Heilsame Urworte

Wider die trostlose Bibellosigkeit unserer Zeit
Paradiestür von Lorenzo Ghiberti (1425) am Baptisterium neben dem Dom in Florenz.
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Paradiestür von Lorenzo Ghiberti (1425) am Baptisterium neben dem Dom in Florenz.

„Sie werden lachen, die Bibel“, sagte einst Bert Brecht auf die Frage nach dem wichtigsten Buch der Weltliteratur. Auch Eve-Marie Becker, Neutestamentlerin an der Universität Münster, ist überzeugt, dass Tiefe und Weite der biblischen Texte in den lähmenden Meinungsschlachten der Gegenwart hilfreich sein könnten – völlig jenseits vordergründiger Missionsabsichten.

Viele sozio-politische Diskurswelten, die unsere Feuilletons und Talkshows dominieren, sind wohl multiperspektivisch, doch mitunter hektisch, alarmistisch, teils überspitzt überdreht. Ob die erwartete Klimakatastrophe mit E-Autos, vegetarischem oder veganem Lebensstil und Emissionshandel abzuwenden sei oder doch das Fortbestehen von Steakhäusern und Verbrennermotoren zulasse – wie zuletzt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Rede und Gegenrede ausführlich diskutiert –, führt inzwischen fast schon zu Glaubenskämpfen, für die machtdiskursfähige Lehrgebäude errichtet werden. Plurale Lebensformen und Lebensweisen in liberalen Gesellschaften werden versuchsweise einer neuen kasuistischen Reglementierung unterworfen, deren moralische Grundierung auf steinerne Tafel des Gesetzes eingeschrieben wird. Die traditionalen Urworte vom Sinai dagegen drohen zu verblassen: „Du sollst… Du sollst nicht…“ regelt nunmehr Lebensweisen und schützt nicht – wie der Dekalog einst anregte – die Menschen vor sich selbst und ihrer Gott- und Geschichtsvergessenheit. Nichts weniger als das steht hier zur Disposition.

Zeitgleich nimmt der clash erfahrbarer globaler Wirklichkeiten, die längst ihre eigene blutige Geschichte schreiben, an Fahrt auf – er produziert hoch explosive Gefährdungslagen im Osten Europas und im Nahen Osten und zugleich fatalistische Selbstbegnügungstendenzen in der sogenannten Westlichen Welt: Sexuelle Selbstbestimmung, Diversity und in postkolonialem Selbstbewusstsein begründete Freiheitsrechte hierzulande kollidieren andernorts mit gefakten Fakten und manipulierten Bildern sowie brutalen Kriegsführungen, die keinen Gräuel an Körper und Seele Wehrloser mehr auslassen. Das fünfte Gebot ruft, ja, schreit nach Auslegung.

Was bedeutet es da, dass die Geschichte der Menschheit mit einem perfiden Brudermord begann und sich Kain, der Mörder, vor Gott doch nur vergeblich verstecken konnte? Was ließe sich von Noah, dem frommen Mann ohne Tadel, lernen, der – auf göttliche Anordnung hin – das Fortbestehen seiner Mitgeschöpfe zu Zeiten der Sintflut sichern konnte? Der Chor der hörbaren Gegenwartsdeuter und Zukunftskenner aber singt lieber selbstkomponierte, mitunter atonale Soli. Ist darunter noch ein Gottesmann wie Elia zu finden, der durch Gewaltexzesse wenigstens göttlich gewollte Ordnung wiederherstellen sollte, und wünschen wir uns den zurück? Vielleicht taugt eher der Elia, der am Ginsterbusch an sich selbst verzagte. Oder halten wir gleich besser Ausschau nach dem gerechten Hiob, der seinen Gottesglauben sogar im tiefsten Elend nicht aufgeben wollte? Ich fürchte, fast keine und keiner trägt überhaupt hier mehr biblische Namen. In diesem Diskursklima, das das enorme Bedeutungspotenzial von archetypischen Texten verkennt, aber droht zuletzt auch Erstickungsgefahr.

Bitterkeit und Vergiftung

Denn nicht mehr nur fest etablierte Bibelferne, sondern fleißig praktizierte Bibellosigkeit entzieht unseren Diskursen in der Mitte der Gesellschaft inzwischen den Sauerstoff zum weiteren Nachdenken, den wir zum Überleben brauchen würden und den die lange gewachsenen antiken Textkulturen – und mit ihnen die biblischen Texte – jeweils wieder neu produzieren könnten. Biblische Schriften speichern wie alte Bäume schädliche Gase, und – wenn sie weiter bestehen können – verwandeln sie Bitterkeit und Vergiftung in Leben. Die Verdrängung der antiken Texte aus den freiheitlich geführten Meinungsschlachten lässt sie stattdessen blitzschnell zum Freiwild derer werden, die aus Arglosigkeit oder mit autoritärem Gebaren dunkle Zeiten des Gottesmissbrauchs heraufbeschwören. Holen wir doch die Texte her und streiten über sie beim hellen Tageslicht: Dann sehen wir, worum es geht und was für uns alle auf dem Spiel steht, wenn sie aus dem öffentlichen Diskurs verschwinden!

Die Verdrängung der biblischen Texte und ihrer Erfahrungswelten hat vielerlei, anfangs demenzielle Ursachen – ich nenne nur zwei: 

Erstens den Verlust an Gotteserfahrung. Die öffentlichen Räume, in denen Menschen Gotteserfahrungen machen und artikulieren können, werden sukzessive geschlossen. Nicht nur, dass der krasse Mitgliederschwund der Kirchen Steuereinnahmen senkt und Sparmaßnahmen nötig macht, die im Ernstfall auch zu Kirchengebäudeschließungen führen – über die aktuellen Zahlen wurde kürzlich wieder berichtet. Auch in den Räumen, die noch da sind, verdrängen kurzfristiger sozialer Eifer und tagespolitisches commitment basale Theologie wie Christus predigen, Beten lernen, Demut üben oder über Hoffnung sprechen – wir können das von mir aus auch erfahrungsbasierte Spiritualität nennen, die etwa das Leiden des Paulus an Welt und Schöpfung mit eigenen Händen begreifen lernt: Welche Gotteserfahrung ist es, die es dem Völkerapostel möglich machte, von Rettung noch in Bedrängnis zu sprechen? 

Aus dem Zusammenleben mit verdichteten, erfahrungsgetränkten Texten könnten Momente der Ruhe, der kritischen Selbstwahrnehmung und dann auch der vertieften Erkenntnis von Liebe und Hoffnung erwachsen. Dabei können wir – sogar aus der Ferne – den Alten erstaunlich nahekommen und über die Schulter blicken. In seinen Briefen lässt sich Paulus, obgleich auch er um die Kürze der Zeit weiß und von seinen Aufgaben mindestens ebenso getrieben ist, beim ertastenden Nachdenken beobachten. Manches bleibt beim Nicht-zu-Ende-Denken-Können: Wie lassen sich die Treue und die Verlässlichkeit Gottes einerseits mit der Souveränität seines Willens andererseits zusammenbringen? 

Paulus suchte ohne Pause, und er beschreibt bleibende Aufgaben: Welche Einsicht in die Gestaltung von Gemeinschaft ergibt sich aus der Erfahrung, dass die Gerechtigkeit Gottes in der „guten Nachricht“ von Christus die Welt an ihren Abgründen zur Liebe befähigt und befreit? Hier liegt das Thema des Römerbriefs – der evangelischen Programmschrift schlechthin, die denen, die sie Vers für Vers erkunden und wie eine Denklandschaft durchwandern, neue Fragehorizonte öffnen. In den biblischen Texten verursachen die Aporien, die die Deutung von Gotteserfahrung mit sich bringen können, indes keine Sturzgefahr: An den Steilkanten seiner eigenen Denkversuche blickt Paulus in die Weite, wo die Erkenntnis Gottes zur vertieften Anerkennung seiner Unerforschlichkeit führt (Römer 11,33ff.).

Geistige Muskulatur aufbauen

Zweitens: der Verlust an philologischer Neugier. Als Erben einer komplexen Menschheitsgeschichte, die in keiner Weise jemals zu überblicken ist, überwältigt uns die Vielzahl an Hinterlassenschaften. Die berechtigte Frage drängt sich auf: Welches Erbe wollen und können wir annehmen und von uns aus an nachfolgende Generationen weitergeben? Die Bibel ist eine durch viele Jahrhunderte geprüfte Auswahlbibliothek, die allen Menschen gehören kann. Ihre Auslegungsgeschichte ist ein Weltkulturerbe eigenen Wertes: Wir können studieren, wann und wie die Texte in die Freiheit führten und wo sie Gewalt und Unterdrückung gebracht haben. 

Je fremder und schwieriger die Texte heute scheinen, je mehr Lesekompetenz braucht es, um den Lebensspuren der Frauen und Männer, die aus ihnen sprechen, folgen zu können. Bibelleser und Bibelforscher sind gewissermaßen Fährtensucher, die dem nachspüren, was Menschen durch Jahrtausende als „wahr“ erfahren haben: wo ihnen Gotteserfahrung – in aller Zermürbung oder Todesangst – Freiheit, Heilung, Hoffnung geschenkt hat. Die Arbeit mit den uns fernen, fremden Texten aber erfordert Neugier und ausdauernde Bereitschaft, nicht nur in ihnen nach uns und unseren Befindlichkeiten Ausschau zu halten, sondern mit dem Sprung in die Geschichte unsere im Erschlaffen begriffene geistige Muskulatur wiederaufzubauen. Denn die Schwierigkeitsgrade der Wegstrecken, die in einer multipolaren Welt mit aufgebrauchter europäischer Friedensdividende noch vor uns liegen, könnten eher noch zunehmen.

Wertvolles Korrektiv

Bibellosigkeit dagegen lähmt. Sie steht im Wechselspiel mit Gottvergessenheit und Kulturverlust. Gemeinsames Nachdenken über unser Leben auf der Erde und unseren Umgang mit den Mitgeschöpfen, über Dürre und Flut, Hitze und Frost, Krieg und Frieden, Flucht und Heimat, Liebe und Hass, Streit und Gemeinschaft – Dauerthemen der Menschheitsgeschichte – braucht Mediation aus einer anderen Welt und Zeit. Kein antiker Text, auch kein biblischer, beendet unsere Krisen, doch er bezeugt Resilienz und erweitert Diskursräume. So öffnet er gesellschaftliche Foren für die dringend nötigen Fragen nach Gott und dem – wie es scheint – hoffnungslos überschuldeten Menschen, die der permanenten Selbstüberschätzung und Selbstüberhitzung im Wettbewerb um Meinungsführerschaften ein Korrektiv setzen. 

Die Propheten, Weisheitslehrer, Apostel und Märtyrer, die in den biblischen Texten Grundfragen menschlicher Not im Horizont eigener Gotteserfahrung aussprechen, sind im Zweifel authentischer als ihre säkularisierten Imitate unserer Tage, die als wohlmeinende Bundespräsidenten, irreführende Kirchenpatriarchen, verantwortungslose Populisten, reflektierte Wissenschaftler oder investigative Kolumnisten sprechen. Denn sie alle – so unterschiedlich geartet und motiviert sie sind – füllen letztlich nur das große Vakuum, das gesellschaftlicher Bibel- und Gottesverlust seit vielen Jahren mitten unter uns entstehen ließ. Der Raum der Meinungsschlachten ist eng und heiß geworden: wir sollten dringend Türen und Fenster öffnen und frische Luft hereinlassen, die neuen Lebensatem gibt.

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Eve-Marie Becker

Dr. Eve-Marie Becker ist Professorin für Neues Testament an der Evangelisch-Theologischen Fakultät an der Universität Münster und Mitglied im Kammernetzwerk der EKD und dessen Steuerungsboard.


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