Fundamente des Lebens

Was es bedeutet, in Krisen auf Gott zu vertrauen
Fenster des Glaskünstlers Johannes Schreiter in einer Ausstellung im Galerieraum der Neuen Stadthalle im hessischen Langen (2020).
Foto: epd
Fenster des Glaskünstlers Johannes Schreiter in einer Ausstellung im Galerieraum der Neuen Stadthalle im hessischen Langen (2020).

Kann eine Vergegenwärtigung christlicher Gewissheiten bei der seelischen Bewältigung der multiplen Krisen unserer Tage helfen? Die Hannoveraner Theologin Mareile Lasogga bringt in einem dreiteiligen Text die Fundamente christlichen Glaubens mit den Herausforderungen der Gegenwart ins Gespräch. Nach dem ersten Teil in der Oktoberausgabe folgt nun der zweite.

Wer ist Gott? Gott ist in seiner Trans­zendenz außer und über allen Dingen; er wirkt zugleich aber auch durch alle Dinge und in allen Dingen (Epheser 4,6). Gott ist in der Welt gegenwärtig und in den Ereigniszusammenhängen der Natur, wie auch der menschlichen Geschichte, am Wirken. Und er tut dies in Verbindung mit den Menschen als seinen – wissenden und unwissenden, willigen und unwilligen – Mitarbeitenden. Wenn Gott sich zu erkennen gibt, erschließen sich deshalb nicht abstrakte Einsichten, sondern Menschen machen konkrete Erfahrungen mit Gott in ihren individuellen und gemeinschaftlichen Lebenszusammenhängen. Gottes Selbstvergegenwärtigung – theologisch: seine Offenbarung – ereignet sich immer in konkreten Situationen und Phänomenen des Lebens. Die alttestamentlichen Propheten hören Gottes Wort zu einem bestimmten Zeitpunkt, manchmal an bestimmten Orten (Jeremia 18,2.5; Ezechiel 3,22), in einer bestimmten Situation und zu einem bestimmten Zweck. Bezeichnend ist dafür die Frage: „Was siehst du?“ (Jeremia 1,11; 24,3; Sacharja 5,5). Was Gott Menschen von sich zu erkennen gibt, kann und will nicht im Sinne dogmatischer Aussagen verstanden und als historisch gewachsene Traditionen rezipiert werden, sondern in individuellen Lebensvollzügen persönlich angeeignet werden. „Was siehst du?“ Was ist es, das Gott mir zeigt, was lässt er mich hören, was will er, dass ich erkenne und tue – hier und jetzt?

Geheimnis der Personalität

Gott begegnet seiner Welt als ein lebendiges Gegenüber; er verhält sich zu seiner Welt und zu seinen Menschen. Die biblischen Aussagen über Gott, alle Beschreibungen seines Wesens, sind keine abstrakten Theoreme, sondern es geht um die Äußerung eines Willens. Theologisch ist damit das Geheimnis der Personalität Gottes angesprochen. Gott wendet sich Menschen zu, und er verbirgt sein Antlitz vor ihnen. Er richtet und rettet. Er ruft Menschen ins Leben, und er lässt sie sterben. Gott lässt sich erbarmen, er lässt mit sich verhandeln, er warnt, er straft und er vergibt. Er begibt sich in die Abgründe menschlichen Elends, und er verschließt seinen himmlischen Tempel (Offenbarung 15,8). Gott ist heiliger, gerechter, unerforschlicher Wille, der sich nicht aus übergeordneten Prinzipien ableiten lässt. Dies gilt auch für die Beschreibung des Wesens Gott als Liebe. Das Evangelium verkündet Gottes Willen, zu lieben, und dies in der besonderen Art und Weise und unter den Bedingungen, die er in Jesu Leben, Sterben, Tod und Auferstehung kundgetan hat (Epheser 1,3–14).

Dass Gott sich willentlich zu seiner Welt verhält, bedeutet, dass er sich urteilend zu den Dingen verhält, die in der Welt geschehen, die Menschen tun und unterlassen. Das lässt sich auch an Jesu Umgang mit den Menschen ablesen: Er spricht die einen selig und über die anderen seine Wehe-Rufe. Er nimmt die Sünder vorbehaltlos an und ermahnt und warnt zugleich unmissverständlich. Seine Gleichnisse erhellen und verdunkeln Menschen ihren Sinn. Seine Worte gereichen den einen zum Heil, den anderen werden sie zum Gericht. Er verleiht seinen Jüngern die Kraft des Heiligen Geistes, um Sünden zu erlassen, gibt ihnen aber auch Vollmacht, sie den Menschen zu belassen.

Zorn und Liebe

Der Wille Gottes – auch das bezeugen die biblischen Texte beider Testamente in aller Klarheit – ist durch Verneinung und Bejahung, theologisch gesprochen durch Zorn und Liebe, bestimmt. Gott ist in seiner Welt richtend und rettend gegenwärtig. Sein Wirken manifestiert sich in den individuellen und kollektiven Lebensschicksalen als Gericht und Gnade. Sein Wort wird hörbar als Gesetz und Evangelium. Diese Ambivalenz des göttlichen Willens findet ihren Niederschlag in den ambivalenten, widersprüchlichen Erfahrungen unseres Lebens.

Die Erfahrungen, die wir im Laufe unseres Lebens mit Gott machen, sind deshalb spannungsvoll. Wir erleben seine Güte und seine Strenge, seine Liebe zum Sünder und seinen Zorn über die Sünde. Luther hat diese Ambivalenzen in exemplarischer Weise persönlich erfahren und theologisch reflektiert. Zwei Dinge haben Christen ihm zufolge zu lernen: Gott ist in seiner Heiligkeit zu fürchten und in seiner barmherzigen Zuwendung zum Menschen zu lieben. Mit und in dieser Ambivalenz zu leben, gelingt nur im Vertrauen des Glaubens. Darum gehört für Luther zur Furcht und zur Liebe Gottes konstitutiv das Vertrauen hinzu. „Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen“, so Luthers Kommentar zum ersten Gebot im Kleinen Katechismus. Gott fürchten, lieben und ihm in beidem vertrauen – das ist die Trias, in der sich christliches Leben vollzieht.

Das Evangelium verkündigt kein unwandelbar gültiges Prinzip der Liebe Gottes. Was Jesus Menschen gelehrt hat, lässt sich deshalb nicht von seiner Person abstrahieren und im Sinne abstrakter Ideen oder handlungsleitender Maximen prinzipialisieren. Das Evangelium verkündigt die Botschaft von der Versöhnung der Welt, die Gott zu einer bestimmten Zeit im Leben, Sterben und Auferstehen des Menschen Jesus von Nazareth realisiert hat. „Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung“ (2. Korinther 5, 19). Das Evangelium ist die gute Nachricht, dass Gott in Christus seine Liebe über seinen Zorn hat siegen lassen. In Christus bietet Gott allen Menschen vorbehaltlos seinen Frieden an. An Christi statt richtet die Kirche die Botschaft aus: „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ (2. Korinther 5,20). Das ist der Grund, warum man das Evangelium nicht ergreifen kann, ohne zugleich auch den Ruf zur Umkehr zu hören (Markus 1,15). Beides gehört untrennbar zusammen. Die Botschaft Jesu lautet nicht: „Alles wird gut“, sondern: „Heute, wenn ihr seine Stimme hören werdet, so verhärtet eure Herzen nicht!“ (Hebräer 3,7f.).

Gott und das Schicksal: Die individuellen und kollektiven Krisenerfahrungen im Zuge der Coronapandemie, des russischen Angriffskrieges und des Klimawandels lassen sich als Erleben von „Widerfahrnissen“ deuten. Der Theologe Ingolf Dalferth versteht unter diesem Begriff positive und negative Vorkommnisse mit lebensverändernden Folgen, die Menschen ohne eigenes Zutun und meist unerwartet erleben, zum Beispiel die Begegnung mit einem wichtigen Menschen oder eine Krankheit. Für die durch ein Widerfahrnis ausgelösten Veränderungen ist charakteristisch, dass die davon berührten Personen und Gemeinschaften damit faktisch leben müssen. Es ist nicht möglich, sich zu einem Widerfahrnis nicht zu verhalten.

Die etwas sperrig anmutende Kategorie des Widerfahrnisses scheint mir für den deutenden Umgang mit Krisenerfahrungen aufschlussreicher zu sein als die geläufigere Kategorie der „Kontingenz“. Kontingenz thematisiert ein faktisch Gegebenes im Hinblick auf sein mögliches Anderssein. Kontingent ist, was nicht notwendig ist, aber auch nicht unmöglich ist und somit auch anders sein könnte. Kontingenz lässt sich auch auf Ereignisse beziehen, die keinen Bezug zum erlebenden Subjekt haben. Für das Widerfahrnis hingegen ist der Bezug zum Subjekt konstitutiv: Im positiven Fall fällt mir etwas zu, im negativen Fall stößt mir etwas zu. So oder so macht es etwas mit einem Menschen, innerlich wie äußerlich. Damit stellt sich die Aufgabe, die Widerfahrnisse, die unser Leben persönlich wie gesellschaftlich in kritischer Weise affizieren, theologisch zu deuten und geistlich zu bewältigen.

In den wechselvollen Widerfahrnissen des Lebens machen Menschen auch wechselvolle Erfahrungen mit Gott. In Erlebnissen der Bewahrung, Beglückung und Bereicherung kommt Gott uns nahe in seiner Güte als Schöpfer, in seiner Liebe als Vater Jesu Christi, den wir als ein Du im Gebet anrufen. In Zeiten der Krise, im Angesicht der Rätselhaftigkeit des Lebens ist Gott uns verborgen in der Undurchdringlichkeit des Schicksals. Um die Erfahrungen des verborgenen Gottes theologisch zu verorten, scheint mir im Anschluss an Oswald Bayer die Unterscheidung zwischen Gottes „verständlichem“ und seinem „unverständlichen“ Zorn weiterführend zu sein.

Gottes verständlicher Zorn ist Ausdruck seiner Reaktion auf menschliche Sünde. Große Teile des Alten Testaments sind von diesem Gedanken geprägt: Gott wirbt in Liebe um sein Volk, das ihm aber immer wieder untreu wird. In den Manifestationen seines Zornes erkennen Menschen ihre Schuld, bitten um Vergebung und wenden sich Gott wieder zu. Der Zorn Gottes wird damit „verständlich“ als die Kehrseite seiner Liebe. Diese Figur – in der auch die Rede von der Strafe Gottes verortet ist – durchzieht viele Psalmen. Wie besonders an den Psalmen deutlich wird, ist Gott dem Beter jedoch auch im Zorn verbunden; er bleibt ihm ein personal zugewandtes Gegenüber, das der Beter ansprechen darf und dem er sich in seiner Not anvertrauen kann.

Davon zu unterscheiden sind Begegnungen mit Gott, die sich der personalen Erschlossenheit entziehen und alltagssprachlich als Schicksal bezeichnet werden. Theologisch sind damit Erfahrungen im Blick, in denen Gott Menschen nicht mehr nahe, sondern „fern“ ist (Jeremia 23,23), unerreichbar, verborgenen menschlichen Bitten entzogen (7,16). Dietrich Bonhoeffer notiert in der Haft anderthalb Monate vor seiner Hinrichtung seine Erfahrungen mit dem Gott, der ihm nicht nur im Du, sondern auch „vermummt“ im „Es“ des Schicksals begegnet. Dieser im Schicksal verborgene Gott ist eine undurchdringliche Macht. Die Erzählung von Jakobs Kampf am Jabbok (Genesis 32,23 ff.) bringt in exemplarischer Weise die Abgründigkeit dieser Begegnung zum Ausdruck. Als Jakob seine Familie und Hab und Gut sicher über den Fluss gebracht hat, bleibt er allein zurück. Es wird dunkel und an der Furt des Jabbok tritt ihm plötzlich ein Widerstand entgegen: „Da rang ein Mann mit ihm“ (32,25). Ein Unbekannter droht ihn zu überwältigen. Jakob wird in einen Kampf verwickelt, der eine ganze lange Nacht andauert.

Ganz persönlicher Kampf

Was ist mit den Menschen, die während der Coronapandemie auf überfüllten Krankenhausfluren ohne Beatmungsgerät gestorben sind? Menschen, die von eingestürzten Häusern in der Türkei und in Syrien begraben oder lebenslang verwundet wurden? Menschen, die im Grauen des Krieges in der Ukraine, in den Dürregebieten Afrikas, in vom Feuer zerstörten Landstrichen in Südeuropa ihren ganz persönlichen Kampf kämpfen müssen? Sind diese Menschen Opfer des Schicksals, oder ist Gott ihnen auch in dieser namenlosen Unergründlichkeit nahe? Schärfer formuliert: Hat die Unergründlichkeit des Schicksals das letzte Wort oder dürfen die Menschen hoffen, dass Gott sich ihnen – in welcher Weise auch immer – als ein personales Gegenüber, als ein Du, erfahrbar machen wird? Welche Gründe gibt es für die Hoffnung, dass unser Schicksal – mit Bonhoeffer zu reden – „Führung“ wird und wir gewiss sein dürfen, dass nicht die Erfahrung des Schicksals das letzte Wort behält, sondern die Erlösung von allem Bösen, um die wir im Vaterunser bitten.

Gegen die Realitäten

Jakob ringt mit dem Unbekannten und dieser Kampf hinterlässt Spuren in seinem Leben. Jakob hinkt fortan. Am Ende jedoch ringt er dem Unbekannten seinen Segen ab. Die Geschichte macht deutlich, dass der Glaube „an“ Gott immer auch ein Glaube „gegen“ die Realitäten des Lebens ist, mit denen wir konfrontiert werden. Wenn die Härte des Schicksals sich uns in den Weg stellt, wenn sie die Zukunft in Frage stellt und uns damit Gottes Abwesenheit oder gar seine Nicht-Existenz zu bezeugen scheinet, sollten wir uns daher fragen, ob diese Erfahrungen tatsächlich im Widerspruch zu Gott stehen oder nicht vielmehr zu unseren Vorstellungen, wie Gott sich verhalten und in der Welt handeln müsste. Die Krise wirft die Frage auf, ob der immer nur nahe und liebende Gott, an den wir gern unser Herz hängen, möglicherweise ein Bild ist, das wir uns selbst gemacht haben (Amos 5,26).

Jakob macht die Erfahrung, dass seine Vorstellungen von Gott zerbrechen. In seinem Kampf wird er schließlich zur Anerkenntnis des Gottes geführt, der sich ihm zu erkennen gibt, als der, der er wahrhaftig ist: „Ich habe Gott von Angesicht gesehen und doch wurde mein Leben errettet“ (Genesis 32,31). Gott ist Herr über alles, was wir an Schrecklichem und Schönem erleben. Er „tötet und macht lebendig, führt hinab zu den Toten und wieder herauf“ (1. Samuel 2,6). Neben dem Faszinosum hat die Begegnung mit Gott immer auch etwas Unheimliches, ein Tremendum. 

 

Lesen Sie den dritten und letzten Teil der Serie von Mareile Lasogga in der nächsten Ausgabe von zeitzeichen.

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Theologie"