte der oftmals brutalen Zurückweisungen, auch Pushbacks genannt, an der bulgarisch-türkischen Grenze. Investigative Recherchen haben in den vergangenen Jahren ebenfalls vielfach dokumentiert, wie Asylsuchende in kleinen, vergitterten Baracken eingesperrt und anschließend wieder auf die türkische Seite der Grenze gebracht wurden.

Die EU-Grenzschutzbehörde Frontex teilt auf Anfrage mit, derzeit in insgesamt elf Fällen zu möglichen Grundrechtsverletzungen durch bulgarische Beamte zu ermitteln. Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen. Die bulgarische Menschenrechtsorganisation Bulgarian Helsinki Committee berichtet von mehr als 5 000 illegalen Pushbacks allein im Jahr 2022, mit mehr als 87 000 betroffenen Menschen. Zuletzt deckten Maria Chereseva, Investigativjournalistin aus Bulgarien, und Luděk Stavinoha, Professor an der Universität East Anglia, auf, dass die EU-Kommission und die EU-Grenzschutz-Agentur Frontex über die Gewalt an den Grenzen, internen Dokumenten zufolge, ausreichend informiert wurden, doch trotzdem nicht einschritten. Im Gegenteil: Die Berichte der Gewalt hatten keinen Einfluss auf die finanzielle und personelle Unterstützung der EU-Behörden an der türkisch-bulgarischen Grenze. 

Auch als Khoshseiar die Grenze vor vier Jahren überquerte, weil ihn Todesdrohungen des iranischen Regimes schließlich auch in der Türkei erreichten und er keinen anderen Weg nach Europa hatte, als über die bulgarisch-türkische Grenze zu flüchten, wurde er zum Zeugen dieser Gewalt. Als die bulgarischen Grenzschützer ihn aufgriffen, hätten sie ihn gefragt, wo der Rest der Gruppe sei, erzählt er. Doch der 40-Jährige war allein gekommen. „Sie zwangen mich, mein T-Shirt nach oben zu ziehen“, sagt Khoshseiar und zeigt auf seine Brust. „Bis hierhin.“ Er musste sich auf den Boden legen, an das Piksen der Nadeln und der kleinen Steine in seinen Bauch erinnert er sich, kurz bevor ein Schuh in seinen Nacken drückte. Mit Khoshseiars Gehstock, der ihm geholfen hatte, den Fluss zu überqueren, habe ein Polizist dann auf seinen Rücken eingeschlagen. Bis der Stock in zwei Teile gebrochen sei. Zwei Tage lang ließen ihn die Beamten in einer Ecke der Polizeistation sitzen, sagt Khoshseiar. „Zum Glück hatte ich noch Walnüsse und Datteln in meiner Hosentasche – zu trinken oder essen gab es nichts.“ Auch in der Begegnung mit hunderten Flüchtenden in seiner jetzigen Arbeit bei Mission Wings hört er immer wieder solche Berichte.

Eine Stunde nach dem Kaffee im Büro zeigt Khoshseiar durch die Windschutzscheibe auf einen Flachbau mitten in den Feldern. Das Gebäude liegt nur wenige Kilometer von der griechischen Grenze entfernt. Es ist das Lager Pastrogor, in dem die EU-Kommission gemeinsam mit der bulgarischen Regierung ein Pilotprojekt testet, bei dem Asylanträge direkt an der bulgarisch-türkischen Grenze im Schnellverfahren abgewickelt werden. Vor allem Menschen aus Tunesien und Marokko, Länder mit einer niedrigen Anerkennungsrate, sind hier untergebracht. Das Lager besuchen können wir nicht. Die Anfrage lehnt die staatliche Agentur für Flüchtlinge jedenfalls ab. „Keiner weiß genau, was in dem Gebäude passiert“, sagt Khoshseiar, der uns zu dem Lager begleitet, „sobald es geschlossen wird, noch weniger“. 

Gewalt und Isolation

Heute an den europäischen Grenzen als Reporterin unterwegs zu sein, ist ein bisschen so, als würde man unentwegt an einem Radio schrauben. Es rauscht die meiste Zeit, bis plötzlich ein Signal reinkommt. Dann werden die Stimme plötzlich ganz klar. Sie erzählen von der Gewalt an der bulgarischen Grenze, von der Isolation in griechischen Lagern, von ihren Familien, ihren Träumen und von dem Wunsch, endlich anzukommen (siehe auch Seite 62).

In einem Gespräch auf der Insel Lesbos sagte mir die afghanische Dichterin und Aktivistin Parwana Amiri einmal: „Für mich ist eine Grenze nicht das Überqueren von Bergen, Meer oder Wüste. Sie ist nicht der Übergang von einem Land zum anderen. Eine Grenze schließt dich ein, durch die Isolation von der Welt. Eine Grenze bedeutet Isolation von der Welt – wenn es dir nicht erlaubt ist, zu sprechen, zu handeln, am Leben teilzuhaben.“

Bis heute bleibt es jeden Tag eine mediale und auch politische Entscheidung, wer von Europas Rändern zu hören ist und wer nicht.

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Gesellschaft"