Den Spiegel vorgehalten

Sonntagspredigt
Foto: privat

Die Gedanken zu den Sonntagspredigten für die nächsten Wochen stammen von Anne-Kathrin Kruse. Sie ist Dekanin i.R. in Berlin.

Religion ohne Opfer

Sonntag Judika, 17. März

Da rief ihn der Engel des Herrn vom Himmel und sprach: Abraham! Abraham! Er antwortete: Hier bin ich. Er sprach: Lege deine Hand nicht an den Knaben und tu ihm nichts; denn nun weiß ich, dass du Gott fürchtest und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont um meinetwillen. (1. Mose 22,11–12)

Auf Gottes Geheiß bricht Abraham zum Berg Moria auf, um seinen Sohn Isaak zu opfern. Aber das verhindert ein Engel Gottes im letzten Moment. Christlicherseits wurde diese dramatische, beklemmende Erzählung „Opferung Isaaks“ genannt. Schon im Neuen Testament war sie im Blick auf das Leiden und Sterben Jesu als „Opfer“ passend gemacht worden (siehe Hebräerbrief 11,17–19). Dabei ist die Pointe der alttestamentlichen Erzählung, dass Isaak gerade nicht geopfert wird. Eher spiegelt sich zum Beispiel in der Erzählung von Jesus im Garten Gethsemane etwas von der Versuchung oder Prüfung, in die Gott Abraham führt.

Nachdem Abraham schon sein Land, sein Elternhaus und damit seine Vergangenheit hinter sich lassen musste, soll er nun auch noch sein Liebstes dahingeben, den lang ersehnten Sohn und mit ihm nicht nur die eigene Zukunft, sondern auch die seines Volkes Israel. Was ist das für ein Gott? Ist es einer, der sich an seine Verheißungen hält und die Menschen, die mit ihm aufbrechen, schützt und ihnen Zukunft schenkt? Oder hat Gott Spaß daran, die zu zerstören, die ihm vertrauen?

Der Hintergrund ist eine Welt, in der eigene Interessen notfalls auf Kosten des Lebens anderer durchgesetzt und Opfer, auch Kinderopfer, achselzuckend in Kauf genommen werden. Und das ist bis heute der Fall. Warum spielt Abraham dieses Spiel mit? Eine Versuchung ist eine Krise, in der alles durcheinandergerät und zur Fratze wird, was bisher Halt, Perspektive und Mut gegeben hat. Die Stimmen verwirren sich, werden nicht mehr unterscheidbar. Und welcher Stimme folgt Abraham? Der Gottheit Elohim (bis Vers 9), die unbedingten Gehorsam fordert, oder Adonaj (JHWH ab Vers 11), der seinen Verheißungen an Abraham treu bleibt und den Abraham als den Barmherzigen kennt?

Ich lese die Erzählung von Gottes großartigen Verheißungen vom Ende her und möchte sie so verstehen, dass Abraham Gott im unbedingten Vertrauen darauf gehorcht, dass dieser das böse Spiel selbst abbricht: In seinem Namen darf nie wieder ein Mensch geopfert werden. Und es bleibt die Vater-unser-Bitte: „Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.“

 

Auf den Knien 

Palmsonntag, 24. März

Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz. Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist. (Philipper 2,8–9)

Am Palmsonntag versammeln sich jedes Jahr tausende Pilger auf dem Ölberg. Von dort ziehen sie mit Palmzweigen und unter Gesang und Gebet hinab in die Altstadt Jerusalems, in Richtung Grabeskirche. Steil bergab geht der Weg und zwingt in die Knie. So wie damals Jesus und seine Jünger samt einer kleinen Menge. Ein König auf einem Esel, der auf seinem kleinen Triumphzug unter Gesängen und Gelächter selbst ernannten römischen Herren zum Narren hielt. Vielleicht sangen die, die Jesus folgten und priesen, Psalmen wie der vom erhofften Messias Gottes. Der so ist, wie Gott ihn von an Anfang an gewollt hat, geschaffen nach seinem Ebenbild, aber eben ein Mensch und nicht Gott. Ob sie mit dogmatisch aufgeladenen Begriffen – wie dem „Gottessohn, der Mensch wird, der sich selbst entäußert“ – hätten etwas anfangen können? Auf jeden Fall hatten sie – für heutige Ohren ungewohnt – Erfahrung mit „Raub“ durch die römische Besatzung, mit „Versklavten“ und „Erniedrigten“ und mit dem „Namen, der über alle Namen ist“, dem des einen Gottes Israels. Für Verfolgte, Rechtlose, Menschen, die mit dem Rücken zur Wand stehen, ist der Messias die einzige Hoffnung auf Befreiung aus ihrem Elend. Dort hat Jesus seinen Platz, solidarisch mit seinem von den Römern versklavten Volk. Und so ist auch unser Platz bei denen, die hierzulande erniedrigt werden. 

Der Weg führt hinab, vorbei am Garten Gethsemane, wo Jesus mit Gott um Gehorsam ringt. Nicht vor den Mächtigen geht er in die Knie. Vielmehr kniet er vor denen nieder, die am Boden liegen. Jesus beendet die Anbetung der Mächtigen. Am Palmsonntag geraten die Pilger, die nach Jerusalem gekommen sind, in der Mittagshitze ins Schnaufen. Ihr Weg führt zur Grabeskirche, von den orthodoxen Christen Anastasis, „Auferstehung“ genannt. Jesus, der Messias, gekreuzigt, von den Römern, die Weltmeister im Kreuzigen sind, wird von Gott in der Auferstehung über alle imperialen Mächte erhöht. Aber der Grund für diese Erhöhung ist die tiefste Erniedrigung. Und angesichts dessen gehen nicht nur Pilger in die Knie.

 

Empathischer Gott

Karfreitag, 29. März 

Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut: Eli, Eli, lama asabtani? Das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? (Matthäus 27,46)

Deutschland, wo bleibt dein Mitgefühl?“, fragte der Direktor der Frankfurter „Bildungsstätte Anne Frank“ Meron Mendel nach dem unvorstellbar grausamen Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023. Statt einer Schweigeminute, statt spontaner Solidaritätsbekundungen oder Mahnwachen herrschte bleiernes Schweigen – und statt Mitgefühl vermeintliche Objektivität, ein „Ja, aber“, das die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft Deutschlands zur Komplizin machte. Wo blieb unsere Empathie, das Mitleiden mit den Opfern? Sich selbst zum Opfer zu erklären, obwohl alle Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, mag eine Rolle spielen. Aber kann uns der Karfreitag Empathie lehren?

Jesu letztes Wort am Kreuz ist die verzweifelte Warum-Frage aus Psalm 22, die ohne Antwort bleibt. Sie verbindet ihn mit all denen, die im Laufe der Geschichte sinnlos litten und ungetröstet und ohne dass ihnen Gerechtigkeit widerfuhr, starben. Jesus klagt Gott dafür an. Er bricht mit dem apathisch-lieben Gott derer, die mit fremdem Leid nur von der Zuschauerbank aus etwas zu tun haben wollen.

Wo bist Du, Gott, im Leiden? Er ist da in Jesus Christus, in seinem Leiden. „O große Not! Gott selbst liegt tot. Am Kreuz ist er gestorben; hat dadurch das Himmelreich uns aus Lieb erworben“, heißt es in einem Passionschoral aus dem 17. Jahrhundert. Gott will bei denen sein, die ganz unten sind. Dass er mitleidet, können wohl am ehesten diejenigen sehen, die eigene oder fremde Passionsgeschichten durchleiden.

In der Auferweckung Jesu Christi schafft Gott Gerechtigkeit, macht sich solidarisch. Das Kreuz Jesu hält uns einen Spiegel dessen vor, wozu Menschen fähig sind. Und es stellt uns die Frage, wie wir uns zu Opfern von Ausgrenzung und Gewalt verhalten. Gott, warum haben wir dich verlassen? Der Schrei nach Gerechtigkeit bleibt laut. Und Gott schreit mit.

Bewegter Gott

Ostersonntag, 31. März 

Er richtet den Bedürftigen aus dem Staub auf und hebt den Armen aus dem Müll, um ihn an die Seite von Fürsten zu setzen und den Thron der Ehre erben zu lassen. (1. Samuel 2,8)

Das vielleicht älteste Osterlied hat eine Frau gesungen, Hanna, die keine Kinder bekommen kann. Die mitleidigen Blicke sind für sie wie Gift. Und die scheinbar harmlosen Nachfragen, ob es immer noch nicht geklappt hat, wirken wie Salz in einer Wunde. 

Hanna fällt in eine tiefe Depression, der Lebensmut hat sie verlassen. Sie würde kein Kind bekommen. Niemals. Endgültig wie der Tod. Aber manchmal steht dem „Niemals“ ein trotziges „Vielleicht“ entgegen. Hanna steht jedenfalls auf, isst, trinkt und geht in den Tempel. Bitter klagt sie Gott ihr Leid, ringt mit ihm um den Funken Hoffnung, der sie leben lässt. Gott sieht, hört und lässt sich von ihrem Gebet bewegen. Und „Hanna“, die Begnadete, wird tatsächlich schwanger. Dann hält sie einen Jungen im Arm. „Samuel“ nennt sie ihn. Und das heißt auf Deutsch: „Gott ist ein Gott, der hört.“ 

Lange bevor Frauen sehen werden, dass der Stein vor dem Grab Jesu weggewälzt wurde, singt Hanna ein Osterlied – von ihrer Auferstehung gegen das „Niemals“. Wie sie „aus dem Staub gehoben wird und zu Ehren kommt“. Aber sie begnügt sich nicht mit ihrem privaten Glück, sondern singt ein Auferstehungslied, von dem Gott, der die kleinen Leute aufrichtet, ihnen den Rücken gerademacht, den Kopf hebt und den Mund öffnet. Hanna singt von Gerechtigkeit für die Armen, von der Würde der Gedemütigten, vom Scheitern der Feindschaft und vom Sieg der Liebe und von einer Hoffnung, die der Trauer ins Wort fällt.

Zu dieser Gerechtigkeit gehört auch Gottes Unbestechlichkeit: Denn denen, die Schwächeren das Leben zur Hölle machen, lässt Gott ihre Bosheit nicht durchgehen. An die Auferstehung glauben heißt, den falschen Tod nicht hinnehmen, der Menschen mitten in ihrem Leben trifft.

Allein das Wort

Quasimodogeniti, 7. April

Thomas sprach zu ihm: Mein Herr und mein Gott! Spricht Jesus zu ihm: Weil du mich gesehen hast, darum glaubst du? Selig sind, die nicht sehen und doch glauben! (Johannes 20,28–29)

In der evangelischen Sankt-Michaels-Kirche im nordwürttembergischen Schwäbisch Hall ist ein Epitaph des Kunstschreibers Thomas Schweicker zu sehen. Er hat es schon lange vor seinem Tod im Jahr 1662 angefertigt. Unglaublich ist die Kunstfertigkeit, mit der Schweicker Psalmen und Gebete in Form der drei Kreuze auf Golgatha anordnet. Dabei konnte er seine Kunstwerke nur mit den Füßen erstellen. Denn Schweicker war ohne Arme geboren worden. So verweist das Epitaph auch auf das wundersame Handeln Gottes, der Menschen mit Beeinträchtigungen ganz andere, unerwartete Fähigkeiten verleiht. „Gott ist wunderbar in seinen Werken“ (Psalm 139,14), schreibt der Künstler in einem kleinen Porträt. 

Das Epitaph krönt ein Gemälde, das die Szene zeigt, in der Jesus Thomas, Schweickers Namenspatron, gestattet, den Finger auf seine Wunden zu legen.

Ob Thomas das auch wirklich tut, wird nicht erzählt. Denn was dann passiert, ist nicht darstellbar. Man erfährt nur, dass Thomas sich zu Jesus, dem Auferstandenen, mit den Worten bekennt: „Mein Herr und mein Gott!“ 

Dass Jesus diejenigen seligpreist, „die nicht sehen und doch glauben“, verweist auf das Bilderverbot am Anfang der Zehn Gebote. Thomas Schweicker brauchte weder Bilder noch Wunder, um zu glauben. Er hielt sich einfach an den, der seinen Geschöpfen den Lebensatem einblies und sie damit zum Leben erweckte. Der nach der Erstarrung von Gewalt und Tod seinen Jüngern den Heiligen Geist einblies und sie an das erinnerte, was Jesus geredet hat.

Sehen können wir Gott nicht, aber auf sein Wort hören. Am Anfang war es – und es bleibt.

 

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