Anspruchsvoll

Schulfächer mit Weltsichten

"Interreligiöses Begegnungslernen“ meint im Buch der Professorin für Religionspädagogik Katja Boehme nicht einfach interreligiöses Lernen im Allgemeinen. Vielmehr geht es um ein Modell, das in den vergangenen rund zwanzig Jahren unter maßgeblicher Beteiligung der Autorin in Freiburg und Heidelberg entwickelt wurde und dann auch an anderen Orten sowohl in der Schule als auch bei der Ausbildung von Lehrkräften zum Einsatz gekommen ist. Bei diesem Modell kooperieren verschiedene Schulfächer, die auf „Weltsichten“ bezogen sind. Diese etwas gewöhnungsbedürftige Formulierung verweist auf eine Besonderheit, die das vorliegende Modell auszeichnet: In die Kooperation sollen konsequent auch nicht-religiöse Weltzugänge eingebunden sein, wie sie für den Ethikunterricht kennzeichnend sind.

Das Modell umfasst drei Phasen: Vorbereitung in nach Fächern getrennten Gruppen – Austausch über die Fächergrenzen hinweg (Begegnung im engeren Sinne) – Reflexion der Erfahrungen aus der Begegnungsphase. An dieser Struktur ist abzulesen, dass die Autorin keineswegs für einen sogenannten Allgemeinen Religionsunterricht oder – in Hamburger Diktion – einen „Religionsunterricht für alle“ plädiert, soweit dabei die unterschiedlichen Weltzugänge verschliffen werden (bekanntlich wird derzeit auch in Hamburg an einem Modell gearbeitet, das solche Effekte vermeidet). Für Boehme sind es nie nur die Gemeinsamkeiten, an denen gelernt werden soll, sondern gerade auch die Unterschiede, so wie dies am Begriff der „Differenzkompetenz“ abzulesen ist.

Der vorliegende Band bietet aber weder eine detaillierte Beschreibung des Modells noch eine empirische Untersuchung dazu. Vielmehr wird ein umgreifender Rahmen entwickelt, der das Begegnungslernen theoretisch fundieren und ausrichten soll. Für die Entwicklung dieses Rahmens werden vier Bezüge gewählt: das Verständnis von Religion, das Verständnis von Identität, der Umgang mit der Wahrheitsfrage und schließlich das Verständnis von Dialog. In allen vier Hinsichten werden anspruchsvolle theoretische Hintergründe ausgeleuchtet sowie jeweils im Blick auf mögliche Konsequenzen für die Kooperation diskutiert. Am weitesten reichen nach dem Urteil der Autorin hier die Phänomenologie, ein narratives Identitätsverständnis, die komparative Theologie sowie ein sensibler Umgang mit der Wahrheitsfrage, der zwischen den verschiedenen Bezugsgruppen im konfessionellen Religionsunterricht einerseits und in der Begegnungssituation andererseits unterscheidet.

Im letzten Teil des Bandes, der mit „Didaktik“ überschrieben ist, liegt ein Schwerpunkt auf der Herkunft des Modells, die sich vor allem mit der Idee einer „Fächergruppe“ verbinden lässt, wie sie schon seit mehr als fünfzig Jahren im Bereich der EKD diskutiert wird.

Ohne Zweifel bietet dieser umfangreiche Band zahlreiche hilfreiche Anregungen auch über das beschriebene Modell hinaus. Mitunter wäre es wünschenswert gewesen, über die manchmal etwas postulatorisch wirkenden Behauptungen zum Kompetenzerwerb hinaus mehr empirische Nachweise zu erhalten. Darauf wird nur sehr kurz eingegangen und lediglich mit Hinweisen auf subjektive Einschätzungen der Schüler:innen. Ebenso bedürfte der Umgang mit der Wahrheitsfrage weiterer Klärung. An manchen Stellen scheint die Autorin einen Ort für die Wahrheitsfrage nur im konfessionellen Religionsunterricht zu sehen, während sie bei der Begegnung am besten ganz zurücktreten soll. Aber wie ließe sich dann verhindern, dass die interreligiösen Begegnungen vordergründig bleiben, weil die eigenen Überzeugungen gar nicht geäußert werden?

Ein anspruchsvolles Buch, das nicht vor theoretischen Klärungsaufgaben zurückscheut und deshalb die Lektüre lohnt.

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Foto: Jörg Winter

Friedrich Schweitzer

Friedrich Schweitzer ist Professor für Praktische Theologie/Religionspädagogik an der Universität Tübingen.


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