Dem tatsächlichen Schutz des Lebens dienen

Theologische Überlegungen zur Diskussion um den rechtlichen Umgang mit dem Schwangerschaftsabbruch
Paragraph 218 im Strafgesetzbuch
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Wieder der Diskussion: § 218 des Strafgesetzbuchs.

Mit der Einsetzung der bereits im Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien angekündigten Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin ist unübersehbar geworden, dass der 1993 gefundene Kompromiss zur rechtlichen Regelung des Schwangerschaftsabbruchs neu ausgehandelt wird. Für die evangelische Kirche und insbesondere für die Diakonie kommt diese Entwicklung nicht überraschend. Das gilt auch für die akademische evangelische Ethik. Denn der Kompromiss, der häufig immer noch als Inbegriff der Befriedung eines hoch aufgeladenen gesellschaftlichen Streits angeführt wird, wird schon länger ausgerechnet von vielen, um die es maßgeblich geht, als unangemessen empfunden: von jüngeren Frauen und insbesondere von denen, die sich in Schwangerschaftskonflikten befinden. Das zeigt die Beratungsarbeit. Dementsprechend haben Ethikerinnen und Ethiker schon länger darauf hingewiesen, dass die geltende Regelung zu sehr aus einer Beobachter- und zu wenig aus einer Betroffenenperspektive entworfen ist und die spezifische, einmalige Situation einer Schwangeren nicht hinreichend berücksichtigt.

Vor diesem Hintergrund hat sich die Evangelische Kirche in Deutschland in einer knappen Stellungnahme zu der konkreten Anfrage der Regierungskommission positioniert, ob sie sich eine Regelung des Schwangerschaftsabbruchs außerhalb des Strafgesetzbuchs vorstellen könnte. Sie fordert, den Lebensschutz nicht primär über die Pönalisierung des Abbruchs und damit der Schwangeren sicherzustellen, vielmehr endlich für die Rahmenbedingungen zu sorgen, die Schwangeren das Austragen der Schwangerschaft in ihrer konkreten Situation ermöglichen. In Respekt vor der besonderen Verbindung zwischen der Schwangeren und dem Ungeborenen sollte das Strafrecht zunächst zurückstehen. Dementsprechend könne sich die rechtliche Regulierung in der ersten Hälfte der Schwangerschaft auf eine Pflichtberatung vor einem Abbruch beschränken. Erst mit der extrauterinen Lebensfähigkeit des Fötus sei eine Situation gegeben, in der diese Form des Schutzes ergänzt werden müsse durch einen eigenständigen und nicht über die Mutter vermittelten, strafrechtlich bewehrten Schutz des Ungeborenen. Die Instanz für den Lebensschutz verschiebt sich somit im Verlauf der Schwangerschaft von der durch die Gesellschaft unterstützten und zu unterstützenden Mutter immer stärker auf den Staat und das Strafrecht, die damit zugleich immer stärker in den privatesten Bereich der Frau eingreift. Insgesamt steht im Zentrum der Überlegungen nicht das Strafrecht, sondern die verantwortungsethisch motivierte Stärkung der Schwangeren und ihres Umfeldes.

Mit diesem Fokus einer Verlagerung des Akzents von der Pönalisierung des Abbruchs zu dem Schutz des Lebens über sozialpolitische Maßnahmen in der ersten Hälfte der Schwangerschaft intendiert der im Blick auf die rechtliche Regelung vom Ziel her denkende Ansatz der EKD nicht weniger, sondern mehr Lebensschutz. Das abgestufte Lebensschutzkonzept, von dem die Stellungnahme spricht, bezieht sich mithin auf die Art der rechtlichen Regelung, nicht auf die theologisch-ethische Bewertung. Dementsprechend hat auch die Ratsvorsitzende Annette Kurschus kürzlich in einem Interview mit der FAZ betont, der Schutz des Lebensrechtes und der Menschenwürde der schwangeren Frau und des ungeborenen Lebens bestehe aus theologisch-ethischer zu jedem Zeitpunkt der Schwangerschaft.

Der theologische Horizont, vor dem die kurze Stellungnahme des Rates der EKD zu sehen ist, wurde dort nicht weiter dargelegt. Dies hat Anlass zu Missverständnissen und auch zu Irritationen gegeben. Allerdings hat der Rat gemeinsam mit der Verabschiedung der Stellungnahme den Auftrag erteilt, diesen Horizont näher zu explizieren und diesen dann zur Grundlage in einer ausführlichen Befassung mit den weitgefächerten Fragestellungen zu machen, die sich mit dem Schwangerschaftsabbruch verbinden. Dieses theologische-ethische Koordinatensystem wird sich dann auch auf die Problemlagen beziehen müssen, die immer genauere und vor allem auch in immer früheren Stadien der Schwangerschaft mögliche Methoden der pränatalen genetischen Diagnostik mit sich bringen: Es entstehen immer früher immer mehr Entscheidungskonflikte für die Schwangeren und für das medizinische Personal. Einige zentrale Leitlinien für eine solche weitergehende Positionierung und zugleich die theologisch-ethischen Überlegungen, die die neue Akzentsetzung der EKD geleitet haben, sollen hier skizziert werden.

1. Schutz des Lebens als theologisches Leitkriterium

Der Begriff „Leben“ ist eine zentrale Bestimmung der biblischen Frömmigkeit. Die erste, grundlegende und alle Texte bestimmende Einsicht lautet: Gott ist der Ursprung, der Schöpfer allen Lebens. Nur durch Gott werden Menschen, Tiere und Pflanzen überhaupt zu lebendigen Wesen. Er schafft, trägt, erträgt, erhält es; der Glaube an ihn nährt auch die Hoffnung, dass am Ende all das, was wir im menschlichen Leben als gebrechlich und gebrochen erleben, heil wird. Gerade im Spiegel des Lebens und der Botschaft des Jesus von Nazareth erkennen wir Grenzen und Verletzlichkeit menschlichen Lebens; zugleich ist uns zugesagt, dass solch konkretes Leben vor Gott unendlich zählt. Deshalb kommt auch in biblischer wie theologischer Perspektive dem Lebensschutz eine fundamentale Bedeutung zu. Das theologisch Gesagte lässt sich auch phänomenologisch reformulieren: Weil das Leben notwendige Bedingung für alles Weitere ist, kommt seinem Schutz grundlegende Bedeutung zu. Wie schon in der Stellungnahme des Rates gegenüber der Kommission für reproduktive Selbstbestimmung und Fortpflanzung so wird auch eine umfassendere Positionierung der Evangelischen Kirche zur Sache bei der Frage ansetzen müssen, was Schutz des Lebens einschließen muss, was ihn theologisch-ethisch begründet und wie er verantwortungsethisch am erfolgreichsten umgesetzt werden kann.

Den Ausgangspunkt bildet dabei eine Überzeugung, die die biblisch-christliche Tradition in starker Konvergenz zu vielen anderen kulturellen Traditionen immer wieder hervorgehoben hat: Eine biologistische Reduktion auf das „nackte“ physiologische Leben greift zu kurz. Denn bereits in den biblischen Traditionen ist Leben, folgt man dem Tübinger Neutestamentler Christof Landmesser, „nicht bloße, nackte, physische Existenz. Das dem Schöpfer und Erhalter verdankte Leben, das von Gott abhängige und auf ihn, seinen Lobpreis ausgerichtete Leben, ist gefülltes, ist reiches, es ist pralles Leben“. Leben ist ein „Relationsbegriff“. Als „auf Gott bezogene[s] Leben“ hat es „notwendig eine soziale Dimension“, menschliches Leben ist – recht verstanden – immer Lebensform.[1] Es ist ein Leben, das – normativ gewendet – der Bestimmung der Gerechtigkeit entspricht. Es ist ein auf „Gemeinschaftstreue“ hin orientierte Leben, das deshalb einen besonderen Blick für beschädigtes Leben, für besonders schwache und verletzliche Menschen hat. Ein solches Leben wird, wie es der evangelische Theologe Bernd Janowski prägnant formuliert hat, sich selbst nur gerecht, wenn es in kommunikativer Solidarität (Aufeinander hören), intentionaler Solidarität (Aneinander denken) und aktiver Solidarität (Füreinander handeln) bestimmt ist respektive sich bestimmen lässt.

Zu schützen sind nicht also nur physiologische Entitäten, die in ihrem Würdeanspruch gegeneinander mehr oder weniger aporetisch gegeneinander abzuwägen sind (wie soll eine solche Abwägung wirklich möglich sein?), also die physiologische Entität der schwangeren Person sowie die Entität des noch ungeborenen menschlichen Lebens. Wer die bioethische Debatte theologisch so zu führen unternimmt, verfehlt den biblisch verbürgten Anspruch an die Lebensbestimmung, der von Anfang an von einer Beziehung her gedacht ist. Eine Diskussion, die den Schutz des Lebens verkürzend über die Pönalisierung der Schwangeren erreichen möchte und nicht im Sinne einer sozialethischen Herangehensweise die Frage der gesellschaftlichen Solidarität und damit die gesellschaftliche Verantwortung in den Mittelpunkt stellt, unterläuft eindeutig diesen anspruchsvollen, die biblische Botschaft maßgeblich prägenden Anspruch an den Schutz des Lebens. Nicht nur aufgrund einer veränderten gesellschaftlichen Konstellation und ihrer Diskurse, sondern vor allem in der Konsequenz dieser Lebensbestimmung hat bereits die Stellungnahme der EKD gefordert, dass eine mögliche Revision der gesetzlichen Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch in einen breiten und inklusiven gesellschaftlichen Diskurs einzubetten sei. An dieser Akzentsetzung wird aus theologischen Gründen festzuhalten sein, insofern Beteiligung und Befähigung an grundlegenden Gesellschaftsfragen Kernelemente einer theologischen Sozialethik sind. Die Gesellschaft als Ganze ist nämlich aus ihrer Verantwortung nie entlassen, für den Lebensschutz und damit primär für familienfreundliche und unterstützende Rahmenbedingungen Sorge zu tragen. Die Verantwortungslast darf deshalb nicht einfach auf den Schultern einer schwangeren Person liegen, und das auch noch so, dass umstandslos mit dem Strafrecht als Drohkulisse gewunken wird, um ein sachgerechtes Verhalten einzufordern. Was haben solche Rechtsregelungen mit dem oben skizzierten reichen Lebensbegriff einer vor Gott praktizierten Lebenssolidarität eigentlich zu schaffen? In der biblischen Tradition stellt, noch einmal mit Christof Landmesser formuliert sich „gelingendes Leben“ nämlich nur dann ein, „wenn Gottverhältnis und das Verhältnis der Menschen untereinander in Ordnung sind“.[2] Unter den Bedingungen der Endlichkeit gilt es dafür Sorge zu tragen, dass die unendliche Zusage Gottes gegenüber seiner Schöpfung und den Menschen auch im Leben bezeugt so wird, dass Botschaft und Form einander nicht widersprechen.

In wünschenswerter Deutlichkeit ist die Problemlage in der kurzen Stellungnahme der EKD thematisiert worden. Hier ist noch einmal zu betonen: Staat und Gesellschaft müssen die Aufgabe des Lebensschutzes, auch des ungeborenen Lebens endlich verantwortungsethisch betrachtet ernstnehmen. Deshalb geht es nicht an, diese Aufgabe in strafrechtliche und medizinische Kontexte und auf Einzelschicksale von betroffenen schwangeren Personen abzuschieben. Schwangere Frauen und Paare müssen Bedingungen vorfinden, die es ihnen ermöglichen, sich auch dann für ein Kind entscheiden zu können, wenn die Schwangerschaft ungeplant war oder sich die Perspektiven der Frau oder des Paares im Laufe der Schwangerschaft verändert haben, sei es durch wirtschaftliche Not, Partnerverlust oder auch pränataldiagnostische Befunde. Der bisherige Ansatz, den Schutz des Lebens – auch des ungeborenen – zu ermöglichen und zu unterstützen, wird hier also auf der Basis der oben genannten biblischen und theologischen Einsichten fortgeschrieben. Das bedeutet, dass die Überlegungen zum Schwangerschaftsabbruch konsequenter als bislang die sozialpolitischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen am Anfang der Überlegungen stehen. Die strafrechtlichen Sanktionierungen hingegen, die sie selbstverständlich nicht vollständig ausschließt, rücken demgegenüber an deren Ende. Es ist zynisch, diese Akzentsetzung als einen Rückschritt für den Lebensschutz zu kritisieren, wo doch diese Rahmenbedingungen maßgeblich dafür verantwortlich sind, dass sich Frauen nicht in der Lage sehen, die Schwangerschaft auszutragen. Ethisch formuliert: Nur die Gesinnung, die ihrem Ansatz auch Taten, hier: der umfassenden Ermöglichung zum Leben, folgen lässt, ist eine verantwortliche Gesinnung.

2. Einbettung der Überlegungen in ein theologisch qualifiziertes Verständnis von Freiheit und Selbstbestimmung

Die Frage nach einem theologisch qualifizierten Verständnis von Selbstbestimmung steht zu Recht im Zentrum der jüngeren bioethischen Debatten. Hier ist, in Übereinstimmung zwischen der kantischen und der evangelischen Tradition festzuhalten: Selbstbestimmung bedeutet nicht beziehungslose Willkür, sondern eine reflektierte Verantwortungsübernahme, die die Folgen für andere mit in Betracht zieht, ja die Verallgemeinerbarkeit zum entscheidenden Kriterium des eigenen Handelns macht. Christlich gesprochen vollzieht sich die Freiheit der Lebensführung immer in dem Spannungsfeld zwischen der Gottes-, Selbst- und Nächstenliebe. Die Bestimmungen des Lebens sind immer als Beziehung zu denken, die der Positionierung des Selbst schon vorausliegt und dessen Identitätsbemühungen bleibend prägen werden. Autonomie, Selbstgesetzgebung aus Freiheit, bringt genau dies zum Ausdruck: Das Selbst in der Beziehung zu anderen zu verstehen und verantwortlich zu leben. Aus diesem Grund waren die frühen Äußerungen der Frauenbewegung – so verständlich ihre apologetische Stoßrichtung auf den ersten Blick erscheint –, die mit dem Slogan „Mein Bauch gehört mir“ ein freies Verfügungsrecht der Schwangeren forderten, zurückzuweisen.

Ehrlich gefragt: Welche Art von Selbstbestimmung kann denn, nüchtern gesprochen, überhaupt im Zustand der (ungewollten) Schwangerschaft gelebt werden? Mehr noch: Nach theologischer Überzeugung bestimmt in jedem Lebensmoment nicht eine Person allein über das eigene Leben, sondern Gott und andere mit. Schon deshalb löst ein verkürzter Rückgriff auf den Topos der Selbstbestimmung bei der Neuausrichtung und Revision der in §218 StGB verankerten Rechtsreglungen nicht alle Fragen. Aus christlicher Perspektive ist nicht alles, was strikt nach Interessen und Bedürfnissen einer oder eines Einzelnen verläuft und entschieden wird, schon deshalb auch gut – weder für das Subjekt, das vor allem selbstbestimmt zu entscheiden meint, noch für das Umfeld des Subjektes, das mit der selbstbestimmten Entscheidung zu tun bekommt.

Weitere Fragen schließen sich an. Welche essenziellen Grenzen der Selbstbestimmung gibt es? Wie ist christlich verstanden das Selbst zu begreifen, das über sich selbst bestimmt und über das andere immer auch mitbestimmen – durch pure Lebensnachbarschaft, Kommunikation und Beratung, getragen von der geglaubten Gottesbeziehung? Wie spielen im Schwanger-sein, auch im ungewollten Schwanger-sein, Momente elementarer, gerade durch die Frauen auch körperlich empfundener Fremdbestimmung mit hinein? Und umgekehrt muss immer auch gefragt werden: Wo schränken das gesellschaftliche und kulturelle Umfeld, zum Beispiel religionskulturell vermittelte oder verstärkte Vorstellungen vom guten Leben und Moral die verantwortlichen Möglichkeiten von Schwangeren und Eltern über Gebühr ein?

Der Rekurs auf die Selbstbestimmung in dieser Debatte bedarf daher einer Einbettung in kritische und auf realistische Ermöglichungsräume achtende ethische und theologische Theoriebildung. Fragen der Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen, Perspektiven der sexuellen, partnerschaftlichen und familialen Rollenerwartung, auch in migrantischen Kontexten, der Zugang zu Verhütungsmitteln, der Grad einer guten Sexualaufklärung und die mit einer Entscheidung für den Abbruch oder aber das Mutterwerden verbundenen Einsamkeitserfahrungen und radikalen Notsituationen sind deutlich stärker in Anschlag zu bringen. All diese Herausforderungen zu thematisieren, ist kein Ausdruck paternalistischer Missachtung von Selbstbestimmung, sondern motiviert dadurch, Selbstbestimmung in ihrer Verletzlichkeit zu sehen und sie so begleitend zu stärken. Und es erfolgt auf der Grundlage einer theologischen Überzeugung: Das souveräne Verfügungsrecht über das Leben liegt christlich gesehen allein bei Gott als Schöpfer. Alle anderen Verfügungsrechte können nur daraus abgeleitete und Gott verdankte Verfügungsrechte sein. In diesem göttlichen Verfügungsrecht findet die Verfügung über das eigene und das Leben der anderen seine Grenze. Theologisch kühn gesprochen: Weder ein einzelnes Geschöpf noch die Gesellschaft darf sich an die Stelle Gottes setzen, um dieses Verfügungsrecht strikt autonom oder strikt fremdbestimmend auszuüben. Beides ist christlich gesehen ein indiskutabler Übergriff in die Heiligkeit des eigenen oder des fremden Lebens.  

3. Deutlichere Ausrichtung aller Überlegungen an der Perspektive der schwangeren Frau als einer theologisch zu reflektierenden Lebenskonstellation sui generis

Eine Neuausrichtung der theologischen Überlegungen sollte in evangelischer Perspektive von der Schwangerschaft und damit der besonderen Situation der Frau her denken. Es führt nicht weiter, rechtlich und ethisch konfrontativ den Schwangerschaftskonflikt so zu modellieren, dass hier zwei gleichberechtigte Lebensansprüche nebeneinanderstehen, und daraus dann zu folgern, dass der Frau sanktionierende Vorschriften gemacht werden, wie sie sich zu diesem in ihr entstehenden werdenden Leben zu verhalten habe. Ebenso hat es sich als Sackgasse erwiesen, über die Frage nach dem Status des Embryos klären zu wollen, ob diesem Würde zukommt oder nicht. Selbst wenn man willig ist, mit dem Bundesverfassungsgericht festzuhalten „Wo menschliches Leben ist, kommt ihm Würde zu“, entkommt man dem moralischen, rechtlichen und vor allem menschlichen Konflikt nicht, dass sich die Würde des Embryos nicht gegen die Würde der schwangeren Frau durchsetzen lässt. Darüber sind sich in Deutschland nahezu alle einig. Von daher sollte man diesseits eines „Würde“-Aufrüstens, das niemandem nutzt, nach verantwortlichen Lösungswegen suchen. 

Theologische Ethik hat hier einen Lernprozess im Austausch mit der Frauenbewegung und der feministischen Ethik durchlaufen, die die Konfliktlage nüchterner, differenzierungsfähiger, ehrlicher und, man muss es sagen, weniger aus einer männlichen Außenperspektive zu beschreiben gelehrt hat. Denn einen Mutter-Kind-Konflikt in der Konfrontation zweier Menschenleben in Gestalt einer daraus resultierenden (Lebens-)Rechtsabwägung zu bauen, verkennt die besondere Situation der körperlichen Verbundenheit und gegenseitigen Abhängigkeit von Frau und werdendem Kind. Der eigene Körper der Mutter wird gleichsam zunehmend von dem heranwachsenden Leben eines anderen Menschen in Besitz genommen. Zugleich bleibt die schwangere Frau eine Lebensform sui generis, einer Lebenszweiheit in einer Lebenseinheit, und das bei einer extrem hohen Entwicklungsdynamik insbesondere in der ersten Hälfte der Schwangerschaft. So sehr also betont werden muss, dass es eine elementare Würdeverletzung und leibphänomenologisches Missverständnis ist, das werdende Leben einfach als Körperteil der schwangeren Person zu bezeichnen, so sehr muss doch auch die Besonderheit der einmaligen Verbindung und die Asymmetrie in der Beziehung berücksichtig werden.Dabei gilt: Eine schwangere Person ist zunächst ein vitales komplexes Subjekt, theologisch gewendet: eine besonders vor Gott zu würdigende Personenkonstellation – eben im Prinzip: „guter Hoffnung“ – und primär kein Objekt strafrechtlicher Betrachtungen, dem von externer Seite aus der sozialen Distanz Vorschriften und Verbote aufzuerlegen sind. Sie durchlebt psychische und physiologische Veränderungen singulärer Art.

Wird im Umgang mit nicht gewollter Schwangerschaft der Akzent auf die besondere Berücksichtigung der Lebenssituation von (schwangeren) Frauen gelegt, wird ein grundlegende, ebenfalls sozialethisch relevante Problematik nur noch deutlicher: Die die Schwangerschaft mitherbeiführenden Partner werden bislang nicht in ansatzweise gleicher Weise wie die schwangere Person in die Beratung und in den Verantwortungsbereich für die Schwangerschaft einbezogen. Die grundlegende Beteiligung wird zumindest im Recht, oft aber auch in den Debatten um Schwangerschaftsabbruch, systematisch unsichtbar gemacht. Partner, die sich dieser Verantwortung entziehen, machen sich aber am Leben der schwangeren Person sowie dem des werdenden menschlichen Lebens schuldig. Obwohl es, mit guten Gründen, nur im Entscheidungsbereich der schwangeren Person steht, einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen, widerstrebt es doch der Gerechtigkeit, dass nur die schwangere Person, nicht jedoch der mitbetroffene Partner rechtlich oder gar strafrechtlich belangt wird – ganz zu schweigen davon, dass auch gemäß dem hier vertretenen Ermöglichungsansatz, eine verantwortliche Entscheidung fällen zu können, die Beziehung zum Partner beim Umgang mit ungewollter Schwangerschaft nicht abgeblendet werden darf wie bisher: Dass gerade in schwierigen Konfliktsituationen die Partner den betroffenen Frauen nicht zur Seite stehen oder gar zum Abbruch der Schwangerschaft nötigen, ist ein aus der Beratungsarbeit nur allzu bekanntes Faktum. Die Rolle des potenziell werdenden Partners muss im Schwangerschaftskonflikt deshalb stärker berücksichtigt, die systemischen Bedingungen von Frauen in diesem existenziellen Konflikt besser verstanden, aber auch erforscht werden. Gerade wenn Selbstbestimmung als Verantwortlichkeit in Beziehungen konzipiert wird, ist diese Dimension der Verantwortung zu berücksichtigen.

4. Unterscheidung von ethischem und rechtlichem Lebensrecht von der Frage der Schuld

Das in der schwangeren Frau heranwachsende menschliche Leben hat von Beginn an ein Lebensrecht. Wird diesem menschlichen Leben das Lebensrecht streitig gemacht, stellt sich unweigerlich die Schuldfrage. Eine Gesellschaft, die trotz einer im weltweiten Vergleich weit überdurchschnittlichen ökonomischen Lage, trotz auch entsprechender Mahnungen durch die Sozialverbände, die Kirchen und auch des Verfassungsgerichts, nach wie vor nicht die Rahmenbedingungen geschaffen hat um die seit langem nahezu konstant hohe Zahl von Schwangerschaftsabbrüchen radikal zu reduzieren, macht sich theologisch gesehen vor Gott schuldig. Es erscheint aus wiederum theologisch motivierten Gerechtigkeitsgründen grob unfair, diese Frage der Schuld via strafrechtlicher Sanktion vollständig auf die schwangere Person abzuladen. Diese elementar dem ethischem Lebensrecht zuzuordnende Frage der Schuld wäre in Zukunft von rechtlichen Lebensrechtsfragen zu unterscheiden, nicht um das mit der ethischen Lebensrechtsgefährdung benannte Problem zu relativieren, sondern es in einen sachangemessenen Kontext einzustellen und in einer sozialethischen und sozialpolitischen Debatte allererst groß zu machen. Hinter einer solchen Unterscheidung, nicht Trennung, steht keine Selbstsäkularisierung, sondern der Gedanke, in einer komplexen und weltanschaulich pluralen Gesellschaft die Wahrnehmung dafür aufrecht zu erhalten, dass Schwangerschaftsabbrüche minimiert werden soll, aber nicht die Frage der Schuld auf eine verletzliche Person abgewälzt werden darf.

5. Theologisch motivierte deutlich stärkere Berücksichtigung der sozialen Kontexte und Situationen ungewollter Schwangerschaften

Leben vor Gott ist Leben in responsiver, kommunikativer, intentionaler und aktiver Solidarität. Damit ist der theologische Grund genannt, weshalb die Situation und die Lebenswirklichkeit von Frauen, die ungewollt schwanger geworden sind besonderer Beachtung und Sorgfalt bedarf. Hier helfen vor allem auf der Ebene der lebenspraktischen Herausforderungen und Lagen die tiefen Einblicke der Beratungsarbeit in der Schwangerschaftskonfliktberatung und der medizinischen Begleitung in der Geburtshilfe. Die Schwangeren, die zur Beratung oder Behandlung kommen, haben sich, so die nahezu einhellige Auskunft aus den genannten Bereichen, im Blick auf Prägung und Motivlagen stark verändert. Das Feld ist deutlich diverser geworden. Diese sich diversifizierende Situationslandschaft hat das rechtliche Regelungsregime, das sich mit dem §218 verbindet, nicht vor Augen.

So weisen die Erfahrungen aus der Beratungsarbeit und der medizinischen Betreuung von Schwangeren im Rahmen der Pränataldiagnostik darauf hin, dass der Wissensstand der betroffenen Frauen und Paare im Blick auf die Deutung und den Umgang mit entsprechenden Diagnoseergebnissen sehr schlecht ist. Recht und Ethik müssen sich davor hüten, mit falschen Vorstellungen über das Vorwissen der Frauen und Paare Urteile abzugeben. Es handelt sich immer noch um ein stark tabuisiertes Themenfeld: Keine Person setzt sich freiwillig mit diesem Thema auseinander, solange sie nicht selbst in die Situation kommt – und selbst wenn sie das täte, liegt eine entscheidende Differenz zwischen den imaginierten und den realen Konfliktszenarien. Diese Differenzen und auch die zugrundeliegenden Entscheidungskonflikte, in denen elementare Lebensperspektiven des heranwachsenden menschlichen Lebens und die mögliche Zerstörung der eigenen biographischen Perspektiven in Konflikt stehen, sind zu beachten, wenn es nicht zu einer Überforderung kommen soll, die strafrechtlich zu sanktionieren heikel, vor allem unangemessen bleibt. Hier statt pönalisierend aufklärend und beratend zur Seite zu stehen, ist nicht nur primäre Aufgabe der Gesellschaft, sondern auch des Staates und damit des Gesetzgebers.

Wenn statt strafrechtlicher Belangung deutlich stärker die Frage nach den sozialen Kontexten und Situationen der Schwangeren beachtet werden muss, verdienen Minderjährige, die ungewollt schwanger werden, besondere Aufmerksamkeit. Darüber hinaus sind Benachteiligungen durch Bildungsferne und beziehungsweise oder schwierigen ökonomischen Verhältnissen in Rechnung zu stellen. So ergibt die Studienlage, dass Hauptschülerinnen von einer ungewollten Schwangerschaft öfter betroffen sind als Gymnasiastinnen. Oftmals betrifft es arbeitslose Minderjährige beziehungsweise ohne Ausbildungsplatz, die besonders oft arbeitslose Eltern haben.

Dies vor Augen gilt es zu diskutieren und ehrlich zu fragen: Ist die Drohung mit dem Strafrecht ein ethisch angemessener Weg, bestimmt nicht freiwillig gewählter Unerfahrenheit sowie Uninformiertheit in Fragen der Verhütung – viele haben geglaubt, mit sogenannten sicheren Methoden verhütet zu haben – von Seiten der Gesellschaft und des Staates zu begegnen? Wie sind die Kosten und je nach kultureller Prägung stark empfundenen Unannehmlichkeiten einer gynäkologischen Untersuchung einzuschätzen?

Vor dem Horizont dieser Fragen drängt es sich theologisch-ethisch, aber auch kirchlich gewendet geradezu auf, der Seelsorge vor dem Strafrecht den Vorrang zu geben. Ins Säkulare und in das rechtlich Modellierbare und politisch zu Entscheidende gewendet, bedeutet dies, das Augenmerk auf umfassende und strikte Beratungspflicht zu legen. Aus den einschlägigen Beratungserfahrungen ist bekannt, dass gerade auch diejenigen Schwangeren, die vom guten Sinn einer Beratung eher weniger überzeugt waren, nach einer Beratung oft sehr froh waren, sie absolviert zu haben. Eine sachlich kundige, seelsorgerlich empathische, die religiös, moralisch und psychisch lauernden Schuldabgründe gewärtigende Beratung nimmt in der Beratungssituation gleichsam stellvertretend die gesellschaftliche Mitverantwortung mit der und für die schwangere Person wahr – auch vor Gott. Dies kann in einer implizit theologischen Weise ganz weltlich in einer säkularen Beratungseinrichtung geschehen und findet aus kirchlicher Perspektive, umso überzeugender explizit theologisch, in einer diakonisch-caritativen Einrichtung seinen selbstverständlichen Ort. Es wäre und ist ein konstantes Versagen, wenn die Kirchen und diakonischen Einrichtung nicht willens und in der Lage sind, eine entsprechende Beratungslandschaft für alle ungewollt Schwangeren bereit zu halten.

 

[1] Vgl. Christof Landmesser, Der Vorrang des Lebens, in: Das Leben, Band 1, Tübingen 2009., Seite 122.

[2] Vgl. aaO., S. 123.

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Petra Bahr

Petra Bahr (*1966) ist studierte Theologin und Philosophin und war von 2006 bis 2014 die erste Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland, leitete dann gut zwei Jahre die Hauptabteilung "Politik und Gesellschaft" der Konrad-Adenauer-Stiftung, bevor sie seit 2017 Regionalbischöfin des Sprengels Hannovers ist. Seit 2020 ist sie Mitglied des Deutschen Ethikrates.

Peter Dabrock

  Peter Dabrock ist seit 2010 Professor für Systematische Theologie mit dem Schwerpunkt Ethik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Von 2012 bis 2020 war Dabrock Mitglied des Deutschen Ethikrates und von 2016 bis 2020 dessen Vorsitzender.

Stephan Schaede

Stephan Schaede, (*1963) ist  Leiter des Amtsbereichs der VELKD
und Vizepräsident im Kirchenamt der EKD in Hannover. Zuvor war der promovierte Systematische Theologe von 2021 an Regionalbischof im Sprengel Lüneburg und von 2010 bis 2020 Direktor der Evangelischen Akademie in Loccum.

 


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