Fundamente des Lebens (I)

Was es bedeutet, in Krisen auf Gott zu vertrauen
Fenster des Glaskünstlers Johannes Schreiter in einer Ausstellung im Galerieraum der Neuen Stadthalle im hessischen Langen (2020).
Foto: epd
Fenster des Glaskünstlers Johannes Schreiter in einer Ausstellung im Galerieraum der Neuen Stadthalle im hessischen Langen (2020).

Kann eine Vergegenwärtigung christlicher Gewissheiten bei der seelischen Bewältigung der multiplen Krisen unserer Tage helfen? Die Hannoveraner Theologin Mareile Lasogga bringt in einem dreiteiligen Text die Fundamente christlichen Glaubens mit den Herausforderungen der Gegenwart ins Gespräch. Hier der erste Teil.

Wir machen zurzeit Erfahrungen mit gesellschaftlich einschneidenden Krisen unterschiedlicher Art: die Folgen der Corona-Pandemie, der russische Überfall auf die Ukraine, die Inflation, die Folgen des Klimawandels. Diese Krisen haben Folgen für unterschiedliche Entwicklungen im globalen Zusammenhang wie beispielsweise die Zunahme von Flucht und Vertreibung, die Verschärfung der weltweiten Ernährungsunsicherheit, die Destabilisierung der Sicherheitsarchitektur und die Unterminierung demokratischer Institutionen. Die Krisen stellen politische und gesellschaftliche Leitvorstellungen in Frage, sie verändern das Lebensgefühl und trüben die Erwartungen an die Zukunft.

In der Erfahrung von Krisen stellt sich in persönlichen wie gesellschaftlichen Lebenskontexten immer auch die Frage nach den Fundamenten, auf denen wir unser Leben gründen. Auch wenn diese Frage nicht explizit gestellt und reflektiert wird, entscheidet sich an dieser Stelle, wie Einzelne, Gemeinschaften und Gesellschaften auf Krisen reagieren und wie sie mit ihnen umgehen. Haben wir auf Felsen gebaut, ist das Fundament stabil und wird den Stürmen des Lebens standhalten. Menschen können nüchtern bleiben, gelassen, zuversichtlich und handlungsfähig. Haben wir jedoch auf Sand gebaut, wird es uns den Boden unter den Füßen wegziehen. Angst und Perspektivlosigkeit machen sich dann breit, das Gefühl der Ohnmacht greift Raum und macht Menschen anfällig für Verführer unterschiedlicher Couleur (vergleiche Lukas, 6,48 f.).

Kritische Prüfung

Die Frage nach dem Fundament des Lebens fordert heraus, die Prioritäten in unserem Leben einer kritischen Prüfung zu unterziehen und diese gegebenenfalls neu zu justieren. Wer oder was hält mich? Was trägt mich durch die Wechselfälle des Lebens? Welche Einsichten leiten mich? An welchen Werten und Überzeugungen orientiere ich mich? Worauf kann ich mich verlassen? „Was darf ich hoffen?“ Die letzte Frage führt nach Kant direkt in den Bereich der Religion.

Im Folgenden wird der Versuch unternommen, die Erfahrungen mit und in den gegenwärtigen Krisen im Zusammenhang des Glaubens zu reflektieren. Das bedeutet, sich der Aufgabe zu stellen, die Erfahrungen, die wir aktuell machen, mit Gott und seinem Wirken in der Welt in Beziehung zu setzen und diese in ihrer existenziellen Relevanz zu erhellen. Anders formuliert: Ich möchte der Frage nachgehen, was es lebenspraktisch bedeuten könnte, in Krisen auf Gott zu vertrauen.

1. Christus ergreifen: „Woran du dein Herz hängst und verlässt dich darauf, das ist eigentlich dein Gott“, schreibt Luther in seiner Erklärung des Ersten Gebots im Großen Katechismus. Wer sich Gott zu nähern sucht, wer von Fragen nach dem Glauben umgetrieben wird, den verweist Luther auf das Vertrauen des Herzens. Das Herz – nicht der Kopf – ist der geistige Raum, in dem der Glaube entsteht, sich bewährt und entwickelt.

Warum gerade das Herz? Ob ich glauben kann oder nicht, hängt nicht – zumindest nicht in erster Linie – davon ab, ob ich bestimmten Glaubensinhalten kognitiv zustimmen kann, ob ich rational einsichtige Antworten auf meine Fragen finde oder ob es mir gelingt, meine Zweifel an bestimmten Dogmen zu überwinden. Glauben stellt sich vielmehr ein in der Erfahrung von Evidenz, die mir Dinge gewiss werden lässt. Gewissheit lässt sich anders als Wissen nicht aktiv erwerben, sondern stellt sich in unverfügbarer Weise ein, wenn sich mir etwas erschließt, indem mir etwas einleuchtet. In einem begrifflich sehr präzisen und nicht nur bildlich-illustrativen Sinn spricht die Bibel von den „erleuchteten Augen des Herzens“, denen Christus in seiner Wahrheit, seiner Kraft und seiner Herrlichkeit gegenwärtig ist (Epheser 1,18).

Die Gewissheit des Glaubens wird lebenspraktisch konkret im Vertrauen des Herzens. Glauben ist, mit Schleiermacher zu reden, keine Sache des Wissens, auch nicht der Moral, sondern ein „Gefühl“. Damit ist nicht das sinnliche Erleben einer Emotion gemeint, sondern das umfassende und unmittelbare Selbsterleben, in dem ein Mensch sich seiner eigenen Existenz, seiner Haltung zum Leben und seiner Einstellung zur Zukunft bewusst wird. Alltagssprachlich könnte man von einem „Lebensgefühl“ sprechen. Glauben als Vertrauen des Herzens ist deshalb primär auf der vorreflexiven Ebene des Selbstbewusstseins zu verorten. Diese ist kategorial zu unterscheiden von der Ebene der gegenständlichen Reflexion, auf der Menschen ihren Glauben begrifflich reflektieren, im Kontext der kirchlichen Gemeinschaft bekennen und darüber in der Öffentlichkeit vernünftig Rechenschaft geben.

Dieser Glaube, so Luther, ist kein Gedankengebilde, sondern eine lebendige, tätige Kraft. Glaube ist eine praktische Angelegenheit; es geht im Wesentlichen darum, etwas zu tun. Wir finden Gott nicht, indem wir Antworten suchen auf spekulative Fragen, beispielsweise ob Gott existiert, warum es das Böse in der Welt gibt oder wie man sich das ewige Leben vorstellen soll.

Schlicht, aber wirkungsvoll

Darüber lässt sich gut streiten und endlos diskutieren. Kritische Fragen und theoretische Auseinandersetzungen mit Glaubensthemen sind kein Kennzeichen der modernen Welt, sondern werden bereits im Neuen Testament mit Jesus selbst ausgetragen: „Wer ist mein Nächster?“ (Lukas 10,29). „Meinst du, dass nur wenige selig werden?“ (Lukas 13,23). „Was wird das Zeichen sein für das Ende der Welt?“ (Matthäus 24,3).

Es ist aufschlussreich, dass Jesus auf diese Fragen in der Regel keine Antwort gibt, die die Fragenden kognitiv befriedigt. Er sagt ihnen im Gegenteil, dass sie etwas tun sollen: Suchet! Bittet! Wachet! Ringet! Was das konkret bedeuten könnte, illustriert die Geschichte von der sogenannten blutflüssigen Frau: Die kranke Frau schleicht sich von hinten an Jesus heran. Obwohl sie sich fürchtet, fasst sie sich ein Herz und ergreift ihn am Saum seines Gewandes in der Hoffnung, durch die Berührung gesund zu werden. Eine ebenso schlichte wie wirkungsvolle Geste: Die Frau kommt in Beziehung mit der Kraft, die von Jesus ausgeht. Das ist entscheidend; darum wird sie gesund (Markus 9,20 ff.). Wer der ist, den sie da berührt hat, und was sein Geheimnis ist, das begreift sie erst später, nach und nach, als Jesus sich zu ihr umdreht und mit ihr zu sprechen beginnt.

Die Gewissheit, die sich dem Trauen des Herzens erschließt, will auch mit begrifflichen Mitteln reflektiert werden. Glauben und Verstehen gehören untrennbar zusammen. Das Verstehen folgt notwendigerweise aus der Gewissheit des Glaubens – aber nicht umgekehrt. Die Gewissheit des Glaubens erschließt sich nicht, wenn der Kopf alle Zweifel überwunden hat. Es hängt alles daran, dass ich mit Christus in Kontakt komme, dass ich es wage, nach ihm zu greifen, und in Berührung komme mit der Kraft, die von ihm ausgeht und zu mir übergeht.

2. Das Wunder des Geistes: Wie aber komme ich überhaupt dazu, mein Herz an Gott zu hängen? Die Erfahrung zeigt, dass man Vertrauen nicht aktiv herbeiführen oder gar erzwingen kann. Bildlich gesprochen: Das Herz muss entzündet werden, damit es brennt. Das gilt für die Liebe ebenso wie für den Glauben, denn beide gründen im Geheimnis der Anziehung. In diesem Sinne spricht Paulus davon, dass wir Christus nur ergreifen können, weil er uns schon ergriffen hat (Philipper 3,12).

Es gibt keine Möglichkeit, so auch Luther, dass Menschen aus eigener Vernunft und Kraft zu Gott kommen können. Dafür gibt es zwei Gründe. Den ersten hat das IV. Lateran-Konzil 1215 prägnant auf den Punkt gebracht: Zwischen Gott, dem Schöpfer, und dem Menschen als seinem Geschöpf ist und bleibt die Unähnlichkeit immer größer als alle Ähnlichkeit. Nur der Geist Gottes vermag zu erkennen, was in Gott ist. Der Geist des Menschen hingegen erfasst nur, was im Menschen ist (1. Korinther 2,11). Anders gesagt, Gleiches wird nur durch Gleiches erschlossen und erkannt.

Mit der Rede von Gottes Ewigkeit, Heiligkeit, Allmacht und Einzigkeit ist eine Dimension von Wirklichkeit indiziert, die sich mit den sinnlichen Organen endlicher Lebewesen nicht erkennen lässt. Gott ist Menschen in seiner Transzendenz entzogen und verborgen. Dass wir dennoch etwas von ihm erkennen, ist nur möglich, wenn und weil er sich entbirgt und sich selbst Menschen zu erkennen gibt. Dies geschieht durch das Wirken des Heiligen Geistes, der menschliche Herzen erleuchtet. Das ist das Wunder von Pfingsten.

Dass wir zu Gott nicht aus eigener Kraft kommen können, liegt jedoch nicht nur am menschlichen Erkenntnisvermögen, sondern an dem, was die Confessio Augustana den „verkehrten Willen“ (CA 19) des Menschen nennt. Dieser Wille ist die Kraft, die uns – meist unbewusst – im Leben antreibt, die unser Denken, Fühlen und Handeln leitet und unserer Energie und Aufmerksamkeit die Richtung vorgibt. Die Gestalt des reichen Kornbauers, die Jesus in einem Gleichnis einführt, veranschaulicht, was damit gemeint ist: Der Bauer baut sich riesige Scheunen und füllt sie randvoll mit den Erträgen, die er erwirtschaftet hat. Der Erfolg seiner Arbeit gibt ihm Sicherheit und darauf gründet er seine Zuversicht und seinen Lebensmut. Und so sagt er sich selbstzufrieden: „Liebe Seele, du hast einen großen Vorrat für viele Jahre; habe nun Ruhe, iss, trink und habe guten Mut!“ Der Bauer verlässt sich auf das Vermögen, das er angehäuft hat, auf seine Leistung, seinen Besitz, seine Kraft, sein Auskommen und auf die „vielen Jahre“, die er vor sich liegen sieht und über die er zu verfügen meint (Lukas 12,16 ff.). Er ist damit ein Beispiel für den homo incurvatus in se, der in seinem Willen ganz auf sich selbst fixiert ist. Dieser verkehrte Wille, den der Bauer exemplarisch verkörpert, verführt Menschen dazu, den Schöpfer mit den geschöpflichen Dingen zu vertauschen (Römer 1,23) und das eigene Herz an die Gaben statt an den göttlichen Geber zu hängen. Der biblische Begriff dafür lautet: Sünde.

Aufs falsche Pferd gesetzt

Die Folgen der Sünde werden nicht nur auf der Handlungsebene moralisch sichtbar, sondern die Abkehr von Gott hat Auswirkungen auch auf der kognitiven Ebene und führt dazu, dass Menschen die Realitäten des Lebens zu ihrem eigenen Schaden verkennen. Die Lebenszuversicht des Kornbauern wird deshalb nicht zufällig als Illusion aufgedeckt. Gott spricht zu ihm: „Du Narr! Diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern; und wem wird dann gehören, was du angehäuft hast?“ Der, dem der Bauer sein Leben verdankt, holt es sich wieder zurück. Und er fordert Rechenschaft, wie dieses Leben gelebt worden ist. Im Licht der Ewigkeit Gottes erkennt der Bauer plötzlich: Obwohl er viel geleistet hat und in manchen Dingen sogar sehr erfolgreich war, hat er in der entscheidenden Frage seines Lebens aufs falsche Pferd gesetzt. Weil er die zeitlichen und die ewigen Dinge nicht ins richtige Verhältnis zu setzen wusste, hat der Bauer töricht gehandelt.

Geisteskraft, die entzündet

Der Zugang zu Gott wird Menschen nur im Zuge einer Neuausrichtung ihres Willens erschlossen. Auch diesen Prozess kann niemand aus eigener Kraft und eigenem Willensentschluss initiieren. So wie wir Gott nicht aus eigenem Vermögen erkennen können, so wenig können wir ihm unser Herz aus eigener Kraft öffnen. Der Heilige Geist erschließt Menschen deshalb nicht nur Gott als den „Gegenstand“ des Glaubens; er befähigt uns nicht nur, Gott erkennen zu können. Er macht uns vielmehr auch bereit, ihn als den Herrn unseres Lebens anerkennen zu wollen. Die biblischen Texte sprechen deshalb davon, dass Gott selbst den Menschen sein Gesetz „in ihr Herz geben“ und in „ihren Sinn schreiben“ will (Jeremia 31,33); dass er ihnen ein „anderes Herz geben und einen neuen Geist in sie geben“ will (Ezechiel 11,19); dass er ihnen den „Sinn dafür gegeben hat“ (1. Johannes 5,20), ihn zu erkennen. Das Herz beginnt erst zu brennen, wenn es durch die Kraft des Heiligen Geistes entzündet wird. Mit der Energie von Sturm und Feuer (Apostelgeschichte 2,2 f.) verwandelt der Geist menschliches Leben und erfüllt es mit seiner Kraft. Damit ist dann auch die Möglichkeit eröffnet, dass Menschen sich ändern können und sich ein neues Herz und einen neuen Geist „machen“ können (Ezechiel 18,31). Wie der griechische Begriff für diese Willensänderung – metamorphouste (Römer 12,2) – zeigt, geht es dabei nicht um eine Besserung im moralischen Sinne, sondern um die Transformation in eine neue Gestalt, den Übergang in eine neue Qualität des Lebens. 

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Theologie"