Bewährungsfeld der Freiheit
Was hat die Freiheit des Evangeliums mit der Freiheit der evangelischen Publizistik zu tun? Ulrich H.J. Körtner, Professor für Systematische Theologie an der Universität Wien, sprach anlässlich der Tagung „Evangelische Publizistik – wohin?“, die bis gestern in der Evangelischen Akademie Tutzing stattfand. Hier eine gekürzte Fassung seines dortigen Vortrags.
Welche Rolle spielt das Evangelium der Freiheit für den Umgang der Kirchen mit modernen Massenmedien? Vordergründig könnte man meinen, die in Rede stehende Sache verhalte sich ganz einfach: Das Evangelium ist eine Freiheitsbotschaft, die Kirche hat den Auftrag, diese Botschaft der Freiheit zu verbreiten. Folglich geht es darum, welche Medien zur Erfüllung dieser Aufgabe besonders geeignet sind, ob sich diese Aufgabe in allen zur Verfügung stehenden Medien gleich gut oder schlecht erfüllen lässt. Darüber hinaus stellt sich aber auch die Frage, welche Implikationen und Konsequenzen das Evangelium der Freiheit für die Grundrechte der Gewissens- und Religionsfreiheit, der Meinungsfreiheit und der Pressefreiheit hat und wie es die Kirchen selbst mit diesen Grundrechten halten.
The medium is the message
Die Dinge liegen aber komplizierter, weil eine Botschaft für ihre Verbreitung nicht nur auf Kommunikationsmedien angewiesen, sondern selbst bereits ein Medium ist. Kommunikation des Evangeliums, wie man heutzutage in kirchlichen und theologischen Kreisen unter Verwendung einer Formel des evangelische Theologen Ernst Lange (1927–1974) gern sagt, ist stets ein Vorgang zweiter oder dritter Ordnung. Das, was das Evangelium – wörtlich die gute Nachricht – vermittelt, gibt es nirgends in Reinkultur, sondern von Beginn des Christentums an immer nur als bereits ausgelegte Botschaft, die selbst schon ein Medium ist, das seinerseits der medialen Vermittlung bedarf, um raum- und zeitübergreifend geteilt – also kommuniziert – zu werden.
Freiheit ist der Inhalt oder der Gegenstand des Evangeliums ist: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit“, schreibt der Apostel Paulus im Galaterbrief (Galater 5,1). Das Evangelium- wörtlich: die gute Nachricht – ist aber keine Information im Sinne einer Tatsachenbehauptung verbreitet, die man einem Faktencheck unterziehen und über deren Richtigkeit oder Falschheit man argumentativ streiten kann. Als Kommunikationsmedium ist das Evangelium in geweisser Weise zugleich die Botschaft: The medium is the message, wie sich mit dem Kommunikationstheoretiker Marshall McLuhan (1911–1980) sagen lässt. Die Kommunikation dieser Botschaft ist nach christlicher Überzeugung auch deren Realisierung. Sie informiert nicht über Freiheit, sondern spricht Freiheit zu, und im Akt ihrer Rezeption – das neutestamentliche Wort dafür ist Glaube (pistis) – wird diese Freiheit realisiert. Wo Kommunikation des Evangeliums im christlichen Sinne gelingt, sind Form und Inhalt kongenial. Wenn das stimmt, kann der Inhalt allerdings nicht in beliebigen Formen auftreten, sondern nur in solchen, die dem Inhalt – der zugesagten und im Glauben realisierten Freiheit – entspricht. Insofern kann man mit einem Begriff des Philosophen Ernst Tugendhat, den der evangelische Theologe Wolfgang Huber produktiv weitergedacht hat, die vom Evangelium zugesprochene und in der Kommunikation des Evangeliums realisierte Freiheit als kommunikative Freiheit bezeichnen.
Kirchen als Mediennutzer
Was aber bedeutet das für den Umgang der Kirchen mit den modernen Massenmedien und was für die evangelische Publizistik, die sich laut Satzung des Gemeinschaftswerkes Evangelischer Publizistik als „eine Funktion der Kirche“ begreift? Die Kirchen treten einerseits als Mediennutzer, nämlich als Produzenten, andererseits aber auch als Konsumenten auf. Nicht nur, dass die einzelnen Christenmenschen Massenmedien konsumieren, auch die Kirchen nutzen sie als Informationsquellen. Sie setzen Medien zur Verbreitung ihrer Inhalte und Anliegen ein, sie nutzen sie aber auch zur Selbstbeobachtung, etwa durch tägliche Pressespiegel, die von ihren Medienabteilungen erstellt werden. Kirchen und diakonische Werke haben ihre eigenen Pressesprecher und Nachrichtenagenturen, nämlich den Evangelischen Pressedienst mit seinen regionalen Landesdiensten. Daneben besteht der nicht von den Landeskirchen, sondern von einem Verein getragene evangelische Nachrichtendienst IDEA, der neben seinem Pressedienst und seinen Printmedien auch ein täglich auf Bibel TV im Fernsehen ausgestrahltes Nachrichtenmagazin produziert. Erwähnt sei auch das christliche Medienmagazin Pro. Auch sonst gibt es eine Fülle von christlichen Medienauftritten jenseits der Medien der Landeskirchen und der EKD. Die Kirchen sind aber nicht nur Mediennutzer, sondern auch Medieninhaber. Man denke an Kirchenzeitungen oder eine Beilage wie Chrismon, an Rundfunksender wie Radio Paradiso, an Medienportale wie evangelisch.de, an kircheneigene Verlage oder an das schon erwähnte Gemeinschaftswerk Evangelischer Publizistik.
Kommunikation des Evangeliums findet in Formaten statt, die man im engeren oder weiteren Sinne als Verkündigungssendungen bezeichnen kann, also in Rundfunk- und Fernsehgottesdiensten, im Wort zum Sonntag auf ARD, in täglichen Morgenbetrachtungen im Rundfunk. Zu unterscheiden ist nochmals zwischen Sendungen, die die Kirchen in redaktioneller Eigenverantwortung produzieren, und solchen, die von einer Religionsabteilung eines öffentlich-rechtlichen Senders produziert werden. Im österreichischen Fernsehen gibt es zum Beispiel eine Sendereihe „Was ich glaube“, in der Vertreter nicht nur der Kirchen, sondern auch von anderen Religionsgemeinschaften zu religiösen Themen interviewt werden. Selbstverständlich gibt es auch immer noch Kommunikation des Evangeliums in den herkömmlichen Printmedien, sei es die Produktion von Literatur mit religiösem Inhalt, sei es der Abdruck einer Andacht in der wöchentlich erscheinenden Kirchenzeitung oder sei es der lokale Gemeindebrief.
Freiheit, Gesetz und Gesetzlichkeit
Die theologische Grundsatzfrage lautet, welche Rolle das Evangelium als Botschaft der Freiheit und Christus als das Medium der von Gott gestifteten Freiheit sowohl als Inhalt wie auch als Kriterium für die Medienarbeit der Kirchen spielen und inwiefern die Kommunikation des Evangeliums eine spezifische Medienkultur begründet. Anders gefragt: Inwiefern wird das Evangelium der Freiheit, nämlich das Evangelium von Jesus als dem Christus, tatsächlich als Evangelium und nicht als Gesetz der Freiheit kommuniziert und vernehmbar?
Theologisch gesprochen hängt das Evangelium ohne das Gesetz Gottes allerdings in der Luft. Der Zuspruch der freien Gnade Gottes ist nicht vom Anspruch Gottes zu trennen, wohl aber zu unterscheiden. Andernfalls besteht die Gefahr der Moralisierung des Evangeliums, also zur Reduktion des Glaubens auf Moral und Ethik und zur missbräuchlichen Verwendung von Moral, um komplexe gesellschaftliche und politische Abwägungsfragen in unzulässiger Weise zu vereindeutigen. Das kann man als eine neue Form der Gesetzlichkeit bezeichnen.
Nicht, dass sich die evangelische Kirche nicht zu Themen wie dem Klimaschutz, der Flüchtlings- und Migrationspolitik oder zum Thema Diversität und Geschlechteridentitäten äußern sollte. Doch stellt sich die Frage, was sie zu alldem zu sagen hat, was nicht andere Organisationen genauso sagen können.
Dezidiert theologische Begründungen sollten weder auf stereotype Formeln reduziert, noch beschwiegen werden, wie es sich leider immer wieder beobachten lässt. Auch wenn die jüngste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung zeigt, dass viele Mitglieder durchaus Stellungnahmen der Kirche im politischen Raum gutheißen und auch nicht wegen politischer Statements aus der Kirche austreten. Ohne fundierte Rückbindung an das biblische Evangelium bieten ethische und politische Statements auf die Dauer keine ausreichende Motivation, um die vielen Austrittswilligen, die mit Religion im engeren Sinne – von dezidiert christlichen Glaubensinhalten zu schweigen – nichts mehr im Sinn haben, vom Austritt abzuhalten.
Freiheit und Rechtfertigung
Das Evangelium der Freiheit ist, traditionell gesprochen, die Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders allein durch den Glauben, allein aus Gnade und allein um Christi willen. Die Rede vom sich selbst und den Menschen rechtfertigenden Gott ist Rede vom Handeln Gottes am Menschen und der Welt. Sie eröffnet ein spezifisch theologisches Verständnis von Freiheit, welche die Grundbedingung allen Handelns ist. Als Handlungstheorie kann eine in der Rechtfertigungslehre begründete theologische Ethik nur insofern gelten, als mit dem Handlungsbegriff auch das vorgängige Verständnis von Ethik der Kritik unterzogen wird. Es zeigt sich dann, dass die Ethik der Rechtfertigungslehre nicht so sehr eine solche des Tuns als vielmehr des Lassens ist.
Plakativ lautet das Motto einer an der Rechtfertigungslehre gewonnenen Ethik des Sein-Lassens in Umkehrung des Satzes aus Jak 1,22: „Seid aber Hörer des Wortes und nicht Täter allein, wodurch ihr euch selbst betrügt!“ Das Evangelium als Rede vom Handeln des rechtfertigenden Gottes beschreibt den Menschen, und zwar gerade den zum Handeln aufgerufenen, als rezeptives Geschöpf Gottes, das sein Leben wie Gottes Gnade nur von Gott allein empfangen kann. Die Lebensform aber, in der die Rezeptivität des Menschen ausdrücklich wird, ist das Hören. Der gläubige Mensch ist ganz Ohr. Das Hören des Wortes Gottes ist allerdings ebenso wenig gegen das menschliche Tun auszuspielen wie umgekehrt das Tun gegen das Hören, doch liegt nach biblischer Auffassung ein eindeutiges Gefälle vom Hören zum Tun vor, so dass dem Hören theologisch der Primat zukommt.
Inhalt und Kriterium
Das Evangelium der Freiheit soll nicht nur Inhalt, sondern auch Maßstab öffentlicher Kommunikation der Kirchen und ihres Umgangs mit Massenmedien sein. Dabei geht es nicht nur allein darum, sich etwa gegen die Verbreitung von Hass und gegen die öffentliche Demütigung von Menschen und Menschengruppen in den Medien zu engagieren. Wie es um die Botschaft von der Rechtfertigung allein aus Gnade und allein durch den Glauben in den Kirchen steht, zeigt sich auch daran, wie sie in der Öffentlichkeit mit eigenen Fehlern, Unzulänglichkeiten und schweren Versäumnissen umgehen.
Aufgebrochen ist diese Frage zum Beispiel im Fall von Präses Kurschus, der im Zusammenhang mit den gegen sie erhobenen Vorwürfen begangenen Kommunikationsfehlern und den Umständen ihres Rücktritts von allen kirchlichen Ämtern. Es ist hier nicht der Ort, die Vorgänge im Einzelnen zu analysieren. Als Beobachter fragt man sich aber schon, wie ernst die Kirche die von ihr verkündigte Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders nimmt, wie ein christlicher Umgang mit Schuld und Vergebung auch in der medialen Kommunikation erlebbar wird, ohne dass etwa die Opfer sexualisierter Gewalt ein zweites Mal viktimisiert werden.
Institution der Freiheit
Ist das Evangelium die Botschaft von der Freiheit der Kinder Gottes, gilt es zu prüfen, inwiefern auch die Kirche eine Institution eben dieser Freiheit – verstanden als kommunikative Freiheit – ist.
Mit der emphatischen Rede von der evangelischen Kirche als Kirche der Freiheit und der viel zitierten, aber auch strapazierten Formel Robert Geisendörfers, die Freiheit und Professionalität als die Grundprinzipien evangelischer Publizistik nennt,[1] ist diese Frage ja noch nicht beantwortet, sondern allererst aufgeworfen. Besteht nach reformatorischer Tradition ein innerer Zusammenhang von Rechtfertigung und Freiheit, stellt sich ganz grundsätzlich die Frage, welche Institutionen kommunikative Freiheit ermöglichen und fördern oder aber verhindern und zugleich – im Sinne ihrer Selbstbegrenzung – die Unverfügbarkeit des Menschen und seiner Würde achten, für die der biblische Begriff der Gottebenbildlichkeit steht. Sie richtet sich insbesondere an die Kirchen, an Diakonie und Caritas mit ihren Einrichtungen, aber auch an die kirchlichen Medien und ihre Organisationen.
Wie freiheitsfördernd oder freiheitshemmend kirchliche Medien sind, zeigt sich konkret in ihrer Praxis der Presse- und Meinungsfreiheit, der journalistischen Sorgfaltspflicht, aber auch den Freiräumen, die Redaktionen und Verlagen von den Kirchen eingeräumt werden. Evangelische Publizistik ist nicht mit kirchenamtlicher Pressearbeit zu verwechseln. Wie breit ist der Spielraum für divergierende Positionen? Wie weit finden Minderheitspositionen Gehör, die gegen den kirchlichen Mainstream stehen? In welchen Fällen besteht die Gefahr der Selbstzensur? Wie kritisch ist evangelische oder auch katholische Publizistik gegenüber der eigenen Kirche? Welches Maß an Kritik ertragen Kirchen aus den eigenen Reihen? Aber auch: Wo liegen Grenzen des Sagbaren, weil es zum Evangelium der Freiheit im offenen Widerspruch steht? Wie werden solche Grenzen ausgehandelt und von wem? Last but not least: Was ist der Kirche der Freiheit eine kritische evangelische Publizistik auch in ökonomischer Hinsicht wert? Was die kircheneigene Ausbildung angehender Journalistinnen und Journalisten?
Eine eigenständige evangelische Publizistik, die nicht mit den kirchenamtlichen Pressestellen zu verwechseln ist, sondern auch gegenüber der Kirche eine kritische Funktion ausübt, ist nach meinem Dafürhalten eine innere Konsequenz des Evangeliums der Freiheit. Dieses ist das Medium der Freiheit schlechthin. Wie in der modernen demokratischen Gesellschaft, wo man von den (Qualitäts-)Medien als vierter Gewalt spricht, spielt meines Erachtens die evangelische Publizistik in der Kirche eine vergleichbare Rolle. Sie stärkt im besten Fall das Priestertum aller Getauften, wenn sie die eigenständige Meinungsbildung der Kirchenmitglieder über Entwicklungen und Themen in Kirche und Gesellschaft fördert, zugleich aber auch eine unverzichtbare Aufgabe für die zunehmend säkulare Gesellschaft erfüllt, in der es zunehmend an soliden Kenntnissen über Religion, Christentum und Kirche mangelt – übrigens auch unter Journalistinnen und Journalisten.
Evangelische Tugenden in der Medienarbeit
Grundlegende Tugenden einer vom Evangelium der Freiheit geleiteten Medienarbeit sind Wahrheitsliebe, Kritikfähigkeit und Freimut. Zur Wahrheitsliebe möchte ich nur Paulus aus dem Hohelied der Liebe in 1. Korinther 13 zitieren: Die Liebe freut sich nicht an der Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit“ (1.Korinther 13,6). Auch zur Kritikfähigkeit sei auf Paulus verwiesen: „Prüft alles, und das Gute behaltet“ (1.Thessalonicher 5,21). Der 1. Johannesbrief fordert dazu auf, die Geister zu prüfen, ob sie von Gott sind oder nicht (vergleiche 1.Johannes 4,1).
Schließlich der Freimut, die parrēsia, wie es im Griechischen heißt. Das Wort findet sich 31mal im Neuen Testament, davon allein neunmal im Johannesevangelium und viermal im 1. Johannesbrief, sowie neunmal in der Apostelgeschichte. Die vormals ängstlichen Jünger finden zu Pfingsten den Mut in aller Freiheit und Unerschrockenheit das Evangelium von Jesus Christus zu verkündigen (vgl. Apostelgeschichte 2,29; 4,13 und öfter). Das griechische Wort setzt sich aus pan („alles“) und rhēsis („Rede“) zusammen und bezeichnet wörtlich „die Freiheit, alles zu sagen […], und von daher die Freimütigkeit und Offenheit der Rede“[2].
Im Griechischen findet sich die Wortgruppe vor allem im politischen Schrifttum. Gemeint ist die Redefreiheit in der attischen Demokratie, die freilich nur für die freien Bürger galt, nicht für die Sklaven. Wenn diese sich das Wort herausnahmen, galt dies als aufrührerische Dreistigkeit. In der christlichen Gemeinde, in der die sozialen Unterschiede zwischen Sklaven und Freien, Mann und Frau, Juden und Nichtjuden aufgehoben sind (vergleiche Galater 3,28), dürfen auch die Sklaven das Wort ergreifen. Der Mut zur freien Rede kommt aus dem Glauben. Er ist eine Wirkung des göttlichen Geistes. Solcher Mut, solche Unerschrockenheit ist für evangelische Publizistik unerlässlich, auch gegenüber der eigenen Kirchenleitung.
Die evangelische Publizistik befindet sich im Umbruch. Für eine Kirche, die sich als Kirche der Freiheit versteht, ist und bleibt sie ein Bewährungsfeld für ihr Verständnis kommunikativer Freiheit, das im Evangelium der Freiheit gründet und sich in seiner Kommunikation realisiert.
Im Vorfeld der Tagung ist im Wartburg Verlag das Buch „Evangelische Publizistik – wohin?“ (Hg. Reinhard Mawick und Willi Wild) entstanden (erscheint am 12. März 2024)
In diesem Jahr werden die Vorträge und Diskussionen der Tagung im Fachdienst „EPD-Dokumentation“ erscheinen.
Ulrich H. J. Körtner
Dr. Ulrich Körtner ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Wien.