Stresstest für die Demokratie
2024 könnte ein dunkles Jahr für die Bundesrepublik werden, befürchtet Frank Jansen. Der Journalist und Rechtsextremismus-Experte warnt vor einer immer stärker werdenden AfD und mangelnder Empathie für die Opfer rechter Gewalt. Und er fordert mehr zivilgesellschaftliches Engagement zur Verteidigung von Demokratie und Menschenwürde.
Er ist einer der gefährlichsten Politiker in der Geschichte der Bundesrepublik. Aktuell sogar der gefährlichste. Björn Höcke propagiert den Kampf für eine rechtsextreme Republik und hat ein mächtiges Instrument in der Hand – die inzwischen weitgehend rechtsextremistische AfD, derzeit im Bund laut Umfragen die zweitstärkste Oppositionspartei. Das ist der Mann, der 2023 in Dresden „das Stadium des Vorbürgerkriegs“ verkündete. Der Mann, der Migration in die Bundesrepublik als „bevorstehenden Volkstod durch Bevölkerungsaustausch“ bezeichnet. Der Mann, der wegen seiner rechtsextremen Tiraden vom Verwaltungsgericht Meiningen (Thüringen) bescheinigt bekam, die Bezeichnung als „Faschist“ beruhe „auf einer überprüfbaren Tatsachengrundlage“. Ausgerechnet dieser Mann wird in diesem Jahr bei den Landtagswahlen in Thüringen vermutlich einen Triumph feiern. Trotz oder gerade wegen seiner Hetze.
Die AfD im Freistaat, vom Verfassungsschutz schon seit 2021 als „gesichert rechtsextremistisch“ eingestuft, hat in diesem Jahr bei Umfragen bis zu 36 Prozent erreicht. Aktuell ist es etwas weniger, dennoch besteht die Gefahr, Höcke könnte als Chef der stärksten Fraktion im Thüringer Landtag der erste rechtsextreme Ministerpräsident in der Geschichte der Bundesrepublik werden. Auch bei den ebenfalls im September anstehenden Wahlen in Sachsen und Brandenburg dürfte die AfD jede andere Partei überflügeln.
2024 könnte ein dunkles Jahr für die Bundesrepublik werden. Und das 75 Jahre nach der Verkündung des Grundgesetzes, mit der Achtung der Menschenwürde als Leitmotiv. Dennoch breiten sich in Deutschland braune Flecken aus. Rechtsextremismus, das sagen Bundesinnenministerin Nancy Faeser wie auch viele weitere Politiker und Experten, sei die größte Bedrohung für die Demokratie. Diese steht offenkundig vor der härtesten Belastungsprobe seit der Gründung der Bundesrepublik.
Sind die Demokratinnen und Demokraten diesem Stresstest gewachsen? Ist die Zivilgesellschaft stark genug, der Herausforderung durch Höckes AfD und den Rechtsextremismus ingesamt nicht nur standzuhalten, sondern sie auch wieder herunterzudimmen? Auf den ersten Blick scheint zumindest ein Teil der Bevölkerung die Gefahr begriffen zu haben. Die vielen Demonstrationen von insgesamt weit mehr als einer Million Menschen im Januar gegen die AfD und Rechtsextremismus zeugen von einem schockartigen Erwachen. Ausgelöst durch den Bericht der Rechercheplattform „Correctiv“ über ein Treffen von AfD-Politikern, parteiunabhängigen Rechtsextremisten sowie CDU-Mitgliedern in Potsdam, bei dem über die „Remigration“, also Deportation, mehrerer Millionen Migranten sowie eingebürgerter Menschen mit Migrationshintergrund, die angeblich nicht assimiliert sind, gesprochen worden sein soll. Solche Pläne sind allerdings nicht neu.
Makaberer Begriff
Im AfD-Programm zur Bundestagswahl 2021 war bereits von Remigration die Rede. Die Partei betont heute, Deutsche mit Migrationshintergrund seien nicht gemeint. Andererseits hat Björn Höcke bereits 2018 in seinem Buch „Nie zweimal in denselben Fluss“ die „Rückführung der nichtintegrierbaren Migranten“ gefordert. Und ein „groß angelegtes Remigrationsprojekt“. Höcke zitiert zudem den Philosophen Peter Sloterdijk, man werde um eine Politik der „wohltemperierten Grausamkeit“ nicht herumkommen. Den zumindest makaberen Begriff hatte Sloterdijk 2015 verwandt, als er über ein „Abwehrsystem“ zur Begrenzung des Zustroms von Flüchtlingen sprach. Schon damals und in den Jahren danach immer wieder gab es genügend Anlässe für Massenprotest gegen Rechtsextremismus, wie Deutschland ihn in diesem Jahr erlebt, etwa die Verharmlosung des NS-Regimes durch den AfD-Patriarchen Alexander Gauland im Juni 2018 als „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte. Warum nahm die Republik nur mit mäßiger Empörung hin, dass der Chef einer im Bundestag und vielen Landtagen sitzenden Partei die Barbarei des Nationalsozialismus abtat, als handele es sich um einen lästigen Flecken auf einem Gartenstuhl? Ist Auschwitz zu lange her?
Nützliche Angst
In der Pandemie erlebte der Rechtsextremismus einen weiteren Aufschwung, als Corona-Leugner massiv und mit antisemitischen Verschwörungstheorien den Staat attackierten und braunes Fußvolk durchaus willkommen war. Die AfD biederte sich bei den Protestierern an und konnte ihre Basis ausbauen. Heute profitiert die AfD vom schlechten Ruf der Ampel-Regierung. Hinzu kommt die Verunsicherung vieler Menschen durch den Ukraine-Krieg, den Konflikt zwischen Israel und der Terrororganisation Hamas, den sich verschärfenden Klimawandel und eine nur langsam nachlassende Inflation. Angst nützt Populisten und Extremisten.
Das kommt auch Sahra Wagenknecht zugute, die mit ihrem rechts-linken Mischmaschpopulismus der AfD Konkurrenz macht. Auch wenn sich Wagenknecht von Höcke distanziert, ist bei der Wahl in Thüringen und womöglich auch in Sachsen und Brandenburg ein Horrorszenario zu befürchten. AfD und Bündnis Sahra Wagenknecht könnten zusammen rechnerisch stärker werden als die anderen Parteien, die es in den Landtag schaffen. Wird Wagenknecht womöglich eine Minderheitsregierung der AfD tolerieren? Auszuschließen ist das nicht. Im Februar sagte Wagenknecht im Talk bei Maybrit Illner der ebenfalls eingeladenen AfD-Politikerin Beatrix von Storch, die AfD habe „gefährliche Leute“, aber in der Migrationspolitik „einen Punkt“. Auch beim Thema Ukraine-Krieg sind AfD und Wagenknecht nah beieinander. Beide fordern einen „Frieden“, der Russlands Aggression belohnen würde.
Doch dass Rechtsextremismus im wiedervereinigten Deutschland eine kritische Größe werden konnte, ist nur zu einem kleineren Teil durch den Furor von Figuren wie Björn Höcke und Alexander Gauland zu erklären. Gravierender erscheint die Frage, mit welcher Intensität Demokratinnen und Demokraten die Demokratie in der Bundesrepublik leben. Angesichts der Rahmenbedingungen scheint eine positive Antwort zwingend zu sein. Die Wahlen sind frei, Parlamente und Regierungen sind in eine funktionierende Gewaltenteilung eingebunden, der Rechtsstaat ist trotz einiger Schwächen in der Bekämpfung von Kriminalität, speziell auch bei Extremismus und Terror, intakt. Die soziale Marktwirtschaft hat Deutschland einen historisch einmaligen Wohlstand beschert. Und doch müsste Demokratie gerade auch im Alltag stärker gelebt werden. Aber es tun sich Lücken auf, in die Rechtsextremisten, mit weit weniger Erfolg auch Linksextremisten, Islamisten und weitere politische Ultras vorstoßen. Und langfristigen Schaden anrichten.
Ein Beispiel ist der Fall der beiden Lehrer, die im April 2023 in der brandenburgischen Kleinstadt Burg Hakenkreuzschmierereien, Hitlergrüße und weitere rechtsextreme Vorfälle an ihrer Schule in einem Brandbrief publik machten. „Wir wenden uns an die Öffentlichkeit, da wir in unserem Arbeitsalltag als Schulpersonal täglich mit Rechtsextremismus, Sexismus und Homophobie konfrontiert werden und nicht mehr länger den Mund halten wollen“, schrieben Max Teske und Laura Nickel. Die Resonanz in den Medien war enorm, es gab auch eine kleine Demonstration vor dem Schulamt im nahen Cottbus. Doch in Burg selbst kam es für die couragierten Lehrer noch schlimmer. Eltern von Schülern verlangten die Entlassung der Pädagogen, ein Teil des Lehrerkollegiums grüßte die beiden nicht mehr. An Laternenpfählen wurden Aufkleber angebracht mit Fotos von Teske und Nickel und der Hassparole „Pisst euch nach Berlin“. Die Anfeindungen machten den Alltag für die Lehrer unerträglich. Sie kündigten an, die Schule in Burg zu verlassen. Ein Sieg für die Rechtsextremisten. Eine Niederlage für die Demokratie.
Verfestigte Milieus
Der Fall ist symptomatisch für Landstriche, nicht nur in Brandenburg, in denen sich über Jahrzehnte hinweg rechtsextreme Milieus verfestigt haben. Waren früher NPD und DVU die Speerspitzen, ist es heute die AfD. Wer sich dagegen wehrt, lebt gefährlich. Die Rechtsextremisten profitierten im Fall Burg auch vom mangelnden Engagement der Landesregierung. Anstatt nach Burg zu eilen und sich demonstrativ hinter Teske und Nickel zu stellen, beließ es Ministerpräsident Dietmar Woidke bei starken Sprüchen. Die Lehrer seien „Menschen, die Mut bewiesen haben“, sie verdienten „unsere uneingeschränkte Unterstützung“. Genau die war jedoch viel zu schwach.
Teske und Nickel müssen vermutlich sogar froh sein, dass die psychische Gewalt, die sie erlebt haben, nicht umschlug in körperliche Attacken. Rechtsextreme Angriffe, bei denen Menschen verletzt oder auch getötet wurden, sind deutschlandweit ein grauenhaftes Phänomen. Dessen Dimension allerdings bis heute kaum wahrgenommen wird. Seit der Wiedervereinigung sind bei rassistischen und sonstigen rechtsextremen Attacken mehr als 180 Menschen ums Leben gekommen. Das ergeben jahrelange Recherchen des Tagesspiegels. Die offiziellen Zahlen sind deutlich geringer, trotz einiger Korrekturen und Nachmeldungen. Das ist aber nur ein Teil des Dramas. Weit mehr als 10 000 Menschen wurden seit 1990 durch rechte Gewalt körperlich verletzt. Das lässt sich Statistiken der Polizei entnehmen. Doch die gesellschaftliche Wahrnehmung dieser nicht enden wollenden Tragödie ist bescheiden.
Niemand weiß, wie die mehr als 10 000 Opfer die physischen und psychischen Folgen der Verletzungen überstanden haben. Bekannt sind nur Einzelfälle. Ein dünnes Netz zivilgesellschaftlicher Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt befasst sich vor allem mit akuten Vorfällen. Die wenigen Aktivistinnen und Aktivisten sind damit voll ausgelastet. Für ein bundesweites Monitoring der humanitären Dimension rechter Gewalt seit der Wiedervereinigung reichen die Kapazitäten und offenbar auch der zivilgesellschaftliche Druck nicht. Nötig wäre es, wie eine exemplarische Langzeitstudie zeigt, die der Autor dieser Zeilen seit 1997 für den Tagesspiegel schreibt.
Im September 1996 schlug im brandenburgischen Trebbin ein Skinhead mit seiner Baseballkeule den Italiener Orazio Giamblanco beinahe tot. Giamblanco ist seit der Tat schwer behindert. Der heute 82-Jährige in Bielefeld lebende Mann leidet unter spastischer Lähmung, Kopfschmerzen, Sprachstörungen, Depressionen und weiteren Beschwerden. Giamblancos Lebensgefährtin Angelica Stavropolou und deren Tochter Efthimia Berdes pflegen ihn, buchstäblich bis zum Umfallen. Beide Frauen leiden an Depressionen, geben aber nicht auf. Sie trotzen auch den Widrigkeiten im Umgang mit Behörden, Krankenkassen und missgünstigen Mitbürgern. Der Tagesspiegel schildert seit dem ersten Besuch bei Giamblanco und den beiden Frauen jedes Jahr in einer Reportage, wie es ihnen geht. Viele Leserinnen und Leser reagieren mit Spenden, um das Leid ein wenig zu lindern. Dennoch bleiben Fragen offen: Wie vielen Opfern rechter Angriffe geht es ähnlich schlecht wie Orazio Giamblanco? Wie viele Menschen haben seit 1990 in Deutschland vergleichbare Verletzungen erlitten? Wie viele körperlich geschädigte und vermutlich für lange Zeit traumatisierte Menschen bekommen angemessene Hilfe? Und: wie viele nicht?
Beachtlicher Empathiemangel
Die Bundesrepublik leistet sich einen beachtlichen Mangel an Empathie beim Umgang mit Opfern rechtsextremer Gewalt. Das begünstigt die Versuche der AfD, Rechtsextremismus zu verharmlosen und sich selbst als angeblich menschenfreundliche Partei zu präsentieren. Viele Wählerinnen und Wähler scheinen das zu glauben. Sie ignorieren selbst die faktensatten Warnungen des Verfassungsschutzes. Es reicht offenkundig auch nicht, dass die demokratischen Parteien eine „Brandmauer“ zur AfD beschwören. Zumal die Abgrenzung punktuell bröckelt, nicht nur bei der CDU.
Wohin das führt, dürfte sich in diesem Jahr bei der Wahl zum Europaparlament, bei den Kommunalwahlen in neun Ländern und den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg zeigen. Am Ende von 2024 wird zu bilanzieren sein, wie verletzlich die Demokratie der Bundesrepublik 75 Jahre nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes geworden ist. Oder wie resilient sie trotz Schrammen noch immer ist.
Frank Jansen
Frank Jansen ist Reporter beim "Tagesspiegel" in Berlin, wo er schwerpunktmäßig unter anderem zum Thema Rechtsextremismus arbeitet. Für seine Arbeit wurde er mehrfach mit bedeutenden Journalistenpreisen ausgezeichnet.