Advent und Apokalypse
Advent gibt sich heute oft als Wohlfühlmodus, der den Glanz des Weihnachtsfestes enthüllt. Das ist aber höchstens die halbe Wahrheit, meint der Theologe Peter Scherle. Denn die Adventszeit ist eigentlich von apokalyptischer Spannung erfüllt, die allerdings keinesfalls Angst machen muss, sondern unsere Hoffnung neu formieren kann.
An diesem Sonntag gehen wir in die zweite Woche im Advent. Der Wochenspruch dazu lautet: „Steht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht.“ (Lukas 21,28) Im Advent leben wir in apokalyptischer Erwartung. Davon zeugen die Texte, die uns als Perikopen durch diese Wochen führen. Davon zeugen auch die Lieder, die um Jesu Wiederkunft flehen: „O come, o come, Emmanuel“ – „O Heiland, reiß die Himmel auf“. Eigentlich sind wir schon seit Allerheiligen aufgerufen, uns auf das Kommen Gottes vorzubereiten. In der Anglikanischen Kirche jedenfalls ist dieser auf 7 Wochen verlängerte Advent eine präsente Vorstellung. Der Advent findet seinen inhaltlichen Ausgangspunkt am Totensonntag, im Dunkel des Todes – insbesondere dort, wo Menschen sich gottverlassen wissen. Im Lobgesang des Zacharias, der dem dritten Sonntag im Advent zugeordnet ist, wird Gott gepriesen für „das aufgehende Licht aus der Höhe, auf dass es erscheine denen, die sitzen in Finsternis und Schatten des Todes“.
Zu dieser Vorstellung gehört die Kritik einer Praxis, wonach Advent in erster Linie die Vorbereitung auf das Fest der Geburt Jesu sei. Das ist der Advent auch. Aber er ist – nach Ausweis der Texte – vor allem eine Zeit apokalyptischer Erwartung. Das Kommen Gottes mit Gericht und Neuschöpfung wird erwartet: „Steht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht.“
Als Evangelium kann dies nur hören, wer der Erlösung harrt, wer von Finsternis und Schatten des Todes umfangen ist, wem sich Gott eben nicht zeigt. Advent stellt sich der Verborgenheit Gottes und der Macht des Bösen, der Sünde und des Todes in unserer Welt. Mächte, die bei Daniel oder Johannes als tierische Gestalten imaginiert werden. Eben von diesen „Mächten und Gewalten“ können wir uns nicht selbst befreien. Wir können nur bitten: „Erlöse uns von dem Bösen“. Unserer Kirche ist solche apokalyptische Erwartung im Advent fremd, nicht geheuer. Wir haben die Spannung, das Spannende dieser Erwartung stillgestellt. Advent ist heute ein Wohlfühlmodus, der das Spiel mit Dunkel und Licht genießt, dies aber nicht mehr mit Todesschatten und Erlösung verbindet, mit dem Abstieg Christi in das Reich des Todes, mit seiner Wiederkunft zum Gericht und mit dem himmlischen Jerusalem, das vom Himmel herabkommt.
Die apokalyptische Spannung
Apokalyptisch ist der Advent aber genau in dieser Spannung. Er stellt sich der dunklen Tiefe, die uns, die alle Menschen in die Sünde verwickelt und mit dem Tod umfängt. Was der Seher Johannes auf Patmos enthüllt wird, was er zu sehen bekommt und in seinem biblischen Buch, der Offenbarung, niederschreibt, ist der Abgrund des Nichts, in dem alles zu versinken droht, würde dies nicht von Gott mit aller Macht verhindert. Mit den Büchern, die nach und nach geöffnet werden, entfaltet sich das Panorama einer machtvollen Auseinandersetzung, eine Art Schlachtengemälde.
Erzählt wird in der Bibel – von Daniel bis zur Offenbarung des Johannes - aus der Perspektive derer, die zum Opfer der Verhältnisse und der menschlichen Geschichte gemacht wurden und werden. Sie imaginieren das Ende der Gewaltverhältnisse und weltlichen Reiche durch den biblischen Gott. „Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhöht die Niedrigen“ (Lukas 1,52), wie es im Lobgesang Marias heißt. Dabei wird der Schmerz und der Zorn der Opfer in Rachephantasien verwandelt, die in Erwartung der göttlichen Vergeltung auf einer barmherzigen Gerechtigkeit beharren, die noch das umfasst, was für Menschen unverzeihbar ist. Es geht bei dieser „rächenden Gerechtigkeit“ (Marcel Hénaff) also nicht um die vordergründige Vernichtung der herrschenden Mächte, sondern um das hintergründige Versprechen auf Rettung und Erlösung der Gequälten. Es geht darum, den Hinter-Sinn des theatrum mundi zu entbergen, offenbar zu machen. Eben das ist die Bedeutung des griechischen Wortes „apokalypsein“: die verborgene Wirklichkeit zu enthüllen. Zum Trost und zur Ermahnung.
Apokalyptisch inspiriertes Erzählen und Handeln will also ermutigen. Die Bilder, mit denen enthüllt werden soll, von welchen „Mächten und Gewalten“ das Leben „dieser Generation“ bestimmt ist, sind keine Aufklärung darüber, was der Weg aus den Krisen der Zeit wäre. Der jesuanische Ruf „Kehrt um und glaubt an das Evangelium“ liefert kein Programm, befreit aber von der Verzweiflung, in die Krisen treiben können. Die in prophetischer Tradition stehenden Zeichenhandlungen, sollen keinen konkreten Forderungen Nachdruck verleihen, sondern den Abgrund bezeichnen, der sich auftut. Dafür werden mythische Sprachbilder verwendet, wie etwa die vom „Tier aus dem Abgrund“, das in unterschiedlichen Gestalten auftreten kann und von dessen Überwindung erzählt wird. Das Abgründige der damaligen „pax Romana“ wird so zugleich enthüllt und entmachtet. Es droht nicht aller Tage Abend. Stattdessen wird der Jüngste Tag sehnsüchtig erwartet.
Eschatologisches Büro geschlossen
Die nachaufklärerische liberale Theologie hat mit dieser apokalyptischen Bildwelt gefremdelt und sie aus dem theologischen Denken exkludiert. Ernst Troeltsch hat das Anfang des 20. Jahrhunderts auf den Punkt gebracht: „Das eschatologische Büro ist geschlossen!“ Die Vorstellung eines Jüngsten Tages, mit dem Kommen Gottes zu Gericht und Neuschöpfung, könne der neuzeitliche Mensch nicht mehr als Hoffnung verstehen. Insbesondere die Erwartung eines göttlichen Gerichts würde die Gottesvorstellung vergiften, wie es Tilman Moser sehr viel später formulierte. So wurde die apokalyptische Weltsicht einer vormodernen mythologischen Weltvorstellung zugeordnet, die bestenfalls noch in endzeitlichen Sekten zu finden sei.
Die moderne akademische Theologie und die Verkündigung in den liberalen Kirchen des Westens orientierte sich in der Folge ganz an der teleologischen Geschichtsvorstellung der Moderne, in der keine andere Welt jenseits der Immanenz mehr vorstellbar war. Der Geschichtsprozess selber wurde zum Inhalt der Soteriologie. Erlösung konnte geschichtsimmanent nur als Fortschritt zu einem Ende der Geschichte verstanden werden. Der neue Mensch und die neue Welt konnten nur das Ergebnis menschlicher Anstrengung sein („Gott hat keine anderen Hände als unsere Hände“ und „die Zukunft ist unser Land“). An die Stelle der adventlichen Erwartung trat der Streit darum, ob wir im Blick auf den menschlichen Fortschritt optimistisch oder pessimistisch sein sollen.
Von der Apokalypse zur Dystopie
Uns späten Modernen ist der religiöse Zusammenhang verloren gegangen. Wir sind vertrauter mit den vielen Formen einer „kupierten Apokalypse“ (Klaus Vondung), die nur mehr die vordergründige Vernichtung kennt, dem hintergründigen Versprechen auf Rettung und Erlösung aber nicht mehr trauen kann. Seitdem die europäisch beeinflusste nach-aufklärerische und vom Idealismus durchtränkte Theologie selbst den Anspruch aufgegeben hat, sich mit dem Hinter-Sinn der Weltwirklichkeit zu befassen, hat sich das apokalyptische Rettungs-Narrativ zur dystopischen Erzählung gewandelt.
Was Ernst Troeltsch noch nicht sehen konnte, war diese kulturelle Verselbständigung der apokalyptischen zu dystopischen Bildwelten. Nur in diesem Sinne stimmt der Satz von Hans Magnus Enzensberger: „Die Apokalypse gehört zu unserem ideologischen Handgepäck“. Denn schon in der Kunst hatte sich im 19. Jahrhundert erkennen lassen, dass die Angst vor der Vernichtung der Welt, der Auslöschung der Geschichte und die Einsamkeit des Menschen in einem ohne Gott nunmehr hoffnungsleeren Universum, neue Ausdrucksformen fand. An die Stelle der großen Gerichtsgemälde etwa Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle (1541) oder Rogier van der Weydens im Hospiz in Beaune (1434) traten Mitte des 19. Jahrhunderts, die auf keinen diakonischen oder liturgischen Zusammenhang mehr bezogenen Gemälde von John Martin. So etwa „The Last Man“ (1849), „The Last Judgement“ (1853) und „The Great Day of His Wrath“ (1853). Die neue Bildwelt verzichtet auf den kommenden Christus, den gerichteten Richter, und die zu ihm gehörigen Heiligen. Die Schrecken einer anonymen Vernichtung dominieren dagegen in einer Weise, als hätte John Martin die Vernichtungsmaschinerien des 20. Jahrhunderts erahnt.
Die „Zukunft als Katastrophe“ (Eva Horn) wurde seitdem zu einer enorm wirkmächtigen Vorstellung. In der Literatur, in Filmen und in Computerspielen wimmelt es zu Beginn des 21. Jahrhunderts von endzeitlichen Katastrophenphantasien, die weiter reichen als immer neue Erzählungen vom Kampf zwischen Gut und Böse (Star Wars, Harry Potter etc.). Die Vorstellungen, wie die Auslöschung der menschlichen Geschichte oder des Lebens auf dem Planeten Erde sich vollzieht, wechseln mit den gesellschaftlichen Umständen. War es einmal der „nukleare Winter“, so ist heute die Überhitzung der Erde der Bildgeber für menschengemachte Katastrophen. Bei den von außen kommenden tödlichen Gefahren werden die Mächte immer weniger menschenähnlich. Die Entwicklung reicht von gesprächsbereiten Aliens, über maschinenähnliche Wesen ohne jede Kommunikationsbereitschaft, die aus anderen Welten kommen oder aus einer von Menschen eröffneten Zukunft („Terminator“-Reihe), bis hin zu Viren, die die ganze Menschheit zu Zombies machen („World War Z“; „The Walking Dead“) oder einer Erde, die sich einfach auftut und die menschliche Zivilisation verschlingt. Gezeigt wird uns jeweils die „nackte Apokalypse“ (Günter Anders). Der Himmel hält nichts mehr offen und die Erde ist (wie im „Anfang“ von dem die Bibel erzählt) wieder „wüst und leer“.
Wenn in diesen kulturellen Phantasmagorien – jenseits der aus der Naturwissenschaft entlehnten Erzählungen, von dem in der Kälte erstarrenden oder in der Hitze kollabierenden Universum - noch eine Rettung versprochen wird, dann sind dabei zwei Muster prägend. Zum einen ist es die Rückkehr der Natur nach der Auslöschung der menschlichen Zivilisation, die wie eine Rückkehr in den Garten Eden vor der Erschaffung des Menschen erscheint. Zum anderen wird das Überleben einer Klein-Familie (Vater, Mutter, zwei Kinder) oder eines kleinen Sozialverbandes ausgemalt, der in die Urgeschichte der Menschheit zurückführt.
Beide Rettungs-Phantasien aber sind regressiv und haben eben keine Hoffnung für die Menschheit und ihre Geschichte der Zivilisation. Wer die Geschichte des 20. Jahrhunderts vor Augen hat, kann sich über diese Entwicklung schon deshalb nicht wundern, weil die Realität selbst solche katastrophischen Züge angenommen hatte. Die beiden Weltkriege, der Holocaust und die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki sind dabei zwar die Höhepunkte menschlicher Vernichtungskraft. Aber sie sind mitnichten alles, was dazu erinnert werden müsste. Die Brüchigkeit der menschlichen Zivilisation und die Fähigkeiten der Menschen, anderen das Leben zur Hölle zu machen, haben unser Vertrauen in den beständigen Fortschritt der Menschheit tief erschüttert.
Wiederentdeckung der Apokalyptik
So ist es kein Wunder, dass die apokalyptische Geschichtstheologie neuen Aufschwung nahm. Schon Albert Schweitzer hatte in seiner Summe der Leben-Jesu-Forschung die eschatologische Ausrichtung der biblischen Texte erneut freigelegt. Und eine vielgestaltige Theologie der Krise konfrontierte das theologische Denken neu mit der Brutalität der modernen Welt. So ist die Eschatologie von einem „Kapitelchen am Ende der Dogmatik“ (Karl Barth) im 20. Jahrhundert doch wieder zu einem Zentrum christlicher Theologie avanciert. Ernst Käsemann schließlich brachte es 1960 auf den Punkt. Er nannte die Apokalyptik die „Mutter der christlichen Theologie“.
Allerdings drang diese Erkenntnis nicht in den Mainstream der wissenschaftlichen Theologie und der kirchlichen Verkündigung vor. Die messianisch grundierte Aussage Walter Benjamins, wonach die Katastrophe darin bestehe, dass es immer so weiter gehe, erhielt nur an den Rändern Zustimmung, dort wo sich unterschiedliche politische und Befreiungstheologien formierten. Wann und wo immer Viktimisierte in scheinbar ausweglosen Situationen ihre Hoffnung zum Ausdruck bringen wollen, leihen sie sich die Sprache der apokalyptischen Texte. Ulrich Körtner etwa hatte Ende der 1980er Jahre eine solche Wiederkehr der Apokalyptik beobachtet und von einem „Zeitalter der Angst“ gesprochen. Dabei wurde erst nach und nach die Vorstellung verbschiedet, es ginge um das gewalttätige Finale der Geschichte.
Das Ende der Geschichte - apokalypsefrei
Als besondere Herausforderung erweist sich gegenwärtig die Wirksamkeit einer Endzeitdeutung, die das Selbstverständnis westlicher Gesellschaften seit 1989 geprägt hat. Gemeint ist die Vorstellung, dass mit dem Ende des Kalten Krieges das „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) angebrochen sei – und zwar ganz apokalypsefrei. Die Annahme, die liberale Moderne wäre nunmehr alternativlos und würde sich global immer weiterverbreiten, war nicht nur politisch, sondern auch kulturell wirksam. Jede Störung dieser pax moderna wurde als Einbruch der Barbarei betrachtet und dementsprechend bekämpft oder ausgegrenzt. So konnte hierzulande die Illusion gepflegt werden, dass immerwährender Friede herrsche und wir Anspruch auf unseren Wohlstand hätten, selbst wenn unsere imperiale Lebensweise die Kosten dafür anderen Menschen und der Natur insgesamt aufbürdet.
Inzwischen aber ist diese pax moderna so brüchig geworden, dass viele ihr Ende kommen sehen. Nichts ist mehr sicher, weder die Demokratie noch der Wohlstand, weder das Leben ohne (kriegerische) Gewalt, noch die Bewohnbarkeit der Erde. Gleichzeitig stehen an allen Ecken und Enden Menschen auf und wehren sich gegen ihre Diskriminierung in der herrschenden Ordnung. Die Auseinandersetzungen werden – auch medial verstärkt – immer schärfer, die Konflikte unerbittlicher. Wir erleben sozusagen das apokalyptisch anmutende Ende vom Ende der Geschichte als Traum derer, die keine Erlösung erwarten, sondern darauf bestehen, dass alles so weitergehen soll, wie bisher. (Eben das ist es, was den Seher von Patmos zum Weinen brachte.)
In der Theologie hat sich angesichts der Brüchigkeit der pax moderna inzwischen eine Lesart der apokalyptischen Texte durchgesetzt, dass sie im Kern ein Schrei nach Recht und Gerechtigkeit sind. Gott. Es geht darum, „allen Hingeschlachteten der Erde“ (Offb 18,24) zu ihrem Recht zu verhelfen. Ohne das Jüngste Gericht, in dem die Opfer aufgerichtet werden, kann es keine Erlösung geben.
Heute dürfte es theologisch Konsens sein, dass das Gericht – wie auch die Auferweckung, das Reich Gottes, der neue Himmel und die neue Erde, sowie Gottes ungetrübte Herrlichkeit – ganz zur Neuschöpfung gehört. Apokalypsen schaffen Bildwelten von der Fermentierung des neuen Lebens, das in den Kategorien von Zeit und Raum nicht erfasst werden kann, sondern uns von Gott her zu kommt. Egal ob wir optimistisch oder pessimistisch in die Welt blicken, aus einer erhofften oder befürchteten Zukunft lässt sich keine Haltung zum Kommen Gottes extrapolieren. „Zur Extrapolation muss deshalb eine andere Kraft hinzutreten, nämlich diejenige der Intropolation, der Bereitschaft, das überraschend Neue entgegenzunehmen. Darin ist das Neue auch Gericht über das Alte. Es gehört zu den Eigenarten christlicher Theologie, insbesondere der Eschatologie, das Kommen vor das Werden zu setzen und damit das Futurum durch den Adventus zutiefst zu provozieren.“ (Antje Jackelén)
Karl Barth hat daraus die Schlussfolgerung gezogen, dass es für die Kirche keine andere Zeit geben könne, als den Advent. Um genauer zu sein: den apokalyptischen Advent, in dem wir auf den warten und entgegeneilen, von dem wir bekennen, dass er gekommen sein wird, zu richten die Lebenden und die Toten - venturus est – adventurus est.
Adventlich leben
Advent, das Kommen Gottes, ist eine Provokation für unsere Obsession mit der Zukunft, unsere Versuche, die Zukunft unter menschliche Kontrolle zu bringen. Dabei macht es keinen Unterschied, ob unser Blick in die Zukunft optimistisch oder pessimistisch ist, ob wir dystopisch oder utopisch gestimmt sind. Dafür mag es jeweils gute Gründe geben und sicher auch persönliche Stimmungslagen. Aber nichts davon hat mit dem Evangelium vom Advent Gottes zu tun, der sich nicht chronologisch entfaltet, sondern zum besonders günstigen Zeitpunkt her, biblisch gesprochen vom Kairós her, also: kairologisch.
Der adventliche Blick auf die Welt - ob gestern, heute oder morgen –sieht die einzige In-novation, die uns hoffen lässt. Es ist das Novum, das in den apokalyptischen Bildwelten anschaulich gemacht wird. Es ist die Vision des Übergangs vom aufgerissenen Himmel, vom Menschensohn, der auf den Wolken des Himmels in Herrlichkeit herabkommt „zu richten die Lebenden und die Toten“, um alles Leben zu heilen und zu verwandeln. Die große Vision des Übergangs von der der himmlischen Gartenstadt, in der die Offenbarung des Johannes mündet, ist nicht zufällig das Letzte, was uns die Bibel vor Augen führt. Danach bleibt uns nur noch die Bitte: „Maranatha, komm Herr Jesus!“ (Offenbarung 22,20)
Dieser Blick in den aufgerissenen Himmel macht erst den anderen Blick möglich, der zum apokalyptischen Sehen gehört: den Blick in den Abgrund, das drohende Nichts, in das die Schöpfung stürzen könnte, würde sie nicht von Gott bewahrt. Weil wir den Himmel offen sehen, müssen wir unsere Augen nicht davor verschließen, dass auf der Erde der Teufel los ist. Es ist jener Abgrund, für den in unseren Tagen zum Beispiel Orte wie Butscha und Daten wie der 7. Oktober 2023 stehen, in denen sich eine nihilistische Unmenschlichkeit Bahn gebrochen haben. Aber wir sollten uns fragen, ob unsere imperiale Lebensweise, die auf der Ausbeutung anderer Menschen und der Natur beruht, nicht auch abgründig ist. Abgründig sogar darin, dass wir bei allem Bemühen darum, zu den Guten zu gehören, uns nicht aus der Verwicklung in die Sünde und den Tod befreien können.
Der apokalyptische Blick hilft uns insbesondere etwas zu sehen, was unsere menschlichen Möglichkeiten ganz übersteigt. Wir können das verlorengegangene oder zerstörte Leben nicht mehr retten. Unsere Toten und alle, die zu Opfern gemacht wurden, sie wären verloren, gäbe es nicht die Hoffnung auf den Gott, der die Toten auferweckt und aus dem Nichts ins Leben ruft (Römer 4,17). Keine mögliche Zukunft der Menschheit und kein Ziel der Geschichte können diese Hoffnung einlösen. Und ohne diese Hoffnung wäre auch alles menschliche Bemühen um eine bessere Welt haltlos.
Adventliche Kirche
Deshalb irritiert es mich doch sehr, wenn die Kirchen heutzutage so gerne „zukunftsfähig“ sein wollen. Sie müssten doch wohl in erster Linie „adventsfähig“ sein, um getrost in die Zukunft zu gehen. Eine adventliche Kirche aber hat für mich zwei wesentliche Kennzeichen:
Zum einen übt sie sich im apokalyptischen „Sehen“, von dem in der Offenbarung des Johannes so viel die Rede ist. Dieses Sehen beruht allerdings auf dem Lesen, dem Lesen der Heiligen Schriften. Die „Visionen“ sind „Zitate“ und „Collagen“ (Jürgen Ebach), die die Texte neu konfigurieren. Sehen kann das Kommen Gottes demnach nur, wer – mit den Worten von Heiko Cornelius Miskotte – in „die Welt der Bibel einwandert“. Durch die biblischen Texte wird die Welt lesbar, als Welt voller dunkler Abgründe, umfangen von einer hell leuchtenden Verheißung. In der Sprache heutiger PR formuliert: apokalyptisch sieht man besser!
Apokalyptisch sieht man besser, das bedeutet beispielsweise, den Klimawandel, die Coronapandemie oder die neu entfesselte kriegerische Gewalt nicht mit den apokalyptischen Reitern zu identifizieren und als Zeichen einer dystopischen Endzeit zu lesen, die eine noch lebende „Letzte Generation“ verhindern könne. Im Sinne des „dreamreading“, von dem Catherine Keller in ihrem Buch „Facing Apocalypse“ spricht, müssten wir uns vielmehr fragen, was uns denn „reitet“, uns alle und nicht nur die jeweils anderen, in unserer Art zu leben und der trostlosen Sehnsucht, es möge doch alles so weitergehen. Wir können uns schonungslos nach diesen Kräften fragen, die theologisch „Sünde“ genannt werden und in die wir alle verwickelt sind, weil wir uns jetzt schon in der Vision des himmlischen Jerusalem, der neuen Schöpfung beheimaten können, die die biblischen Texte imaginieren.
Zum anderen hat eine adventliche Kirche vor Augen, dass Gott immer noch um uns Menschen und um die Kreatur kämpft – kämpfen muss. Erlösung ist ein Kampfgeschehen. Uns ist diese apokalyptische Sichtweise fremd geworden. Wir möchten gerne den Gott Jesu fern halten von den Bildern vom Gericht und von den Schlachtengemälden der apokalyptischen Texte im AT und NT. Die Psalmen haben wir dementsprechend für den liturgischen Gebrauch geglättet und neuere Kirchenlieder preisen einen lieben Gott, der uns nichts tut. Was aber können wir von einem solch harmlosen Gott erhoffen?
Gerade die Verharmlosung Gottes führt dazu, in der menschlichen Geschichte, Gut und Böse sauber zu trennen und selbst die Endzeit in die Hand zu nehmen. Die M(ake)A(merica)G(reat)A(gain)-Anhänger wünschen sich die „Trumpokalypse“, Putin und Kyrill wollen das „Jüngste Gericht“ über die Ukraine bringen und die Vernichtung der Juden erschien und erscheint nicht nur Hitler als „Endlösung“. Gegen solche nihilistischen Endzeitphantasien ist jedoch festzuhalten: Die Apokalypse liegt allein in Gottes Hand. Gott allein ist Richter und Retter.
Wenn nun aber Erlösung als Kampfhandlung Gottes zu verstehen ist, dann ist auch unsere Partizipation als solche zu verstehen. Karl Barth hat das Gebet der Kirche deshalb ganz zurecht als „Kampfhandlung“ beschrieben. Wenn in der Welt der Teufel los ist, dann ist unser Beten, ob als Klage oder Bitte, als Dank oder Lob ein Akt des Widerstands gegen die nihilistischen Kräfte, die unter uns wirken. Da reichen wenige Worte, um die Welt ins Gebet zu nehmen: „Dein Reich komme … Erlöse uns von dem Bösen“.
Oder jetzt im Advent unser flehentliches Singen: „O komm, o komm, du Morgenstern …“ Denn damit stimmen wir das „neue Lied“ an, von dem Johannes schreibt. Eben darin liegt unsere Hoffnung, dass das, was von Gott auf uns zukommt, mehr ist als das, was von uns Menschen herkommt.
(Der Text ist eine leicht veränderte und gekürzte Fassung eines Vortrags des Autors auf der Dekanatskonferenz des Evangelischen Dekanats Darmstadt am 6. Dezember 2023)
Peter Scherle
Peter Scherle, Jhg. 1956, ist Pfarrer i.R. der EKHN. Er war bis 2020 Professor für Kirchentheorie und Kybernetik am Theologischen Seminar Herborn und Visiting Lecturer für Ökumenische Theologie und Sozialethik an der Irish School of Ecumenics (Trinity College Dublin).