Klang und Bild vereint zusammen
"Oops, they did it again“ – so könnte man sagen, denn der RIAS-Kammerchor hat sein Projekt „Klingende Bilder“ in der Berliner Gemäldegalerie am Kulturforum gegenüber der Philharmonie fortgesetzt. Angefangen hatte es im vergangenen Jahr, als kurz vor der Weihnachtszeit sechs Bilder mit textlichen und musikalischen Audiofiles versehen worden waren, die während des Besuches mit dem eigenen Smartphone per QR-Code oder mit dem Audioguide der Gemäldegalerie bewusst angesteuert werden können.
Damals waren es Gemälde des 15. und 16. Jahrhunderts der Verkündigung, zum Beispiel in Gestalt des beeindruckenden Bildes „Der Ratschluss der Erlösung“ im spätgotischen Stil vom oberdeutschen Künstler Konrad Witz aus dem Jahre 1444. Parallel ist dort auf der einen Seite zu sehen, wie Gottvater und Gottsohn über einem Lamm den „Ratschluss“ zur Erlösung fassen, und in der rechten Bildhälfte stehen sich Maria und Elisabeth gegenüber, vor ihnen en miniature die Söhne, die beide erwarten: Johannes der Täufer und Jesus von Nazareth, wobei ersterer Fötus vor letzterem kniet. Ein irres Bild und dazu als Musikfile ein Klassiker: „Übers Gebirg Maria geht“ von Johannes Eccard (1553–1611).
Dieses halbe Weihnachtsdutzend wurde gut angenommen, so dass der RIAS-Kammerchor nun noch einmal ganz groß eingestiegen ist: Nicht ein halbes, sondern ein ganzes Dutzend Bilder wurden ausgesucht (übrigens von dem malereibegeisterten Chortenor Christian Mücke) und die zwölf Gemälde haben alle Darstellungen der Kreuzigung oder des unmittelbaren Vorlaufs der Passionsgeschichte zum Inhalt. Der Clou ist diesmal aber die großzügige Förderung des Projektfonds Digitale Entwicklung der (Berliner) Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt. Denn sie ermöglichte, dass zwölf Passionsmotetten vom RIAS Kammerchor neu eingespielt werden konnten. Das halbe Weihnachtsdutzend hingegen hatte man mit bereits teilweise in früheren Zeiten eingespielten Werken bestücken müssen, was nicht per se schlecht ist, aber eine natürliche Beschränkung darstellte – man musste halt nehmen, was da ist.
Jetzt aber konnte Chorleiter Justin Doyle im Vorfeld ganz bewusst und ohne die Grenzen des Fundus zu beachten zu den Bildern Werke aussuchen und zu der visuellen eine auditive Entdeckungsreise gesellen – auch für Kenner:innen der Chormusik. Zu hören sind Werke wie das hymnische „Jesu Christe, frater noster“ von Henryk Górecki (1933–2010), das klangsinnliche „O vos omnes“ von Pablo „Pau“ Casals (1876–1973) oder das in seiner unschuldigen Schlichtheit berückende spätromantische „God so loved the world“ aus „The Crucifixion von John Stainer (1849–1901). Ganz zu schweigen von den absoluten Klangschwergewichten wie dem achtstimmigen „Cruxifixus“ von Antonio Lotti (1667–1740) oder „Der Gerechte kommt um“ – Johann Sebastian Bachs grandiose Bearbeitung der Motette „Tristis est anima mea“ seines Leipziger Amtsvorgängers Johann Kuhnau. Nicht zu vergessen die hinreißende Gregorianik-Interpretation der Frauenstimmen des „Adoro te, devote“ von Thomas von Aquin.
Diese Hörjuwelen sind beigeordnet Meistergemälden des 14.–16. Jahrhunderts. Ergo: Spätgotik/Frührenaissance trifft Musik verschiedenster Epochen. Dazu gibt es kundige Erklärungsdateien zu den Gemälden im Ganzen und mit Einzelbeobachtungen. Ein großer Wurf, der zeigt, wie sinnvoll Geist und technische Möglichkeiten neue Kunst schaffen. Es gibt noch viele Bilder und Themen in der Gemäldegalerie, insofern sei gerufen: Lieber RIAS-Kammerchor, liebe Gemäldegalerie (und lieber Projektfonds der Senatsverwaltung), macht bitte weiter!
Reinhard Mawick
Reinhard Mawick ist Chefredakteur und Geschäftsführer der zeitzeichen gGmbh.