Wunderbare Welt der Dinge

Über 23 Keramikgänse und ihre religiöse Relevanz
Foto: Christian Lademann

In der vergangenen Woche haben wir ein Leben halbiert. Unzählige Schatullen, Vasen in allen Variationen, Engelchen aus Pappe, Fotoalben und sogar die kleine Dose mit meinen Milchzähnchen kam zum Vorschein. Alles, was meine Mutter in 62 Jahren Leben angesammelt hat, haben wir nochmal in der Hand gehabt und sie hat entschieden, ob es mitkommen soll. Nach vielen Jahrzehnten in derselben Hannoveraner Straße haben wir vor einigen Wochen entschieden, dass es nun an der Zeit ist. Ein Umzug ins Betreute Wohnen zu mir nach Kassel. In ihrem Alter ist sie dort das Küken und doch ist sie eben sehr viel kränker als manch einer ihrer neuen Nachbarn. 

Etwa die Hälfte ihrer Dinge konnte mit in die neuen vier Wände. Da heißt es sorgsam auswählen. Etwa bei der 23. Keramikgans, die mit nach Kassel umziehen sollte, habe ich mal vorsichtig angefragt, ob sie sich heimlich noch eine Zweitwohnung angemietet hat. Aber es zeigte sich, dass ich gegen Keramikgänse völlig machtlos war. Selbst mein Versuch das 1m große Holzrentier mit dem roten Schal klammheimlich zu den Entrümpelungsdingen zu stellen blieb nicht unentdeckt. Erst in diesen Tagen ist mir klar geworden, dass Dinge im wahrsten Sinne des Wortes lebensnotwendig sein können. Ich versuchte keinen krummen Dinger mehr mit Holzrentieren zu drehen, sondern ließ das Umzugsunternehmen alle Sachen, die als wertvoll erachtet wurden mitzukommen, in Kisten verpacken. 

Meine Heiligtümer

In Kassel ging es dann ans Auspacken. In Kürze sah die kleine Wohnung aus wie ein Indoor-Flohmarkt und als die letzte Kiste ausgeräumt war, verabschiedete ich mich mit dem Versprechen, ihr noch einen weiteren Schrank zu besorgen. Als ich am nächsten Tag wieder in die Wohnung kam, standen zwei Kisten wieder mitten im Raum und die dritte offen. Gerade legte sie eine Keramikgans hinein. Was sie da macht, fragte ich sie. „Ich sortiere aus, was ich nicht brauche“, sagte sie. Ob ich die Dinge bei mir im Keller aufbewahren sollte, fragte ich. „Nein, die können weg.“ Und wir lachten. Ich habe ihr nicht gesagt, dass sie mal vorher hätte auf mich hören können. Denn mir war völlig klar geworden, dass die Trennung von 21 der 23 Keramikgänsen erst hier möglich war. 

In den vergangenen Tagen ist sie mir nachgegangen, diese Bedeutsamkeit der Dinge. Ich habe mich dabei ertappt, wie ich selber mal den Blick durch meine Wohnung schweifen ließ und Ausschau hielt nach meinen Heiligtümern, die ich nicht stehenlassen würde. Das kleine Puppengeschirr in der Vitrine ist es, eine ganze Reihe von Büchern und, um ehrlich zu sein mein riesiger Gründerzeit-Schreibtisch, der wohl im Zweifelsfall ein größeres logistisches Problem darstellen würde als ein paar Keramikgänse. 

Versöhnung mit dem Rentier

In ihrer Studie „Transfigurationen“ hat Inken Mädler die religiöse Relevanz von materiellen Gegenständen erforscht, an denen das Herz hängt. In einer Reihe qualitativer Interviews lässt sie Menschen von den bedeutsamen Gegenständen in ihren Wohnungen erzählen und beschreibt, dass diese Gegenstände eine religiöse Relevanz haben. Diese religiöse Relevanz gründet sich nicht in tradierten Sinnzuschreibungen, sondern in individuellen Aneignungsprozessen. Es ist die Art, wie wir mit diesen Gegenständen leben, ihnen ihre Plätze zuweisen, sie von Zeit zu Zeit hervorholen, die ihnen diese Bedeutsamkeit verleiht. Vorgestern habe ich das Buch von Mädler mal wieder aus dem Schrank geholt und etwas darin geblättert. Seitdem bin ich sogar mit dem 1m großen Holzrentier mit rotem Schal versöhnt, das natürlich nicht in eine der Kisten des 2. Abschieds gewandert ist. 

Mittlerweile hat alles seinen Ort in der neuen Wohnung meiner Mutter. Neben meinem Freund dem Rentier mussten die beiden Balkonfrösche bleiben, Uropas alte Schrankuhr, der bunte Brillenfisch, natürlich die kleine Schale mit meinen Milchzähnchen und andere Dinge. Wenn ich zwischen diesen Dingen sitze, scheint es mir fast so, als würden diese Dinge das Leben meiner Mutter zusammenhalten. Lebensnotwendig eben. Ein echter Neuanfang ist das jetzt in der neuen Stadt. Aber es ist eben auch ein Schritt näher heran ans Sterben. Das war eben auch ein Teil des Abschieds von den Dingen. 

Für Samstag haben wir den ersten Ausflug geplant. In der Nähe des Wohnstifts ist das Museum für Sepulkralkultur. Den Weg schafft sie mit ihrem Rollator. Eine Ausstellung mit Fotografien von Tina Ruisinger gibt es dort zu sehen. 50 Bilder zeigen menschliche Asche sowie darin beinhaltete Implantate wie Herzschrittmacher oder künstliche Gelenke. Auch mit in die Kremation gegebene Beigaben wie Brille, Taschenmesser oder Golfschläger haben das Interesse der Künstlerin geweckt. Die Ausstellung trägt den Titel: „Was vom Ende bleibt“. In der Dauerausstellung des Museums seht ein Wandschrank, den man mit zwei Handgriffen zu einem Sarg umbauen kann, erzählte ich meiner Mutter. „So einen hätte ich auch gern, aber ich habe ja keinen Platz“, sagte sie und lachte. 

 

 

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Foto: Christian Lademann

Katharina Scholl

Dr. Katharina Scholl ist Studienleiterin am Evangelischen Studienseminar Hofgeismar. Zuvor war sie Gemeindepfarrerin in Hanau-Großauheim.


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