Was neue Lieder alles können

Beispiel Kirchentag – ein Plädoyer für aktuelles Liedgut
Gospelgottesdienst beim Berliner Kirchentag 2017, zu dem das Liederbuch „freiTöne“ veröffentlicht wurde.
Foto: epd
Gospelgottesdienst beim Berliner Kirchentag 2017, zu dem das Liederbuch „freiTöne“ veröffentlicht wurde.

Auch das so genannte Neue Geistliche Lied hat schon eine jahrzehntelange Geschichte. Der Theologe und Kirchenmusiker Jochen Arnold, Direktor des Zentrums für Gottesdienst und Kirchenmusik in Hildesheim, unternimmt einen Streifzug durch ein Genre, das besonders durch die Liederwerkstätten des Deutschen Evangelischen Kirchentags in diesem Jahrhundert bereichert wurde.

Leloleloleilo! August 2004. Der Kirchentag in Hannover 2005 steht vor der Tür und das Michaeliskloster Hildesheim ist gerade eröffnet worden. 40 ebenso begabte wie motivierte Texter:innen und Komponist:innen sind versammelt, um sich gegenseitig beim Liedermachen zu inspirieren. Oft sind die Texte zuerst da, aber auch Melodiefetzen oder neue Grooves schwirren durch die Luft. Das Motto lautet: „Wenn dein Kind dich morgen fragt …“.

Per Harling aus Schweden präsentiert zum Beispiel im Liederbuch freiTöne (fT), das 2017 anlässlich des Reformationsjubiläums erschien, ein Samba-Sanctus (Heilig, heilig, heilig) aus Puerto Rico (fT 157), und die Teilnehmer:innen tanzen durch das Auditorium. Kirche in Bewegung, ungeniert körperlich, sichtbar fröhlich. Ja, neue Lieder braucht das Land! Das aus biblischen Quellen gespeiste uralte „liturgische Stück“ erklingt in neuem Gewand, ein Highlight, das mich nun seit fast 20 Jahren begleitet. Eine gleichsam „vor-himmlische“ Perle: Inspirationsquelle für neue Gottesdienste, Hit für Bands und Chöre. Die Dreisprachigkeit (Spanisch – Englisch – Deutsch) ist Programm und verbindet uns mit der weltweiten Ökumene.

Auch ein anderes Lied gehört seither zu meinem Vademecum. Der Pastor und Journalist Jan von Lingen hatte im Liedermacher-Stil seine Erfahrungen in der Seelsorge mit Psalm 139 verarbeitet. Ein Gitarrenlied mit Sing-a-Song-Writer-Qualitäten. Du bist da, du bist da. Das dazugehörige Narrativ: Der Pastor hat einen Kapitän zur See auf seinem letzten Weg begleitet und dabei ein Wort neu entdeckt: „Nähme ich Flügel der Morgenröt und bliebe am äußersten Meer …“. Gottes schützende Hand ist überall, auch am äußersten Meer und darüber hinaus. Der Psalm bekommt so eine neue Bedeutung. Eine zweite gemeindenah-hymnische Melodie entsteht aus der Feder von Gert-Peter Münden. Sie wird einer der bleibenden „Hits“ des Kirchentags 2005 (fT 91).

Zwei Jahre später: der Kirchentag in Köln. Für die aufregende Abendmahlsliturgie entlang der Erzählung aus 1. Könige 19 – die Predigt kam erst nach der Abendmahlsfeier! – bleiben mir zwei Lieder besonders in Erinnerung: Steh auf und iss (Martin Hailer nach 1 Könige 19; Liederbuch WortLaute 29) – Schmecket und sehet (nach Psalm 34, jetzt fT 163). Zwei biblische Texte sind die Matrix.

Psalm- und Erzähllieder haben also noch nicht ausgedient. In vieler Hinsicht bleibt dieser riskante Gottesdienst ein Wagnis: Rockiger Sound begegnet klassischen Klängen von Schütz bis Mendelssohn mit teilweise harten Übergängen. Doch damit gelingt, was viele vorher nicht für möglich hielten: Bis dato war das Neue Geistliche Lied (NGL) „der Sound“ des Kirchentags; klassische Kirchenmusik, Gospel und Worship hatten wenig Platz daneben. Die folgenden Kirchentage zeigen: Kirchenmusikalische Vielfalt ist Programm! 

Schuld statt Sünde

Wie gehen wir mit den (theologischen) Schätzen der Tradition um? Während das eingangs erwähnte Sanctus aus Puerto Rico dem klassischen Text von Sanctus und Benedictus folgt, entsteht bei der Liederwerkstatt für den Bremer Kirchentag (2009) in Hildesheim ein neues „Lamm Gottes“. Ohne die Klippen der klassischen Sühnetheologie will das Lied von Ilona Schmitz-Jeromin und Susanne Brandt die Tiefen des Menschenseins in Leid und Schuld, Scham und Bedrängnis neu beschreiben und sie mit dem Bekenntnis zu Gottes großer Liebe in Christus verbinden: Christus, Antlitz Gottes ein Text, der übrigens auch auf die vertraute Melodie (EG 190.2) gesungen werden kann. Meine (zuerst vorliegende) B-Strophe bietet den klassischen Text der Messliturgie in einer leicht veränderten Form. Sünde ist durch Schuld ersetzt. Aber auch unverschuldetes Leid (vergleiche Psalm 22) und Heil sind es, die mit dem Kreuz Jesu verbunden sind. Damit ist die sündentheologische Engführung von Karfreitag und Abendmahl schon einmal geweitet. Außerdem entsteht zum neuen Text eine hymnische Melodie. Sie versucht das Unsagbare in Schmerz, Staunen und Dankbarkeit zu musikalisieren. Damit zeigt sich für mich: Eine sich im Geist des Evangeliums reformierende Kirche bewacht nicht den heiligen Gral, weder musikalisch noch sprachlich. Selbst dieses prominente Stück darf sich weiterentwickeln und findet so Eingang in viele neue Abendmahlsliturgien der Gemeinden (fT 151).

Zwei Lieder nehme ich sechs Jahre später aus Stuttgart mit: den singspruchartigen Ohrwurm von Eckert/Münden Ich bin bei euch – eine schlichte Wiederaufnahme des Taufbefehls aus Matthäus 28, zu singen während des Abendmahls, bei Segensgottesdiensten oder einfach im Alltag (fT 162). Aber auch Judy Baileys Klüger, weiser im locker schwingenden 6/8-Takt (fT 93). Dieser Song bringt das Motto des Kirchentags in die Köpfe und die Herzen mit der Bitte: „Gib mir dein Wort für mein Herz. Gib mir ein Herz für dein Wort!“ Weisheitliche Theologie in „leichter Gestalt“.

Für den Berliner Kirchentag 2017 entsteht dann erstmals ein Liederheft unter gemeinsamer Verantwortung von EKD und DEKT mit dem vielsagenden Titel freiTöne. Das Lied: Du bist ein Gott, der mich ansieht (fT 1) verbindet die mit dem Kirchentagsmotto verbundene biblische Geschichte der verstoßenen Magd Hagar und das Motiv des gnädig sehenden Gottes mit aktuellen politischen Themen. Zum Motiv Flucht entstehen darüber hi­naus weitere eindrückliche politische Texte, zum Beispiel von Lothar Veit: Verschachert, missbraucht, würdelos (Melodie: Thomas Quast; fT 173). Mit Peace Child der Poetin Shirley E. Murray findet ein gut singbares politisches Weihnachtslied vom anderen Ende der Erde Eingang in das Liederbuch (fT 175): Bomben und Gewalt werden nicht verschwiegen. Genau dort wird das Kind geboren. Und doch herrscht nicht ratlose Betroffenheit. In Hartmut Handts deutscher Übersetzung der letzten Strophe heißt es treffend: „Friedenskind, in die schlafende Nacht / und den Kampf um die Macht / komm nun. / Bring den Traum neu zur Welt, / der die Hoffnung erhält, / Gottes Schalom.“ Gerade in den letzten zwei Jahren – „getriggert“ durch die Kriege in der Ukraine und in Palästina – hat dieses hochrelevante Lied stark an Verbreitung gewonnen. Ich meine fast: Es hat Stille-Nacht-Qualität, weil es ausdrückt, dass Gott in Christus in das Elend der Welt wirklich eingeht, ohne sich darin völlig zu verlieren.

Die Schätze des erstmalig 200 Titel (und zahlreiche Andachten in unterschiedlichen Formen) umfassenden Liederbuchs lassen sich kaum in Kürze darstellen. Ein Akzent liegt auf dem Reformationsjubiläum. Dabei kommt sogar der lateinische Begriff für Rechtfertigung: Iustificatio (aus Dieter Falks Luther-Musical, fT 150) wieder ins Gespräch und in den Mund der Gemeinde. Neben das Reformations-Narrativ Hier stehe ich (Ute Passarge / Jochen Arnold; fT 144) tritt harsche Kritik an der eigenen Tradition: In Bernhard Königs Komposition Giftiger Keim (fT 143) begegnen sich Choralfetzen aus dem Lutherlied „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“ und Sprechgesang. Damit hält auch die Avantgarde Einzug. 

Pentatonik aus Myanmar

Ein ganz besonderer Schatz ist die an liturgischem Material reiche Weltmusik aus allen Kontinenten. Dazu gehören zum einen dezidiert mehrsprachige Lieder, was für internationale Konferenzen und City-Kirchen, aber auch angesichts größerer Migrationsgruppen sehr wertvoll ist. Aber auch ein musikalischer Reichtum tut sich auf, wenn man etwa nur einmal die unterschiedlichen Halleluja-Vertonungen unter die Lupe nimmt. Dann stehen neben einem eingängig schwungvollen Viertakter (Vorsänger – Alle) aus Namibia (fT 85) ein herbes „f-Moll-Halleluja“ aus Korea (fT 87) und ein meditativ pentatonisches aus Myanmar im 5/4-Takt (fT 67). Oft hängen daran persönliche Schicksale der Komponist:innen in Diktatur und Verbreitung (vergleiche fT 164 aus Kambodscha). Das Celtic Halleluja aus dem katholischen Kanada und ein auch als Kanon beziehungsweise Quodlibet funktionierendes Latino-Halleluja aus Sachsen (fT 74) schließen den Reigen der höchst unterschiedlichen Vertonungen. Letzteres lässt sich mit Strophe und Refrain übereinander singen.

Neben zahlreichen Kyrie-Vertonungen (unter anderem das ursprünglich Aramäische aus der syrischen Kirche, fT 52) spielen die durch einen Liederwettbewerb besonders ausgelobten Credolieder eine wichtige Rolle. Ich steh dazu, das glaube ich (fT 132) etwa klingt frisch, fromm und fröhlich zugleich. Daneben steht als neuer Klassiker (Melodie: Wir glauben Gott im höchsten Thron, EG 184) Gerhard Bauers Wir glauben: Gott ist in der Welt und das für den katholischen Weltjugendtag geschriebene Jesus Christ, You are my life von Marco Frisina, das gleich viersprachig angelegt ist. Unverzichtbarer Begleiter ist für mich Mothering God, das auf einen Text der Mystikerin Juliana von Norwich zurückgeht und in John Bells Melodie wunderbare expressiv weibliche Gottesbilder für die drei Personen der Trinität transportiert.

Zum Kirchentag gehört auch der Gedanke der Inklusion, etwa durch die Gebärdensprache in Vorträgen, aber auch in Liedern. Erstmals ist der Taizè-Hit Meine Hoffnung und meine Freude mit Gebärden bebildert. Die Arbeit an gendergerechter oder -sensibler Sprache manifestiert sich in Varianten zu männerdominierten Texten. In der allseits bekannten letzten Strophe von Der Mond ist aufgegangen wird anstelle von „So legt euch denn, ihr Brüder“ die Variante „So legt euch Schwestern, Brüder“ vorgeschlagen. Die Genderfrage betrifft für viele auch die Theologie im engeren Sinne, mithin das Gottesbild. Daher sind auch in klassischen Chorälen gendergerechte Varianten vorgeschlagen, bei denen im Blick auf Gott das Pronomen „er“ und „sie“ abgewechselt werden kann (zum Beispiel: Auf Seele, Gott zu loben, fT 66). Auch Lieder in Leichter Sprache gehören gleichsam zum neuen „Kanon“, so Gott sieht mich an (fT 123; 124) oder Gott hat mich gemacht (fT 97). Im Idealfall gelingt es dabei durchaus, große theologische Gedanken sogar poetisch anschaulich auszudrücken (Die ganze Welt kommt, Gott, von dir; fT 121).

Wichtig und unverzichtbar für die jüngere Kirchentags-Singbewegung ist die geistlich-spirituelle Vielfalt und Weite. So finden sich in den jüngeren Publikationen deutlich mehr Lieder aus dem „erwecklichen“ Frömmigkeitsspektrum – namentlich in der Stilistik des Worship. Konkret genannt seien Tobi Wörners Was Gnade kann (fT 57), der Tauflied-Klassiker Vergiss es nie (fT 61), Christoph Zehendners Vaterunser-Lied Bist zu uns wie ein Vater (fT 165) oder Albert Freys Christusbekenntnis Anker in der Zeit (fT 112). Englische Titel aus dem weltweiten Worship wie Lord I lift your name on high – eine knappe Zusammenfassung des Philipperhymnus (fT 88) – oder Lord, Reign in me (fT 65) – ein moderner Schöpfungshymnus – seien exemplarisch genannt.

Die vielfach geäußerte Vermutung, dass die großen christologischen Themen der Passion und Auferstehung in der Spiritualität des Kirchentages nur noch eine marginale Rolle spielten, lässt sich übrigens schon mit den hier genannten Titeln nicht erhärten. In diesem Zusammenhang zu nennen ist der 1960er-Jahre-Klassiker Lord of the dance (fT 110), der die Jesusgeschichte in der Ich-Form erzählt, oder wieder ganz anders Bonhoeffers Menschen gehen zu Gott (fT 104) mit neuer, gut singbarer Melodie (Der Text von Bonhoeffer ist minimal rhythmisch angeglichen – siehe Notensatz links)). Das Heilig-Geist-Lied Atme in uns aus Frankreich (fT 7) und das beschwingte Osterlied Wir stehen im Morgen (Jörg Zink/Hans-Jürgen Hufeisen, fT 95), das den Tod im Angesicht des leeren Grabes verspottet, haben es sogar auf Anhieb in die Reihe der EKD-Wochenlieder zu Pfingsten und Ostern geschafft. Diese Reichweite in das gemeindliche Singen hinein ist neben allem bis jetzt Genannten nicht hoch genug einzuschätzen.

Viel Aktuelles im Lied

Zuletzt – gut liturgisch – der Segen. Auch in diesem Bereich sind viele Lieder dazugekommen. Gut so, denn von diesem Genre kann man – das zeigt die Erfahrung der Corona-Zeit – gar nicht genug Lieder haben. Ich sehe, dass sich drei liturgische Formen in den Liedern herauskristallisieren: die Segensbitte, die Sendung und der tatsächliche Zuspruch. Als Bitte formuliert tritt Matthias Nagels Verleih uns Frieden (fT 190) neben Luthers Original (EG 429) und artikuliert spannungsreich Kyrie und Halleluja nebeneinander. Daneben stehen ähnlich gut singbar Weise uns den Weg, Gott geh mit (fT 200) oder das getragen-gefühlige Lass uns deine Nähe spürn (fT 193) von Timo Böcking. Als zunehmend populäres Sendungslied sei das von Hartmut Handt übersetzte Go gently, go lightly (fT 194 vgl. 175) mit tänzerischem Dreier genannt. Unter den tatsächlichen Segensliedern begleiten mich das von Ute Passarge und Rüdiger Glufke (Möge Gottes Angesicht auf dir verweilen fT 199) im Sound irischer Segenslieder, ein dreisprachiges aus Tansania (fT 198), und last, not least das meditative Der Herr segne dich, das direkt aus dem Hebräischen übersetzt wurde und sich in einer israelischen Melodie singen lässt (fT 201).

Aufs Ganze gesehen, gehört für mich die Sammlung, Erprobung und Verbreitung neuen Liedguts, wie sie exemplarisch durch den Kirchentag in den letzten Jahrzehnten geschehen ist, unverzichtbar zu einem wachen evangelischen Christentum dazu. Was theologisch diskutiert wird, was in der Welt aktuell ist, findet Eingang im Lied. Unverzichtbar sind dabei die immer stärker werdende Stimme aus der weltweiten Ökumene und der kreative poetisch-musikalische Beitrag von Seiten der Frauen. Kurz: Es gibt so viel Gutes und qualitativ Neues, was sicherlich auch im neuen Evangelischen Gesangbuch in einigen Jahren Platz finden wird und noch mehr davon im dazugehörigen Onlineportal, und die, die da eine Auswahl treffen müssen, sind nicht zu beneiden … (siehe https://zeitzeichen.net/node/10943)

Eine Auswahl der in diesem Text erwähnten Lieder hat Til von Dombois, Popkantor der Hannoverschen Landeskirche, in einem Video eingespielt. 

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