Die als Choräle bezeichneten christlichen Lieder sind teilweise Jahrhunderte alt und gelten allein deshalb vielen als rückständig und von gestern. Aber warum? Konrad Klek, Theologieprofessor und Universitätsmusikdirektor in Erlangen, zeigt ihr bleibend aktuelles, lebendiges Potenzial auf – auch und besonders im Bezug auf die Lieder des Reformators Martin Luther.
Was soll ich 500 Jahre alte Lieder singen?“ So oder ähnlich sind Einwände zu vernehmen gegen eine Retro-Perspektive beim Gesangbuchjubiläum. Singen ist doch eine der unmittelbarsten Ausdruckshandlungen der Menschen, wo das Ich sich so entäußert, wie ihm jetzt zumute ist! Können 500 Jahre alte Lieder da dienlich sein? Ist nicht Kennzeichen des Singens im Gefolge der Reformation gerade dies, dass es in immer wieder neu geschaffenen Liedern authentisch bleibt gegenüber bloßem Traditionalismus? „Ein neues Lied wir heben an“ beginnt ja signifikant Luthers allererstes Lied.
Diese „Headline“ von Luthers Erstling verdankt sich allerdings nicht dem Bibelwortbezug zu Psalm 96 oder 98, sondern ist typisches Kennzeichen eines „Zeitungsliedes“, womit fahrende Sänger „News“ verbreiten und ihr Brot verdienen. Luther wählt im Sommer 1523 dieses Medium, um die Nachrichtenlage zum Märtyrertod zweier Augustinermönche in Brüssel publizistisch zu beeinflussen. Der Tod der standhaften Glaubenszeugen auf dem Scheiterhaufen am 1. Juli 1523 darf für die Sache des Wortes Gottes nicht als Niederlage erscheinen, sondern soll in der Öffentlichkeit als das Gegenteil herausgestellt werden. Luther schafft in Liedform eine „Märtyrerlegende“, damit deren Zeugnis für die Alleingültigkeit von Gottes Wort „an allem Ort“ im Singen „aller“ weiterverbreitet werden kann: „Die er im Leben durch den Mord / zu schweigen hat gezwungen, die muss er tot an allem Ort / mit aller Stimm und Zungen / gar fröhlich lassen singen.“ So formuliert Luther die Pointe der Geschichte.
Keineswegs verstaubt
Dieses 500 Jahre alte Luther-Lied singt heute niemand mehr. Das liegt schlicht daran, dass „Zeitungslieder“ schnell veralten wie die sprichwörtliche Zeitung von gestern. Auch in evangelischen Gesangbüchern hat sich das Lied nicht lange gehalten. Wohl aber Luthers mutmaßlich zweites Lied, sein erstes wirklich „geistliches Lied“, heute unter Nummer 341 im Evangelischen Gesangbuch (EG) zu finden als Startnummer der Rubrik „Rechtfertigung und Zuversicht“: „Nun freut euch, lieben Christen g’mein / und lasst uns fröhlich springen, dass wir getrost und all in ein / mit Lust und Liebe singen.“ – „Fröhlich“ und „singen“ sind Stichwortanschlüsse an das Märtyrerlied. Ist bei diesem Liedeinstieg außer der Wendung „g’mein“ irgendetwas verstaubt oder abgestanden? Selbst „all in ein“ gibt es – allerdings mit Sinnverschiebung – heute in Produktwerbung als „All-in-One“. Ein vollmundiger Appell zum fröhlichen gemeinsamen Singen ist das – „mit Lust und Liebe“ macht den Spaßfaktor explizit, und sogar die Dimension des Körperlichen ist aufgerufen: „Springen“ reimt sich auf „Singen“, steht sogar an erster Stelle. Damit das Lied als „Song“ stimmig ist, hat Luther selber eine zum Text passende Melodie kreiert mit doppeltem Quart-Sprung am Anfang, was nach gängigen Melodiebildungsregeln gar nicht geht.
Auch dieses Lied erzählt eine „Story“, die von Gottes Ratschluss zur Erlösung der Menschheit im Heilswerk seines Sohnes, konfrontiert mit der „Story“ des Menschen, der sich in Sünde verstrickt hat und keinen Ausweg mehr findet: „zur Höllen musst ich sinken“ (Schluss Strophe 3). Paulus hat das genauso als Ich-Story formuliert in Römer 7. „Ein hübsch evangelisch Gesang“ sei das, meint das Erfurter Gesangbuch von 1524 in der Titulatur zu diesem Lied, das es an Position 2 bringt nach dem Beichtspiegel von Luthers Zehn-Gebote-Lied. Diese Story veraltet nie. Sie beginnt ja schon vor dem Start aller vergänglichen Zeit: „Da jammert Gott in Ewigkeit / mein Elend übermaßen“ (Str. 4). Gleichwohl ist es als Geschichte zu erzählen, singend zu vergegenwärtigen, wie das kirchliche Leben im Kirchenjahr immer wieder neu dieselben Storys aus Gottes Heilsgeschichte mit der Menschheit erzählt.
Im Wochenliedplan war dieses Luther-Lied bis zur kürzlichen Revision dem Sonntag Kantate zugeordnet, jetzt ist es da herausgeflogen zugunsten von Paul Gerhardts „Du, meine Seele, singe“ (EG 302), dem ein „Neues Lied“ an die Seite gestellt wurde: das aus Brasilien stammende „Ich sing dir mein Lied“, 1994 ins Deutsche übertragen. Aus dem Gegenüber nur der Liedanfänge könnte man diagnostizieren: Während die „klassische“ Hymnologie des 20. Jahrhunderts die „Wir-Lieder“ der Reformationsepoche zum Leitmaßstab kirchlichen Singens erhoben hatte und die „Ich-Lieder“ seit dem 17. Jahrhundert zurückdrängen wollte – mit Ausnahme von Paul Gerhardt –, hat sich der Wind jetzt um 180 Grad gedreht: „Ich singe“ ist Dreh- und Angelpunkt.
Nicht massengesangstauglich
Allerdings hat die Schwarz-Weiß-Schablone „Ich-Lied“ gegen „Wir-Lied“ so noch nie gestimmt. In Luthers Lied sind Strophe 2 bis 10 „Ich“-Strophen, aber in Strophe 1 ruft er dezidiert das „all in ein“-Singen auf (vergleiche Römer 15,6: „ … damit ihr einmütig mit einem Munde Gott lobt, den Vater unseres Herrn Jesus Christus“), denn Gottes Heilsgeschichte gilt allen, „uns“, und seine Erlösungsgeschichte führt uns alle, die wir als „Ich“ in Sünde gefangene, verkrümmte und verkümmerte Menschen sind (Strophe 2), in die Gemeinschaft der Erlösten, der „fröhlichen Christen g’mein“, die dieser Freude eben im gemeinsamen Singen Ausdruck geben.
Luthers 500 Jahre alte Lieder haben oft einen strategischen Fehler: Ihre Melodien sind nicht gerade massengesangstauglich. Die kurzen, impulsiven Auftakte von „Nun freut euch, lieben Christen g’mein“, ein Kennzeichen vieler Wittenberger Lieder dieser Zeit, lassen sich bei zahlreichen Mitsingenden kaum koordinieren, noch schwerer mit Orgelbegleitung. Im musikalischen Habitus ist das ein Vortragslied. Anders als die Straßburger Reformatoren, die von Anfang an genuine Gemeindegesangsmelodien schufen – fortgeführt im so erfolgreichen Genfer Psalter der Reformierten, hat Luther agiert wie ein Liedermacher seiner Zeit. Er trägt seine Songs vor, gerne mit Laute (heute: Gitarre) begleitet, und erzählt so Storys, und im geistlichen Bereich ist das dann Verkündigung. Selbst wenn Luther mittelalterliche Gesänge zum Ausgangspunkt seiner Lieddichtung nimmt wie beim Weihnachtslied „Gelobet seist du, Jesu Christ“ (EG 23), trägt er die impulsiven kurzen Auftakte ein: „Des freuet sich der Christen Schar“ ist für ihn nur mit so einem Push-Akzent stimmig.
Macht genau dies Luthers Songs nicht musikalisch modern? In den meisten Bereichen der modernen geistlichen Liedkultur sieht doch die Performance so aus, dass (mikroverstärkte) Solosänger(innen) mit Band agieren und dabei in Rhythmen singen, die alles andere als gemeindetauglich sind. Wer mag und kann im Auditorium, kann mitsingen. Aktive Teilnahme geschieht aber auch durch Mitklatschen, Mitschnipsen oder einfach Mitwippen. Die Corona-Zeit mit ihren Restriktionen beim Gemeindegesang brachte mancherorts eine starke Erfahrung mit Lutherliedern: Wenn da nur eine(r) singt, gut deklamiert, jede Strophe profiliert, kommt das Lied für die Zuhörenden ganz neu zur Geltung, bewegt als Sprachereignis im besten Sinn des Wortes.
Ein Grund für die vermeintliche Abständigkeit dieser alten Lieder ist deren Mutation zum „Choral“. Waren es zunächst Songs, die man sang, wo und wie es Spaß macht, zum Beispiel die Handwerker auf ihren Stuben, wurden sie alsbald auch zur Unterweisung in den Schulen eingesetzt und dann von Schülerchören im Gottesdienst einstimmig oder auch im komplexen Chorsatz VOR-gesungen. Erst am Ende des 16. Jahrhunderts kam man auf die Idee der einfachen vierstimmigen Liedsätze und der Melodie im Sopran, damit Chor und Gemeinde zusammen agieren können. Dieser so genannte „Kantionalsatz“ wurde zum Vorbild für die Orgelbegleitung, die sich im Laufe des 17. Jahrhunderts dort einbürgerte, wo eine Orgel zu finden war. Damit einher ging die rhythmische Egalisierung und eine drastische Verlangsamung des Singtempos.
Am Ende des 18. Jahrhunderts stritt man schließlich darüber, ob jede Note zwei oder vier Sekunden lang gehalten werden solle. Und die „Choralbücher“ setzten Zwischenspiele zwischen jede Liedzeile, damit die Gemeindeglieder sich stimmlich vom gemeinsamen Brüllen erholen konnten. Als „Choral“ wuchs dem geistlichen Lied eine Art Nimbus des Erhabenen und darin dezidiert nicht (weltlich) Musikalischen zu. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde für die Rückkehr zum Liedhaften gekämpft, aber erst die Singbewegung des 20. Jahrhunderts schaffte den Durchbruch mit der allgemeinen Rückkehr zum rhythmisch differenzierten Singen. Der theologischen Lutherrenaissance korrelierte eine musikalische Rückwendung zum 16. Jahrhundert, gerade im Kontext von Jugend- und Singbewegung. Lutherlieder waren namentlich für (gewisse) junge Leute cool, ebenso wie alte deutsche Volkslieder, und so kamen sie zuhauf ins Evangelische Kirchengesangbuch von 1950 ff. Den „Choral“ wurde die Kirche dabei aber nicht los, denn die „Choralbücher“ auf den Orgelbänken sanktionierten den „Kantionalsatz“ als möglichst ausdrucksloses musikalisches Gebilde; die Liedmelodie, wenn nun auch rhythmisch differenziert, blieb in den „Choralvorspielen“ als „cantus firmus“ eine hehre unangreifbare Gestalt, und im durchgängigen Legatospiel, welches das Rhythmische wieder entwertet, sollte sich das Choralspiel der Orgel präsentieren als gleichsam nicht von dieser Welt. Nun denn: Mit dem heute legendären „Danke“ 1961 (EG 334) begann die Geschichte des „Neuen (geistlichen) Liedes“ gegen den für alt erklärten „Choral“.
Fixierung auf bestimmte Sprache
In solchen Frontstellungen gerät das „Alte“ unter Rechtfertigungszwang, was die Hüter der reinen Lehre zu dogmatischen Fixierungen und Verbotsschildern gegenüber allem „Neuen“ provoziert, wie sie dem Phänomen Lied unangemessen sind. So hat die Wittenberger Fakultät in einem berühmten Gutachten 1714 die neuen Lieder des Pietismus in Bausch und Bogen verdammt. Dabei haben pietistische Gesangbücher das alte Liedgut, von Luther angefangen, selbstverständlich weiter tradiert. Das waren für sie keine „alten Lieder“, sondern ebenso „geistreiche“ wie ihre eigenen neuen.
Einige Jahrzehnte davor gab es entschiedene Vorbehalte gegen diejenigen neuen Lieder, die im modernen Sprachgewand gemäß der Opitzschen Sprachreform von 1624 daherkommen, verbunden mit Melodien im modernen Taktschema und Dur-/Moll-Tonalität. Nur Paul Gerhardt wollte man gelten lassen – ohne Angabe von Gründen. Luther selber hatte durch Kanonisierung seiner eigenen Lieder vom Wittenberger Gesangbuch 1529 an der dogmatischen Fixierung auf eine bestimmte Sprache, Inhaltlichkeit und Melodik Vorschub geleistet. Den Geistern, die er rief durch seinen Impuls zum Liedermachen, stand er selber jedenfalls sehr skeptisch gegenüber.
Sprachlich wie musikalisch ist uns das Lied des Reformationsjahrhunderts stilistisch tatsächlich fremd. Das ist „strange“, wie man heute sagt, aber darin doch gerade wieder interessant – abgesehen von theologischen Erwägungen zu hier prominent vertretenen Topoi wie Sünde und Gnade, extra nos des Glaubens, die reformatorischen „Sola“-Bestimmungen, wozu in heutigen Liedern eher Fehlanzeige zu konstatieren ist. Beim Stuttgarter Kirchenmusikfest zum Jubiläumsjahr 2017 gab es eine besonders „strange“ Veranstaltung: Der landeskirchliche Pfarrer für Hymnologie und Kirchenmusik, Bernhard Leube, machte in exakt eineinhalb Stunden einen Durchgang durch alle Lutherlieder – das sind mehr als 30. Jedes Lied wurde kurz vorgestellt und mit mindestens einer Strophe angesungen. Der technische Aufwand war NULL, kein einziges Instrument war vonnöten, da nur vor- und mitgesungen wurde – insofern auch eine absolut klimaneutrale Veranstaltung! Luthers Lieder brauchen als Musik keinen Sound, keinen wie auch immer erzeugten Beat, auch keinen Choralbuchsatz. Sie sind als Sprachgeschehen überzeugend bis überwältigend, wenn sie rein „choraliter“ gesungen werden, wie das in der Fachwissenschaft eigentlich heißt: nach der Art des gregorianischen Chorals. 2024 zum 500-Jahr-Jubiläum könnte man, wenn nicht „an allen Orten“, so doch wenigstens an einigen, das erneut testen.
Die schon benannte deutsche Sprachreform des Martin Opitz von 1624 ermöglichte mit klaren Regeln, dass Dichten zur allgemein zugänglichen Sprachform wurde. Seither wird gerade im geistlichen Bereich gedichtet (und gedruckt), was das Zeug hält. Dichter kümmern sich jetzt nur noch selten um eine Melodie für ihr Textprodukt. Klare Strophenformen machen es leicht, jeweils passende Melodien hin und her zu switchen. Die Gedichte kann man zur eigenen Erbauung auch gut nur lesen, zumal, wenn sie so viele Strophen haben, wie es im Barock üblich wird. Solche Textfülle ist ein großes Handicap für die Rezeption dieser „alten Lieder“ in heutigen „Fast Food“-Zeiten. Hit-fähig scheinen speziell Lieder mit drei Strophen zu sein: „O du fröhliche“ und „Stille Nacht“ (ursprünglich sechs Strophen) aus dem 19. Jahrhundert, „Vertraut den neuen Wegen“ von 1989 (auf eine alte Melodie von 1544), aber auch „Nun danket alle Gott“ von 1630. Beim „Danke“-Hit von 1961 werden selten alle sechs Strophen gesungen, und auch die jüngeren Plagiate dazu sind kürzer.
Auch das könnte man im Jubiläumsjahr 2024 ausprobieren: „alte Lieder“ als knackiges Drei-Strophen-Extrakt, jeweils mit Halbton-Lifting praktiziert, wie es von „Danke“ her bekannt und beliebt ist. Zum Beispiel: Von Paul Gerhardts 18 Strophen in EG 324 „Ich singe dir mit Herz und Mund“ erklingt Strophe 1 in Es-Dur, Strophe 2 in E-Dur, Strophe 3 in F-Dur. Da kommt die Pointe „Wohlauf, mein Herze, sing und spring / und habe guten Mut“ ganz anders zur Geltung, als wenn man von zahlreichen F-Dur-Strophen vorher schon etwas erschöpft ist. Übrigens: Das mit „sing und spring“ kennen wir doch von Luther, und auch in EG 351 („Ist Gott für mich, so trete gleich alles wider mich“) bringt Gerhardt den Reim „Springen“/ „Singen“ pointierend in der Schlussstrophe. Solche Lieder können doch nie veralten, oder?
Konrad Klek
Konrad Klek ist Universitätsmusikdirektor und Theologieprofessor an der Universität Nürnberg-Erlangen.