Fundamente des Lebens (I-III)

Was es bedeutet, in Krisen auf Gott zu vertrauen
Fenster des Glaskünstlers Johannes Schreiter in einer Ausstellung im Galerieraum der Neuen Stadthalle im hessischen Langen (2020).
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Fenster des Glaskünstlers Johannes Schreiter in einer Ausstellung im Galerieraum der Neuen Stadthalle im hessischen Langen (2020).

Kann eine Vergegenwärtigung christlicher Gewissheiten bei der seelischen Bewältigung der multiplen Krisen unserer Tage helfen? Die Hannoveraner Theologin Mareile Lasogga bringt in ihrem Text die Fundamente christlichen Glaubens mit den Herausforderungen der Gegenwart ins Gespräch. 

Wir machen zurzeit Erfahrungen mit gesellschaftlich einschneidenden Krisen unterschiedlicher Art: die Folgen der Corona-Pandemie, der russische Überfall auf die Ukraine, die Inflation, die Folgen des Klimawandels. Diese Krisen haben Folgen für unterschiedliche Entwicklungen im globalen Zusammenhang wie beispielsweise die Zunahme von Flucht und Vertreibung, die Verschärfung der weltweiten Ernährungsunsicherheit, die Destabilisierung der Sicherheitsarchitektur und die Unterminierung demokratischer Institutionen. Die Krisen stellen politische und gesellschaftliche Leitvorstellungen in Frage, sie verändern das Lebensgefühl und trüben die Erwartungen an die Zukunft.

In der Erfahrung von Krisen stellt sich in persönlichen wie gesellschaftlichen Lebenskontexten immer auch die Frage nach den Fundamenten, auf denen wir unser Leben gründen. Auch wenn diese Frage nicht explizit gestellt und reflektiert wird, entscheidet sich an dieser Stelle, wie Einzelne, Gemeinschaften und Gesellschaften auf Krisen reagieren und wie sie mit ihnen umgehen. Haben wir auf Felsen gebaut, ist das Fundament stabil und wird den Stürmen des Lebens standhalten. Menschen können nüchtern bleiben, gelassen, zuversichtlich und handlungsfähig. Haben wir jedoch auf Sand gebaut, wird es uns den Boden unter den Füßen wegziehen. Angst und Perspektivlosigkeit machen sich dann breit, das Gefühl der Ohnmacht greift Raum und macht Menschen anfällig für Verführer unterschiedlicher Couleur (vergleiche Lukas, 6,48 f.).

Kritische Prüfung

Die Frage nach dem Fundament des Lebens fordert heraus, die Prioritäten in unserem Leben einer kritischen Prüfung zu unterziehen und diese gegebenenfalls neu zu justieren. Wer oder was hält mich? Was trägt mich durch die Wechselfälle des Lebens? Welche Einsichten leiten mich? An welchen Werten und Überzeugungen orientiere ich mich? Worauf kann ich mich verlassen?

Die letzte Frage führt nach Kant direkt in den Bereich der Religion. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, die Erfahrungen mit und in den gegenwärtigen Krisen im Zusammenhang des Glaubens zu reflektieren. Das bedeutet, sich der Aufgabe zu stellen, die Erfahrungen, die wir aktuell machen, mit Gott und seinem Wirken in der Welt in Beziehung zu setzen und diese in ihrer existenziellen Relevanz zu erhellen. Anders formuliert: Ich möchte der Frage nachgehen, was es lebenspraktisch bedeuten könnte, in Krisen auf Gott zu vertrauen.

1. Christus ergreifen: „Woran du dein Herz hängst und verlässt dich darauf, das ist eigentlich dein Gott“, schreibt Luther in seiner Erklärung des Ersten Gebots im Großen Katechismus. Wer sich Gott zu nähern sucht, wer von Fragen nach dem Glauben umgetrieben wird, den verweist Luther auf das Vertrauen des Herzens. Das Herz – nicht der Kopf – ist der geistige Raum, in dem der Glaube entsteht, sich bewährt und entwickelt.

Warum gerade das Herz? Ob ich glauben kann oder nicht, hängt nicht – zumindest nicht in erster Linie – davon ab, ob ich bestimmten Glaubensinhalten kognitiv zustimmen kann, ob ich rational einsichtige Antworten auf meine Fragen finde oder ob es mir gelingt, meine Zweifel an bestimmten Dogmen zu überwinden. Glauben stellt sich vielmehr ein in der Erfahrung von Evidenz, die mir Dinge gewiss werden lässt. Gewissheit lässt sich anders als Wissen nicht aktiv erwerben, sondern stellt sich in unverfügbarer Weise ein, wenn sich mir etwas erschließt, indem mir etwas einleuchtet. In einem begrifflich sehr präzisen und nicht nur bildlich-illustrativen Sinn spricht die Bibel von den „erleuchteten Augen des Herzens“, denen Christus in seiner Wahrheit, seiner Kraft und seiner Herrlichkeit gegenwärtig ist (Epheser 1,18).

Die Gewissheit des Glaubens wird lebenspraktisch konkret im Vertrauen des Herzens. Glauben ist, mit Schleiermacher zu reden, keine Sache des Wissens, auch nicht der Moral, sondern ein „Gefühl“. Damit ist nicht das sinnliche Erleben einer Emotion gemeint, sondern das umfassende und unmittelbare Selbsterleben, in dem ein Mensch sich seiner eigenen Existenz, seiner Haltung zum Leben und seiner Einstellung zur Zukunft bewusst wird. Alltagssprachlich könnte man von einem „Lebensgefühl“ sprechen. Glauben als Vertrauen des Herzens ist deshalb primär auf der vorreflexiven Ebene des Selbstbewusstseins zu verorten. Diese ist kategorial zu unterscheiden von der Ebene der gegenständlichen Reflexion, auf der Menschen ihren Glauben begrifflich reflektieren, im Kontext der kirchlichen Gemeinschaft bekennen und darüber in der Öffentlichkeit vernünftig Rechenschaft geben.

Dieser Glaube, so Luther, ist kein Gedankengebilde, sondern eine lebendige, tätige Kraft. Glaube ist eine praktische Angelegenheit; es geht im Wesentlichen darum, etwas zu tun. Wir finden Gott nicht, indem wir Antworten suchen auf spekulative Fragen, beispielsweise ob Gott existiert, warum es das Böse in der Welt gibt oder wie man sich das ewige Leben vorstellen soll.

Schlicht, aber wirkungsvoll

Darüber lässt sich gut streiten und endlos diskutieren. Kritische Fragen und theoretische Auseinandersetzungen mit Glaubensthemen sind kein Kennzeichen der modernen Welt, sondern werden bereits im Neuen Testament mit Jesus selbst ausgetragen: „Wer ist mein Nächster?“ (Lukas 10,29). „Meinst du, dass nur wenige selig werden?“ (Lukas 13,23). „Was wird das Zeichen sein für das Ende der Welt?“ (Matthäus 24,3).

Es ist aufschlussreich, dass Jesus auf diese Fragen in der Regel keine Antwort gibt, die die Fragenden kognitiv befriedigt. Er sagt ihnen im Gegenteil, dass sie etwas tun sollen: Suchet! Bittet! Wachet! Ringet! Was das konkret bedeuten könnte, illustriert die Geschichte von der sogenannten blutflüssigen Frau: Die kranke Frau schleicht sich von hinten an Jesus heran. Obwohl sie sich fürchtet, fasst sie sich ein Herz und ergreift ihn am Saum seines Gewandes in der Hoffnung, durch die Berührung gesund zu werden. Eine ebenso schlichte wie wirkungsvolle Geste: Die Frau kommt in Beziehung mit der Kraft, die von Jesus ausgeht. Das ist entscheidend; darum wird sie gesund (Markus 9,20 ff.). Wer der ist, den sie da berührt hat, und was sein Geheimnis ist, das begreift sie erst später, nach und nach, als Jesus sich zu ihr umdreht und mit ihr zu sprechen beginnt.

Die Gewissheit, die sich dem Trauen des Herzens erschließt, will auch mit begrifflichen Mitteln reflektiert werden. Glauben und Verstehen gehören untrennbar zusammen. Das Verstehen folgt notwendigerweise aus der Gewissheit des Glaubens – aber nicht umgekehrt. Die Gewissheit des Glaubens erschließt sich nicht, wenn der Kopf alle Zweifel überwunden hat. Es hängt alles daran, dass ich mit Christus in Kontakt komme, dass ich es wage, nach ihm zu greifen, und in Berührung komme mit der Kraft, die von ihm ausgeht und zu mir übergeht.

2. Das Wunder des Geistes: Wie aber komme ich überhaupt dazu, mein Herz an Gott zu hängen? Die Erfahrung zeigt, dass man Vertrauen nicht aktiv herbeiführen oder gar erzwingen kann. Bildlich gesprochen: Das Herz muss entzündet werden, damit es brennt. Das gilt für die Liebe ebenso wie für den Glauben, denn beide gründen im Geheimnis der Anziehung. In diesem Sinne spricht Paulus davon, dass wir Christus nur ergreifen können, weil er uns schon ergriffen hat (Philipper 3,12).

Es gibt keine Möglichkeit, so auch Luther, dass Menschen aus eigener Vernunft und Kraft zu Gott kommen können. Dafür gibt es zwei Gründe. Den ersten hat das IV. Lateran-Konzil 1215 prägnant auf den Punkt gebracht: Zwischen Gott, dem Schöpfer, und dem Menschen als seinem Geschöpf ist und bleibt die Unähnlichkeit immer größer als alle Ähnlichkeit. Nur der Geist Gottes vermag zu erkennen, was in Gott ist. Der Geist des Menschen hingegen erfasst nur, was im Menschen ist (1. Korinther 2,11). Anders gesagt, Gleiches wird nur durch Gleiches erschlossen und erkannt.

Mit der Rede von Gottes Ewigkeit, Heiligkeit, Allmacht und Einzigkeit ist eine Dimension von Wirklichkeit indiziert, die sich mit den sinnlichen Organen endlicher Lebewesen nicht erkennen lässt. Gott ist Menschen in seiner Transzendenz entzogen und verborgen. Dass wir dennoch etwas von ihm erkennen, ist nur möglich, wenn und weil er sich entbirgt und sich selbst Menschen zu erkennen gibt. Dies geschieht durch das Wirken des Heiligen Geistes, der menschliche Herzen erleuchtet. Das ist das Wunder von Pfingsten.

Dass wir zu Gott nicht aus eigener Kraft kommen können, liegt jedoch nicht nur am menschlichen Erkenntnisvermögen, sondern an dem, was die Confessio Augustana den „verkehrten Willen“ (CA 19) des Menschen nennt. Dieser Wille ist die Kraft, die uns – meist unbewusst – im Leben antreibt, die unser Denken, Fühlen und Handeln leitet und unserer Energie und Aufmerksamkeit die Richtung vorgibt. Die Gestalt des reichen Kornbauers, die Jesus in einem Gleichnis einführt, veranschaulicht, was damit gemeint ist: Der Bauer baut sich riesige Scheunen und füllt sie randvoll mit den Erträgen, die er erwirtschaftet hat. Der Erfolg seiner Arbeit gibt ihm Sicherheit und darauf gründet er seine Zuversicht und seinen Lebensmut. Und so sagt er sich selbstzufrieden: „Liebe Seele, du hast einen großen Vorrat für viele Jahre; habe nun Ruhe, iss, trink und habe guten Mut!“ Der Bauer verlässt sich auf das Vermögen, das er angehäuft hat, auf seine Leistung, seinen Besitz, seine Kraft, sein Auskommen und auf die „vielen Jahre“, die er vor sich liegen sieht und über die er zu verfügen meint (Lukas 12,16 ff.). Er ist damit ein Beispiel für den homo incurvatus in se, der in seinem Willen ganz auf sich selbst fixiert ist. Dieser verkehrte Wille, den der Bauer exemplarisch verkörpert, verführt Menschen dazu, den Schöpfer mit den geschöpflichen Dingen zu vertauschen (Römer 1,23) und das eigene Herz an die Gaben statt an den göttlichen Geber zu hängen. Der biblische Begriff dafür lautet: Sünde.

Aufs falsche Pferd gesetzt

Die Folgen der Sünde werden nicht nur auf der Handlungsebene moralisch sichtbar, sondern die Abkehr von Gott hat Auswirkungen auch auf der kognitiven Ebene und führt dazu, dass Menschen die Realitäten des Lebens zu ihrem eigenen Schaden verkennen. Die Lebenszuversicht des Kornbauern wird deshalb nicht zufällig als Illusion aufgedeckt. Gott spricht zu ihm: „Du Narr! Diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern; und wem wird dann gehören, was du angehäuft hast?“ Der, dem der Bauer sein Leben verdankt, holt es sich wieder zurück. Und er fordert Rechenschaft, wie dieses Leben gelebt worden ist. Im Licht der Ewigkeit Gottes erkennt der Bauer plötzlich: Obwohl er viel geleistet hat und in manchen Dingen sogar sehr erfolgreich war, hat er in der entscheidenden Frage seines Lebens aufs falsche Pferd gesetzt. Weil er die zeitlichen und die ewigen Dinge nicht ins richtige Verhältnis zu setzen wusste, hat der Bauer töricht gehandelt.
Der Zugang zu Gott wird Menschen nur im Zuge einer Neuausrichtung ihres Willens erschlossen. Auch diesen Prozess kann niemand aus eigener Kraft und eigenem Willensentschluss initiieren. So wie wir Gott nicht aus eigenem Vermögen erkennen können, so wenig können wir ihm unser Herz aus eigener Kraft öffnen. Der Heilige Geist erschließt Menschen deshalb nicht nur Gott als den „Gegenstand“ des Glaubens; er befähigt uns nicht nur, Gott erkennen zu können. Er macht uns vielmehr auch bereit, ihn als den Herrn unseres Lebens anerkennen zu wollen.

Geisteskraft, die entzündet

Die biblischen Texte sprechen deshalb davon, dass Gott selbst den Menschen sein Gesetz „in ihr Herz geben“ und in „ihren Sinn schreiben“ will (Jeremia 31,33); dass er ihnen ein „anderes Herz geben und einen neuen Geist in sie geben“ will (Ezechiel 11,19); dass er ihnen den „Sinn dafür gegeben hat“ (1. Johannes 5,20), ihn zu erkennen. Das Herz beginnt erst zu brennen, wenn es durch die Kraft des Heiligen Geistes entzündet wird. Mit der Energie von Sturm und Feuer (Apostelgeschichte 2,2 f.) verwandelt der Geist menschliches Leben und erfüllt es mit seiner Kraft. Damit ist dann auch die Möglichkeit eröffnet, dass Menschen sich ändern können und sich ein neues Herz und einen neuen Geist „machen“ können (Ezechiel 18,31). Wie der griechische Begriff für diese Willensänderung – metamorphouste (Römer 12,2) – zeigt, geht es dabei nicht um eine Besserung im moralischen Sinne, sondern um die Transformation in eine neue Gestalt, den Übergang in eine neue Qualität des Lebens. 

Fenster des Glaskünstlers Johannes Schreiter in einer Ausstellung im Galerieraum der Neuen Stadthalle im hessischen Langen (2020).
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3. Wer ist Gott? Gott ist in seiner Trans­zendenz außer und über allen Dingen; er wirkt zugleich aber auch durch alle Dinge und in allen Dingen (Epheser 4,6). Gott ist in der Welt gegenwärtig und in den Ereigniszusammenhängen der Natur, wie auch der menschlichen Geschichte, am Wirken. Und er tut dies in Verbindung mit den Menschen als seinen – wissenden und unwissenden, willigen und unwilligen – Mitarbeitenden. Wenn Gott sich zu erkennen gibt, erschließen sich deshalb nicht abstrakte Einsichten, sondern Menschen machen konkrete Erfahrungen mit Gott in ihren individuellen und gemeinschaftlichen Lebenszusammenhängen. Gottes Selbstvergegenwärtigung – theologisch: seine Offenbarung – ereignet sich immer in konkreten Situationen und Phänomenen des Lebens. Die alttestamentlichen Propheten hören Gottes Wort zu einem bestimmten Zeitpunkt, manchmal an bestimmten Orten (Jeremia 18,2.5; Ezechiel 3,22), in einer bestimmten Situation und zu einem bestimmten Zweck. Bezeichnend ist dafür die Frage: „Was siehst du?“ (Jeremia 1,11; 24,3; Sacharja 5,5). Was Gott Menschen von sich zu erkennen gibt, kann und will nicht im Sinne dogmatischer Aussagen verstanden und als historisch gewachsene Traditionen rezipiert werden, sondern in individuellen Lebensvollzügen persönlich angeeignet werden. „Was siehst du?“ Was ist es, das Gott mir zeigt, was lässt er mich hören, was will er, dass ich erkenne und tue – hier und jetzt?

Geheimnis der Personalität

Gott begegnet seiner Welt als ein lebendiges Gegenüber; er verhält sich zu seiner Welt und zu seinen Menschen. Die biblischen Aussagen über Gott, alle Beschreibungen seines Wesens, sind keine abstrakten Theoreme, sondern es geht um die Äußerung eines Willens. Theologisch ist damit das Geheimnis der Personalität Gottes angesprochen. Gott wendet sich Menschen zu, und er verbirgt sein Antlitz vor ihnen. Er richtet und rettet. Er ruft Menschen ins Leben, und er lässt sie sterben. Gott lässt sich erbarmen, er lässt mit sich verhandeln, er warnt, er straft und er vergibt. Er begibt sich in die Abgründe menschlichen Elends, und er verschließt seinen himmlischen Tempel (Offenbarung 15,8). Gott ist heiliger, gerechter, unerforschlicher Wille, der sich nicht aus übergeordneten Prinzipien ableiten lässt. Dies gilt auch für die Beschreibung des Wesens Gott als Liebe. Das Evangelium verkündet Gottes Willen, zu lieben, und dies in der besonderen Art und Weise und unter den Bedingungen, die er in Jesu Leben, Sterben, Tod und Auferstehung kundgetan hat (Epheser 1,3–14).

Dass Gott sich willentlich zu seiner Welt verhält, bedeutet, dass er sich urteilend zu den Dingen verhält, die in der Welt geschehen, die Menschen tun und unterlassen. Das lässt sich auch an Jesu Umgang mit den Menschen ablesen: Er spricht die einen selig und über die anderen seine Wehe-Rufe. Er nimmt die Sünder vorbehaltlos an und ermahnt und warnt zugleich unmissverständlich. Seine Gleichnisse erhellen und verdunkeln Menschen ihren Sinn. Seine Worte gereichen den einen zum Heil, den anderen werden sie zum Gericht. Er verleiht seinen Jüngern die Kraft des Heiligen Geistes, um Sünden zu erlassen, gibt ihnen aber auch Vollmacht, sie den Menschen zu belassen.

Zorn und Liebe

Der Wille Gottes – auch das bezeugen die biblischen Texte beider Testamente in aller Klarheit – ist durch Verneinung und Bejahung, theologisch gesprochen durch Zorn und Liebe, bestimmt. Gott ist in seiner Welt richtend und rettend gegenwärtig. Sein Wirken manifestiert sich in den individuellen und kollektiven Lebensschicksalen als Gericht und Gnade. Sein Wort wird hörbar als Gesetz und Evangelium. Diese Ambivalenz des göttlichen Willens findet ihren Niederschlag in den ambivalenten, widersprüchlichen Erfahrungen unseres Lebens.

Die Erfahrungen, die wir im Laufe unseres Lebens mit Gott machen, sind deshalb spannungsvoll. Wir erleben seine Güte und seine Strenge, seine Liebe zum Sünder und seinen Zorn über die Sünde. Luther hat diese Ambivalenzen in exemplarischer Weise persönlich erfahren und theologisch reflektiert. Zwei Dinge haben Christen ihm zufolge zu lernen: Gott ist in seiner Heiligkeit zu fürchten und in seiner barmherzigen Zuwendung zum Menschen zu lieben. Mit und in dieser Ambivalenz zu leben, gelingt nur im Vertrauen des Glaubens. Darum gehört für Luther zur Furcht und zur Liebe Gottes konstitutiv das Vertrauen hinzu. „Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen“, so Luthers Kommentar zum ersten Gebot im Kleinen Katechismus. Gott fürchten, lieben und ihm in beidem vertrauen – das ist die Trias, in der sich christliches Leben vollzieht.

Das Evangelium verkündigt kein unwandelbar gültiges Prinzip der Liebe Gottes. Was Jesus Menschen gelehrt hat, lässt sich deshalb nicht von seiner Person abstrahieren und im Sinne abstrakter Ideen oder handlungsleitender Maximen prinzipialisieren. Das Evangelium verkündigt die Botschaft von der Versöhnung der Welt, die Gott zu einer bestimmten Zeit im Leben, Sterben und Auferstehen des Menschen Jesus von Nazareth realisiert hat. „Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung“ (2. Korinther 5, 19). Das Evangelium ist die gute Nachricht, dass Gott in Christus seine Liebe über seinen Zorn hat siegen lassen. In Christus bietet Gott allen Menschen vorbehaltlos seinen Frieden an. An Christi statt richtet die Kirche die Botschaft aus: „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ (2. Korinther 5,20). Das ist der Grund, warum man das Evangelium nicht ergreifen kann, ohne zugleich auch den Ruf zur Umkehr zu hören (Markus 1,15). Beides gehört untrennbar zusammen. Die Botschaft Jesu lautet nicht: „Alles wird gut“, sondern: „Heute, wenn ihr seine Stimme hören werdet, so verhärtet eure Herzen nicht!“ (Hebräer 3,7f.).

4. Gott und das Schicksal: Die individuellen und kollektiven Krisenerfahrungen im Zuge der Coronapandemie, des russischen Angriffskrieges und des Klimawandels lassen sich als Erleben von „Widerfahrnissen“ deuten. Der Theologe Ingolf Dalferth versteht unter diesem Begriff positive und negative Vorkommnisse mit lebensverändernden Folgen, die Menschen ohne eigenes Zutun und meist unerwartet erleben, zum Beispiel die Begegnung mit einem wichtigen Menschen oder eine Krankheit. Für die durch ein Widerfahrnis ausgelösten Veränderungen ist charakteristisch, dass die davon berührten Personen und Gemeinschaften damit faktisch leben müssen. Es ist nicht möglich, sich zu einem Widerfahrnis nicht zu verhalten.

Die etwas sperrig anmutende Kategorie des Widerfahrnisses scheint mir für den deutenden Umgang mit Krisenerfahrungen aufschlussreicher zu sein als die geläufigere Kategorie der „Kontingenz“. Kontingenz thematisiert ein faktisch Gegebenes im Hinblick auf sein mögliches Anderssein. Kontingent ist, was nicht notwendig ist, aber auch nicht unmöglich ist und somit auch anders sein könnte. Kontingenz lässt sich auch auf Ereignisse beziehen, die keinen Bezug zum erlebenden Subjekt haben. Für das Widerfahrnis hingegen ist der Bezug zum Subjekt konstitutiv: Im positiven Fall fällt mir etwas zu, im negativen Fall stößt mir etwas zu. So oder so macht es etwas mit einem Menschen, innerlich wie äußerlich. Damit stellt sich die Aufgabe, die Widerfahrnisse, die unser Leben persönlich wie gesellschaftlich in kritischer Weise affizieren, theologisch zu deuten und geistlich zu bewältigen.

In den wechselvollen Widerfahrnissen des Lebens machen Menschen auch wechselvolle Erfahrungen mit Gott. In Erlebnissen der Bewahrung, Beglückung und Bereicherung kommt Gott uns nahe in seiner Güte als Schöpfer, in seiner Liebe als Vater Jesu Christi, den wir als ein Du im Gebet anrufen. In Zeiten der Krise, im Angesicht der Rätselhaftigkeit des Lebens ist Gott uns verborgen in der Undurchdringlichkeit des Schicksals. Um die Erfahrungen des verborgenen Gottes theologisch zu verorten, scheint mir im Anschluss an Oswald Bayer die Unterscheidung zwischen Gottes „verständlichem“ und seinem „unverständlichen“ Zorn weiterführend zu sein.

Gottes verständlicher Zorn ist Ausdruck seiner Reaktion auf menschliche Sünde. Große Teile des Alten Testaments sind von diesem Gedanken geprägt: Gott wirbt in Liebe um sein Volk, das ihm aber immer wieder untreu wird. In den Manifestationen seines Zornes erkennen Menschen ihre Schuld, bitten um Vergebung und wenden sich Gott wieder zu. Der Zorn Gottes wird damit „verständlich“ als die Kehrseite seiner Liebe. Diese Figur – in der auch die Rede von der Strafe Gottes verortet ist – durchzieht viele Psalmen. Wie besonders an den Psalmen deutlich wird, ist Gott dem Beter jedoch auch im Zorn verbunden; er bleibt ihm ein personal zugewandtes Gegenüber, das der Beter ansprechen darf und dem er sich in seiner Not anvertrauen kann.

Davon zu unterscheiden sind Begegnungen mit Gott, die sich der personalen Erschlossenheit entziehen und alltagssprachlich als Schicksal bezeichnet werden. Theologisch sind damit Erfahrungen im Blick, in denen Gott Menschen nicht mehr nahe, sondern „fern“ ist (Jeremia 23,23), unerreichbar, verborgenen menschlichen Bitten entzogen (7,16). Dietrich Bonhoeffer notiert in der Haft anderthalb Monate vor seiner Hinrichtung seine Erfahrungen mit dem Gott, der ihm nicht nur im Du, sondern auch „vermummt“ im „Es“ des Schicksals begegnet. Dieser im Schicksal verborgene Gott ist eine undurchdringliche Macht. Die Erzählung von Jakobs Kampf am Jabbok (Genesis 32,23 ff.) bringt in exemplarischer Weise die Abgründigkeit dieser Begegnung zum Ausdruck. Als Jakob seine Familie und Hab und Gut sicher über den Fluss gebracht hat, bleibt er allein zurück. Es wird dunkel und an der Furt des Jabbok tritt ihm plötzlich ein Widerstand entgegen: „Da rang ein Mann mit ihm“ (32,25). Ein Unbekannter droht ihn zu überwältigen. Jakob wird in einen Kampf verwickelt, der eine ganze lange Nacht andauert.

Ganz persönlicher Kampf

Was ist mit den Menschen, die während der Coronapandemie auf überfüllten Krankenhausfluren ohne Beatmungsgerät gestorben sind? Menschen, die von eingestürzten Häusern in der Türkei und in Syrien begraben oder lebenslang verwundet wurden? Menschen, die im Grauen des Krieges in der Ukraine, in den Dürregebieten Afrikas, in vom Feuer zerstörten Landstrichen in Südeuropa ihren ganz persönlichen Kampf kämpfen müssen? Sind diese Menschen Opfer des Schicksals, oder ist Gott ihnen auch in dieser namenlosen Unergründlichkeit nahe? Schärfer formuliert: Hat die Unergründlichkeit des Schicksals das letzte Wort oder dürfen die Menschen hoffen, dass Gott sich ihnen – in welcher Weise auch immer – als ein personales Gegenüber, als ein Du, erfahrbar machen wird? Welche Gründe gibt es für die Hoffnung, dass unser Schicksal – mit Bonhoeffer zu reden – „Führung“ wird und wir gewiss sein dürfen, dass nicht die Erfahrung des Schicksals das letzte Wort behält, sondern die Erlösung von allem Bösen, um die wir im Vaterunser bitten.

Jakob ringt mit dem Unbekannten und dieser Kampf hinterlässt Spuren in seinem Leben. Jakob hinkt fortan. Am Ende jedoch ringt er dem Unbekannten seinen Segen ab. Die Geschichte macht deutlich, dass der Glaube „an“ Gott immer auch ein Glaube „gegen“ die Realitäten des Lebens ist, mit denen wir konfrontiert werden. Wenn die Härte des Schicksals sich uns in den Weg stellt, wenn sie die Zukunft in Frage stellt und uns damit Gottes Abwesenheit oder gar seine Nicht-Existenz zu bezeugen scheinet, sollten wir uns daher fragen, ob diese Erfahrungen tatsächlich im Widerspruch zu Gott stehen oder nicht vielmehr zu unseren Vorstellungen, wie Gott sich verhalten und in der Welt handeln müsste. Die Krise wirft die Frage auf, ob der immer nur nahe und liebende Gott, an den wir gern unser Herz hängen, möglicherweise ein Bild ist, das wir uns selbst gemacht haben (Amos 5,26).

Jakob macht die Erfahrung, dass seine Vorstellungen von Gott zerbrechen. In seinem Kampf wird er schließlich zur Anerkenntnis des Gottes geführt, der sich ihm zu erkennen gibt, als der, der er wahrhaftig ist: „Ich habe Gott von Angesicht gesehen und doch wurde mein Leben errettet“ (Genesis 32,31). Gott ist Herr über alles, was wir an Schrecklichem und Schönem erleben. Er „tötet und macht lebendig, führt hinab zu den Toten und wieder herauf“ (1. Samuel 2,6). Neben dem Faszinosum hat die Begegnung mit Gott immer auch etwas Unheimliches, ein Tremendum. 

5. Gott in der Krise begegnen: In biblischer Perspektive erleben Menschen in Krisen weder Gottes Abwesenheit noch seine Ohnmacht. Die kritischen Widerfahrnisse können vielmehr ebenso wie segensreiche Ereignisse zur Erfahrung der Begegnung mit Gott werden. Besonders in den prophetischen Büchern offenbart sich Gott als Herr der Natur wie auch der menschlichen Geschichte, der in den individuellen Schicksalen und in den Katastrophen der Völker richtend, aber auch rettend am Wirken ist. Theologisch betrachtet, sind Krisen Zeiten, in denen Gott sich verbirgt und finden lassen will; in denen er sich in der Ambivalenz von Abstoßung und Anziehung vernehmen lässt. Es gehört zum prophetischen Amt der Kirche, Krisen in diesem spannungsvollen Sinnzusammenhang zu deuten und zu erhellen.

Das richtende und rettende Wirken Gottes in und durch Krisen lässt sich nicht in einem vordergründigen Sinne aufzeigen. Es handelt sich nicht um Zusammenhänge, die, wie Luther in seiner Vorrede zur Johannes-Apokalypse einmal sagt, offen zu Tage liegen „wie ein Kram auf dem Markt“. Fragen, die Erklärungen auf kausaler Ebene intendieren – wie beispielsweise: „Hat Gott das Coronavirus geschickt?“ –, verstellen die Perspektive.

Gott hat der Welt Eigenmächtigkeit verliehen. Die biblischen Texte lassen jedoch keinen Zweifel daran, dass der biblische Gott gleichwohl der Herr seiner Schöpfung ist und bleibt. Gott bedient sich der gesetzlichen Kausalzusammenhänge und verfolgt in, mit und durch sie seine ganz eigenen Zwecke und Ziele mit seiner Welt – auch wenn wir diese nicht erkennen und verstehen. Theologisch lassen sich Krisen daher nur in finaler Hinsicht angemessen in den Blick nehmen.

Furten des Lebens

Welche Bedeutung lässt sich Krisen in dieser Perspektive beilegen? Krisen machen deutlich, wo und wie Menschen faktisch vor Gott dastehen. Krisen können den Blick schärfen für Dinge, die dringend der Klärung bedürfen im Leben der Einzelnen und der Gesellschaft. Die Krise führt über die Frage, was wir von Gott erwarten, hinüber zur anderen Frage, was Gott von uns erwartet. Gemäß der mehr sinnigen Bedeutung des griechischen Wortes krisis stellen Krisen die Frage nach den Prioritäten des Lebens in den Fokus und nötigen damit in einem ersten Schritt zur Unterscheidung zwischen Wahrheit und Täuschung, Gut und Böse, Bleibendem und Vergänglichem, Gott und den Götzen. Es geht darum, zu bedenken, welche Werte uns leiten; an welchen Dingen unser Herz faktisch hängt; wovon wir uns treiben und antreiben lassen. Auf welche Stimmen hören wir, und welchen Geistern geben wir Macht über uns? Von wem oder was lassen wir uns verführen, manipulieren? Was denken wir von uns, dass wir sind – und was sind wir tatsächlich? Wenn diese Dinge im Lichte Gottes durchsichtig werden, gewinnen Menschen Klarheit für ihr Leben.

An den Furten des Lebens begegnet uns Gott als ein Widerstand, mit dessen Unnachgiebigkeit wir wie Jakob am Jabbok zu ringen haben. Jakob kämpft mit der unheimlichen Gestalt die ganze Nacht bis zum Anbruch der Morgenröte. Er setzt alles ein, um sich von der bedrängenden Macht nicht überwinden zu lassen. Die Begegnung der Nacht hinterlässt ihre Spuren; Jakob wird an der Hüfte verletzt. Doch als ein versehrter Mensch wird er schließlich gesegnet. „Wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen“, spricht Gott (Jeremia 29, 13 f.). Im Horizont dieser Verheißung gelingt es Jakob schließlich, gegen Gott zu Gott hindurchzudringen.

Luther deutet die Jakob-Geschichte als Ermutigung durchzuhalten; beharrlich und beherzt zu suchen, zu bitten und anzuklopfen, solange bis der Glaube schließlich siegt und Gott überwindet. Auch in der Krise begegnen wir Gott – jedoch auf eine unheimliche, harte, schmerzhafte Weise, die individuell wie kollektiv Spuren hinterlässt. Anders aber lässt die Furt sich nicht überqueren. Damit sind eine Warnung und eine Mahnung verbunden, die Gnade Gottes nicht mit Gutmütigkeit oder gar Ohnmacht zu verwechseln und in ihrem Ernst zu verharmlosen.

Nicht billig zu haben

Dass Gottes Gnade nicht billig zu haben ist, wissen wir. In Krisen jedoch bekommen wir existenziell zu spüren, was es bedeutet, im Ringen mit dem verborgenen, unheimlichen Gott durchzudringen zu dem Gott, der sich in Jesus Christus als unser Vater offenbart hat. Vertrauen zu Gott ist nichts, was man „hat“, über das man verfügen kann. Vertrauen muss immer wieder neu errungen werden. Glauben ist deshalb auch geistliche Arbeit und erfordert Beharrlichkeit, Mut und Entschlossenheit.

Zu den tröstenden und beglückenden Erfahrungen, die dem Glauben verheißen sind, muss man sich manchmal geistlich hindurcharbeiten. Luther gebraucht eindrücklich das Bild von Dornen, Spießen und Schwertern, durch die man hindurchbrechen muss zum Gott allen Trostes. Gottvertrauen ist deshalb immer auch das Ergebnis des Willens, an Gott in den Rätseln des Lebens trotzdem festzuhalten. Ich muss es wagen, ohne zu wissen, wie es ausgeht. Die krisis – so die zweite Bedeutung – führt deshalb auch in die Entscheidung für oder gegen Gott. Das ist der schmale Weg, der zum Leben führt (Matthäus 7, 14) und der in einem sehr ernsten Sinn alternativlos ist.

Damit rückt schließlich ein dritter Aspekt in den Blick, der für das Verständnis der Krise konstitutiv ist: die Scheidung. Das griechische Wort bedeutet auch: beurteilt werden, zur Rechenschaft gezogen, gerichtet werden. Krisen enthalten Chancen; aus Krisen folgt jedoch nicht automatisch etwas Gutes. „Ich habe Gott von Angesicht gesehen, und doch wurde mein Leben gerettet“ (Genesis 32, 31). Dass Jakob am Ende der Nacht noch am Leben ist und den Anbruch der Morgenröte erlebt, ist nicht selbstverständlich, auch nicht „normal“, sondern nicht weniger als ein Wunder. Es gibt den schmalen Weg, der zum Leben führt; aber auch den breiten Weg, der ohne Hoffnung ist. Die Botschaft des Evangeliums ist eine frohe Botschaft vor einem ernsten Hintergrund. Man kann seine Lebenschancen auch verspielen und das Leben verlieren.

Trivial und irreführend

Die populären Trostworte, dass auf Regen Sonnenschein folgt oder am Ende des Tunnels Licht ist, sind nicht nur trivial, sondern auch irreführend, weil sie die Krise in einem prozessualen Ablauf verorten, der durch die Erfahrungen des Lebens negiert wird. Nicht alle Menschen gehen aus Krisen stärker, reifer und verständiger hervor. Es gibt viele, die darin zerbrechen, verbittern, resignieren und ihr Herz Menschen und Gott gegenüber verhärten. In unheimlichen Szenen beschreibt die Offenbarung des Johannes, wie die Menschen sich durch die Katastrophen, die über die Erde hereinbrechen, nicht von ihrem unheilvollen Weg abbringen lassen wollen. Im Gegenteil, gerade die Massivität des erlittenen Unglücks führt dazu, dass sie Gott lästern (Offenbarung 16, 9.11.21). Das Angebot der Gnade gilt uneingeschränkt jedem Menschen und wird bedingungslos jedem Menschen zugeeignet, der glaubt. Nehmen wir das Angebot an? Das ist die Frage, an der sich entscheidet, ob wir das Leben gewinnen oder verlieren.

Fenster des Glaskünstlers Johannes Schreiter in einer Ausstellung im Galerieraum der Neuen Stadthalle im hessischen Langen (2020).
Foto: epd/Thomas Rohnke

 

6. Was darf ich hoffen? Jakobs Kampf endet mit dem Anbruch der Morgenröte. Im Licht des beginnenden Tages lässt die unheimliche Gestalt endlich los und entschwindet. Jakob geht die Sonne auf. In der Morgendämmerung zeichnen sich die Konturen eines neuen Tages ab. Jakob erkennt den Weg, der vor ihm liegt und darf weitergehen. Etwas Neues beginnt. In seinem Kampf mit dem unheimlichen Gott ist er hindurchgedrungen zu dem Gott, der ihm einen neuen Namen und eine neue Perspektive für sein Leben gibt. So wie die Furt zwei Ufer hat, führt die Krise Menschen nicht nur an die Grenzen ihrer eigenen Möglichkeiten, sondern sie erschließt ihnen auch den Blick auf die andere Seite, wo die Möglichkeiten Gottes beginnen. Daher ist Jakobs Kampf verheißungsvoll. Denn – auch das bezeugen die biblischen Texte in aller Klarheit – Krisen sind Übergänge, in denen Gott Neues schafft. Luther sieht Gottes schöpferisches Wesen darin beschlossen, dass er aus nichts alles machen und deshalb auch aus unheilvollen Dingen Gutes hervorbringen kann.

Nicht besser, sondern neu

Vom Anfang der Schöpfungsgeschichte bis zum letzten Buch der Offenbarung zieht sich wie ein roter Faden die Erfahrung und das Bekenntnis, dass Gott immer wieder neue Anfänge gewährt. Nicht besser, sondern neu. Gott wird in der Bibel bekannt als ein Gott, bei dem kein Ding unmöglich ist. Wo nichts ist, ruft Gott, dass es sei. Das ist die Grundstruktur der Erfahrung, die allen Menschen gemeinsam ist, denen Gott begegnet. Gott schafft aus nichts etwas; Menschen machen aus etwas Vorhandenem etwas anderes. Gott macht das Alte deshalb nicht besser, sondern er macht es neu: „Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden“ (2. Korinther 5, 17).

Der Mensch, an dem die Möglichkeiten Gottes in ihrer ganzen Fülle deutlich geworden sind, ist Jesus Christus. Er hat gelebt, geliebt und gelitten; schließlich fand dieses Leben früh einen gewaltsamen Tod. Dass seine Geschichte nicht in Vergessenheit geraten ist, liegt nicht daran, dass Menschen sie aufgeschrieben haben und sich daran erinnern, sondern weil diese Geschichte weitergegangen ist. Als die Möglichkeiten Jesu am Ende sind, wird Gottes Macht an ihm wirksam und lässt aus dem Tod neues Leben hervorgehen. Der, der sich in die äußerste Tiefe der Gottverlassenheit begeben hat, den hat „Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist“ (Philipper 2,9). Der auferstandene Christus sitzt zur Rechten Gottes, und „die Engel und die Gewaltigen und die Mächte“ sind ihm untertan (1. Petrus 3,22). Dass das Evangelium allen Menschen weltweit und bis zum Ende der Zeiten gepredigt werden soll, hat seinen Grund nicht darin, dass Jesus in vorbildlicher Weise gelebt oder das Leben in herausragender Weise zu deuten verstand, sondern allein darin, dass er der Kosmokrator ist (Matthäus 28, 18 f.).

„Eines hat Gott geredet, ein Zweifaches habe ich gehört“, spricht der Psalmbeter: „Gott allein ist mächtig und du, Herr, bist gnädig“ (Psalm 62, 12 f.). Gottes Macht ist eine, aber nicht die ganze Wahrheit. „Du, Herr, bist gnädig“ – das ist die Botschaft, die aller Welt gepredigt werden soll. Im Evangelium von Jesus Christus hat Gott sich Menschen als der zu erkennen gegeben, als der er von uns erkannt sein will: als zugewandtes Gegenüber, als liebender Vater, als Du. In Christus will und wird er sich finden lassen, von denen, die ihn von ganzem Herzen suchen. Nur im Sohn ergreifen wir Gott als unseren Vater.

Überraschend, unableitbar, wunderbar

Um Jesu willen, in seinem Namen, dürfen wir mit Zuversicht vor Gott treten „zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben“ (Hebräer 4,16). Jesus Christus ist das fleischgewordene Wort, die Verheißung, dass Gott seine Liebe über seinen Zorn hat siegen lassen – ein für alle Mal. Diese Zusage gilt unverbrüchlich, und Christus ist das „Siegel“ (Johannes 6,27), das sie uns verbürgt. Um seiner Liebe willen wendet sich uns Gott in seiner Macht barmherzig zu. Gott, bei dem kein Ding unmöglich ist, erschließt Menschen durch seine Macht und in seiner Liebe neue Lebensmöglichkeiten.

Im Glauben gewinnen wir Anschluss an seine Fülle, seinen Reichtum und seine Kraft. Menschen leben im Glauben aus einem „Überschuss des Möglichen“ (Ingolf Dalferth), über den sie nicht verfügen, sondern den Gott ihnen zuspielt, indem er im Alten immer wieder Neues möglich werden lässt. Er tut dies in überraschender, unableitbarer, wunderbarer Weise. Und er tut es nicht, weil wir es verdient hätten, sondern aus Liebe – bedingungslos, unverdient, umsonst. Kraft der grenzenlosen Möglichkeiten Gottes eröffnen sich Menschen unerwartete neue Perspektiven, Erkenntnisse und Lebenschancen. Sie machen neue Begegnungen, erleben neue Wendungen in ihrem Leben und spüren neue Lebenskräfte.

Die schöpferische Wirksamkeit Gottes ist nicht auf den Bereich menschlicher Innerlichkeit begrenzt, sondern wirkt gleichermaßen auch in den Zusammenhängen der Natur und den gesellschaftlichen und politischen Konstellationen der Geschichte. Gott ist über allen Dingen, in allen Dingen und durch alle Dinge am Wirken zum Wohl und zum Heil der ganzen Welt. Er richtet, rettet und schafft Neues in allem, was geschieht. Nicht nur, aber gerade in den Krisen des Lebens, greift das Vertrauen des Glaubens deshalb aus auf den, „der überschwänglich tun kann über alles hinaus, was wir bitten oder verstehen“ (Epheser 3, 20).

Gott hat die Macht. Und Gott ist die Liebe.

(Dieser Text war zuerst als dreiteilige Serie in zeitzeichen 10-12/2023 erschienen)

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