Nicht salonfähig!

Wie demokratiefeindliche Positionen den bürgerlichen Mainstream erreichen, zeigt eine evangelische Publikation
Edvard Munch: Der Schrei (1893/1910)
Foto: akg images

„Angst, Politik, Zivilcourage“: Eine neue Publikation in einem angesehenen theologischen Verlag bietet demokratie­feindlichen Positionen eine Plattform. Das meinen Kristin Merle, Professorin für Praktische Theologie an der Universität Hamburg, und Hans-Ulrich Probst, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Tübingen.

„Wie können wir in Kultur, in Religion, in Wirtschaft unseren Fuß in die Tür bekommen?“, fragt der frisch gewählte Spitzenkandidat der AfD für die Europawahl im kommenden Jahr, Maximilian Krah, auf dem Nominierungsparteitag Ende Juli. Die Antwort lautet: So wie mit dem kürzlich im August dieses Jahres in der Evangelischen Verlagsanstalt (EVA) erschienen Band Angst, Politik, Zivilcourage.

Wer wissen will, wie es funktioniert, kulturelle Hegemonie im vorpolitischen Bereich zu erlangen und Diskursverschiebungen ‚nach rechts‘ zu provozieren, muss sich nur das von Thomas A. Seidel und Sebastian Kleinschmidt im Auftrag der Evangelischen Bruderschaft St. Georgs-Orden herausgegebene Buch anschauen. Es ist kürzlich im angesehenen theologischen Medienunternehmen erschienen, dessen Gesellschafter die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland (EKM) und das Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik sind, und bei dem zahlreiche theologische Fachbücher erscheinen. Die EVA ist einer der größten konfessionellen Verlage im deutschsprachigen Raum (vgl. Beyreuther 2021). Kurzum: Mehr Mainstream geht kaum.

Aber eins nach dem anderen. Angst, Politik, Zivilcourage erscheint als achter Band der GEORGIANA-Reihe. Seinem Anspruch nach will der Band „eine erste sachlich-kritische Aufarbeitung der Corona-Maßnahme-Politik“ sein (Seidel, 309). Die meisten der Beiträge entstammen einem „Offenen Konvent“ (6) der Evangelischen Bruderschaft St. Georgs-Orden im Oktober 2022 in Erfurt. Die Bruderschaft, der nicht mehr als zwei Dutzend Männer angehören, ist als geistliche Gemeinschaft der EKM anerkannt. Formen ‚konservativer Männlichkeit‘ gehören zur Inszenierungspraxis des Ordens. 1987 wurde er von Ulrich Schacht, Peter Voss und Jürgen K. Hultenreich gegründet, die „ausnahmslos im Widerstand zu den politischen Verhältnissen des SED-Staats gestanden“ hatten, so die Selbstdarstellung des Ordens auf seiner Homepage, und Gefallen daran fanden, „ältere Traditionen streitbarer christlicher Gemeinschaft wie dem Deutschen Orden oder der Bekennenden Kirche der NS-Zeit [aufzunehmen]“.

„Sammlungsbewegung zur Restauration der Kirche“

Mit ‚Streitbarkeit‘ und ‚Widerständigkeit‘ dürften Haltungen benannt sein, mit denen auch Autor:innen des Bandes kokettieren. Dem Orden geht es um die Etablierung einer „Sammlungsbewegung“ zur „Restauration der Kirche“ (o.S.), ihm Angehörende sind schillernde Persönlichkeiten. Zum Beispiel: Ulrich Schacht, langjähriger „Großoffizier“ und zentrale Figur des Ordens, Schriftsteller und Journalist, seinerzeit politischer Gefangener des DDR-Regimes, wird von Kennern der Szene, wie dem Historiker Volker Weiß, der Neuen Rechten zugerechnet (Weiß 2017). Schacht veröffentlichte zusammen mit Heimo Schwilk, ebenfalls Autor in Angst, Politik, Zivilcourage, 1994 den Sammelband Die selbstbewusste Nation, der als „herausragende[r] Höhepunkt einer regen publizistischen Tätigkeit der Neuen intellektuellen Rechten der frühen neunziger Jahre“ bezeichnet wurde (Kämper 2004, 66).

Auf die Lektüre des Bandes werden die Leser:innen emotional durch die Covergestaltung, einem Abdruck von Munchs Der Schrei, eingestimmt. Der Frame für die Rezeption findet sich im Vorwort der Publikation versprachlicht: Gefahr, Krise, Angst, Schlacht, Institutionenversagen sind der Horizont, gegen den das scheinbar notwendig Heroische gezeichnet wird, profiliert durch ein martialisch anmutendes Zitat Otto von Bismarcks: „Mut auf dem Schlachtfeld ist bei uns Gemeingut, aber Sie werden nicht selten finden, dass es ganz achtbaren Leuten an Civilcourage fehlt.“ (7) „Profiteure der Angst“ (7) in Pandemiezeiten sollen ausfindig gemacht werden.

Nach dem Cover fällt das Inhaltsverzeichnis in den Blick. Einige Namen sind bekannt. Vera Lengsfeld, Mitglied der sog. Werteunion und im Umfeld der Neuen Rechten und der AfD engagiert (Lengsfeld ist auch Trägerin des Gerhard-Löwenthal-Ehrenpreises, gestiftet von der neurechten Förderstiftung Konservative Bildung und Forschung [FKBF] und der Wochenzeitung Junge Freiheit), ist unter den Autor:innen. Zu ihr gesellen sich unter anderem André Kruschke und Kathrin Schmidt, Jurist und Schriftstellerin, beide Mitglied bei dieBasis, dem parteipolitischen Instrument der „Querdenken“-Bewegung. Erich Freisleben wiederum wurde über die Berliner Grenzen mit seiner ärztlichen Kritik am schulmedizinischen Versorgungssystem, gerade im Zusammenhang der Risiken und Nebenwirkungen der Impfungen gegen COVID-19, bekannt. Auch Rochus Leonhardt findet sich unter den Autor:innen, Professor für Systematische Theologie an der Universität Leipzig; zumindest den theologisch versierten Leser:innen ist natürlich auch er vertraut (2019 erst ist von ihm in der EVA-Reihe Lehrwerk Evangelische Theologie der Band Ethik erschienen).

„Polarisierendes, auf bestimmte Effekte abzielendes Framing“

Neugierig gestimmt nimmt man also die Lektüre des Bandes auf. Das Interesse der Absichtserklärung des Bandes kann auf Zustimmung stoßen: An einer „sachlich-kritischen Aufarbeitung der Corona-Maßnahme-Politik“ dürften Bürger:innen interessiert sein. Auch der Deutsche Bundestag wie Gesundheitsminister Karl Lauterbach blicken in Teilen kritisch auf das pandemiebedingte Regierungshandeln, das vielfach ein Handeln unter Bedingungen des Nichtwissens war, Handeln nach dem Prinzip von Trial-and-Error, zu dem es in manchen Krisen keine Alternative gibt. Allein, ob es sich bei Angst, Politik, Zivilcourage um eine solche „sachlich-kritische Aufarbeitung“ handelt, ist fraglich. Das polarisierende, auf bestimmte Affekte abzielende Framing des Bandes lässt erste Zweifel anmelden. Auch, dass es darum gehen soll, „Profiteure der Angst“ ausfindig zu machen, hat notwendig Auswirkungen auf das Unterfangen einer kritischen Auseinandersetzung. Geht es unter diesen recht einseitigen Vorzeichen noch um eine kritische Betrachtung einer komplexen und mit vielerlei Dilemmata verbundenen Situation der Pandemiebewältigung geht – oder eher um den Wunsch, Personen an den Pranger stellen und Institutionenversagen diagnostizieren zu können?

Die Beiträge des Bandes sind differenziert zu betrachten. Auch in sich können sie differenziert gelesen werden. In einigen findet sich der Wunsch nach einem „offenen und fairen Diskurs“ (zum Beispiel Freisleben, 74) und einer kritischen Reflexion der – in der Tat unproduktiven wie überflüssigen – Stigmatisierung Ungeimpfter in der Pandemiezeit. Nicht nur öffentliche Intellektuelle wie Juli Zeh haben festgestellt, dass eine Impfpflicht die individuelle Freiheit massiv einschränken würde, auch sind entsprechende Initiativen zu einer Impfpflicht im Deutschen Bundestag durchgefallen.

An diesen wenigen Beispielen sieht man zweierlei. Erstens: Verschiedene Autor:innen benennen in Angst, Politik, Zivilcourage Diskutables. Zweitens: Es gibt einen öffentlichen Diskurs, in dem entsprechende Themen traktiert werden. Dass der Diskurskorridor themenbezogen mitunter verengt erscheint, bedeutet nicht, dass es keinen offenen Diskurs gibt. Manche Beiträge lesen sich informativ-unterhaltsam. Sieht man einmal darüber hinweg, dass es eine gängige ‚rechte‘ Praxis ist, mit geschichtsrevisionistischen Absichten Personen des Widerstands im Nationalsozialismus für die moralische Legitimation des ‚eigenen Unterfangens‘ zu instrumentalisieren, geben sich die Beiträge etwa zu Sophie Scholl und Dietrich Bonhoeffer und auch zu Ricarda Huch anschaulich. Unter „Profile der Furchtlosigkeit“ sind sie rubriziert, zu ihnen gesellt sich dann eine Lobrede auf den oben bereits erwähnten, von Volker Weiß der Neuen Rechten zugerechneten Ulrich Schacht.

„Unterton des Vorwurfs einer Ideologieförmigkeit“

Auch der Beitrag von Rochus Leonhardt enthält Bedenkenswertes, wenngleich Manches sprachlich-sachlich nicht ganz gelungen erscheint („kategorischer Impfperativ“; 108. Auch, warum eine Kastrations-Phantasie aus einem französischen Schmöker in den Beitrag einleiten muss, hat sich der Leserin nicht erschlossen). Leonhardt passiert etwas, das vielen Autor:innen des Bandes unterläuft: Er kritisiert etwas bei anderen, das er selbst inszeniert. Kritisiert wird eine Polarisierung in Krisenzeiten, die durch „weithin kritikabstinente Medien“ (99) und politische Akteur:innen verursacht werde, Leonhardt selbst schreibt von „politisch aufgebauten und medial flankierten Frontstellungen und Feindbildern“ (110), der „ersten großen Diskriminierungskampagne im wiedervereinigten Deutschland“ (110; zur Sinnhaftigkeit dieser Aussage würde man gerne BIPoCs, Migrant:innen und Geflüchtete befragen), von „massenmedialen Claqueuren“ (123). Diskutabel sind Leonhardts sozialethische Ausführungen zu Diffusionsphänomenen im Verhältnis von Moral und Recht, Politik und Medizin, und auch kirchliches Handeln in diesen Spannungsfeldern bedürfte sicherlich einer kritischen Revision. Es bleibt allerdings der Unterton des Vorwurfs einer Ideologieförmigkeit staatlichen Handelns haften, der die durchaus bedenkenwerten Punkte Leonhardts in ein etwas irritierendes Licht rückt.

Aufs Ganze gesehen, wird man allerdings feststellen müssen, dass die gemäßigten Stimmen in diesem Band in den Hintergrund treten. In einer erstaunlichen Offenheit hat man es in zahlreichen Beiträgen mit Praktiken der Demokratiedestabilisierung, ja, auch der Demokratiezersetzung zu tun. Über die retrospektive Diskussion von Corona-Maßnahmen wird grundsätzlich zum Schlag gegen die liberale und offene Gesellschaft ausgeholt. Wir machen im Folgenden in vier Linien entsprechende rhetorische und inhaltliche Zuspitzungen kenntlich, die wir anhand von Einzelpassagen aus dem Band rekonstruieren.

1) Korrupte Medien und Meinungsdiktatur. Das in vielen Beiträgen skizzierte Bild von Medien und Meinungsfreiheit trägt desaströse Züge. Die Corona-Zeit scheint für Autor:innen nur der Anlass zu sein, um weitreichendere Aussagen zu tätigen. Exemplarisch notiert Heimo Schwilk, Journalist und Autor: „Frech wird behauptet, in Deutschland herrsche Meinungsfreiheit. Es gebe doch den Grundgesetzartikel 5.1 [sic!]. Aber jeder von uns bekommt permanent zu spüren, dass die vom Mainstream abweichende Meinung umgehend mit Sanktionen belegt wird. […] Meinungsfreiheit gibt es letztlich nur noch für diejenigen, die sich mit ihren Ideologien durchgesetzt haben, die Grünen, die Sozialdemokraten und die Linken.“ (134) Medienschaffende des ‚Mainstreams‘ werden en bloc abgewatscht: „Was jedoch machen die Damen und Herren in den Medien daraus? Sie erniedrigen das gemeine ‚Volk‘ moralisch weiter, um sich selbst zu erhöhen.“ (127) Seine Forderung an die Lesenden: sich aus einer „kämpferischen Gegenöffentlichkeit“ (139) zu informieren.

Sargbilder aus Bergamo „nachgewiesen manipuliert“?

Zur empfehlenswerten „Gegenöffentlichkeit“ gehören seiner Meinung nach: „U.a. Die Tagespost, Tumult, Die Junge Freiheit, Sezession, Cato, Tichys Einblick [und] auch Verlage wie Manuscriptum oder Antaios“ (139). Allein in diesen – teilweise dem offen rechtsextremen Spektrum zugehörigen – Organen sei dem „Filz in der gesamten ARD und natürlich auch dem ZDF“ zu entgehen. Mit diesem Blick auf ‚die‘ Medien vermag es nicht mehr zu überraschen, dass die Sarg-Bilder aus Bergamo in Italien zu Beginn der Pandemie als „nachgewiesen manipuliert“ (129) bezeichnet werden. Verschwiegen werden sollte auch nicht, dass Schwilk, der schamlos zwischen „Durchschnittsmenschen“ und „Intellektuellen“ (138) unterscheidet, offen zur Mobilisierung aufruft: Die „nächste politische Bewegung wird hierzulande eine libertäre Revolution sein“ (138); die Jungen sollten sich über die sozialen Medien und „alternative Portale“ vernetzen.

2) Fremdgesteuerte Wissenschaft. Nicht nur Medien, auch Wissenschaft wird in einem verzerrenden Licht dargestellt. So kritisiert etwa Erich Freisleben, dass die Medizin „sukzessive von Lobbyisten besetzt würde[], die die Dinge im Sinne ihrer Auftraggeber beeinflussen“ (62). Wirkliche wissenschaftliche Forschung werde in der Medizin nicht mehr betrieben: Denn „die wahre wissenschaftliche Evidenz hat ihre Bedeutung verloren und muss nun den politisch erwünschten „‚Eminenzen‘ in Talkshows Platz machen“ (63). Diese „neuen Eminenzen“ umgingen den Diskurs (63). Das Zusammenspiel der politisch und medial vermeintlich fremdgesteuerten Wissenschaft erfährt noch eine Zuspitzung, Freisleben notiert: „Sachaussagen werden immer weniger im kollektiven faktenzentrierten Ringen der Wissenschaftsgemeinde gewonnen, sondern zunehmend auf den Schauplätzen der Talkrunden verhandelt, zu denen nur noch Vertreter politisch erwünschter Aussagen Zutritt haben.“ (63) Verschwörungsideologische Untertöne kommen zum Tragen, wenn es heißt: Die heutigen „Eminenzen“ „agieren […] eher unter dem Einfluss undurchsichtiger politischer Kräfte.“ (63)

In Freislebens Text werden – hier: implizit – antisemitische Klischees aufgerufen. So prangert Freisleben die „Machtfülle der Medienkonzerne und deren Finanziers“ im Gegensatz zur freien Wissenschaft an. Es bestünde die Gefahr, dass die „Wunschvorstellungen von superreichen Oligarchen, die eine Welt erträumen, in der Mensch und Maschine verschmelzen und sich der Herrschaft einer von ihnen programmierten künstlichen Intelligenz unterordnen“ (72), bald zur Realität werde.

Ukrainekrieg ein Stellvertreterkrieg?

3) Korrumpierte Politik. Es wundert nicht, dass die Suche nach „den Profiteuren der Angst“ ein verschwörerisches Raunen mit sich führt. Für Kathrin Schmidt sind die Handlungen der Politik darauf ausgerichtet gewesen, Menschen zu entrechten, so dass: „man uns mit der Angst kam, uns maskierte, uns trennte und uns einsperrte.“ (30) Die Politik gängele den Einzelnen und entrechte ihn, wie Schmidt ebenso mit Verweis auf die Anti-Terrorgesetze feststellt, die letztlich auch nur dafür verabschiedet worden seien, um die Freiheit des Einzelnen einzuschränken. Und auch bezogen auf den Ukraine-Krieg zeichnet Schmidt das Bild, dass die Politik die ‚eigentliche‘ Wahrheit den Menschen vorenthalte: Sei der Krieg nicht vielmehr ein „Stellvertreterkrieg, dessen große Profiteure […] in den USA sitzen?“, fragt Schmidt.

Auch Ulrich Teusch nimmt eine grundsätzlich ablehnende Haltung dem Handeln gegenwärtiger Demokratien gegenüber ein, wenn er dazu aufruft, eine Haltung der „Antipolitik“ einzunehmen. Im Gegensatz zum Apolitischen, sei die „Antipolitik demzufolge keine politische Richtung, die einer anderen Richtung den Kampf ansagt und selbst nach politischer Macht strebt. Antipolitik versucht vielmehr, ein dominantes Politikverständnis durch ein ganz anderes zu ersetzen.“ So sei „Fundamentalopposition gegen die jeweils dominante Politik“ (46) erst möglich. Dies könne nur dann geschehen, wenn die antipolitische Minderheit sich „in verbliebenen Refugien zusammenfindet, in Parallelgesellschaften, in Subkulturen“ (53). Die antipolitische Parallelgesellschaft, die hier gefordert wird, hat offensichtlich den Wunsch zur Mitgestaltung und Partizipation am demokratischen Prozess aufgegeben.

Was solche antipolitischen Vorstellungen für Früchte tragen, lässt sich übrigens im Band selbst nachlesen: „Karl Lauterbach brachte als studierter Epidemiologe alles mit, um die Grusel-Show ins Unendliche verlängern zu können. Maske und Lockdown sind die Fußfesseln, die er den Deutschen, vibrierend vor Erregung, anlegte“ (Schwilk, 128). Der moralisch korrumpierte Politiker wird zum Antipoden des ‚gemeinen‘ Volkes, das er zu ‚drangsalieren‘ beabsichtigt. Es ist all zu oft die Rhetorik des Rechtspopulismus, die hier angestoßen wird: Das ‚einfache‘, ‚moralisch integre‘ Volk wird im Gegenüber zu einer ‚korrumpierten‘ (bisweilen auch global agierenden) politischen ‚Elite‘ konstelliert.

Mit geschichtsrevisionistischer Perspektive gespielt

4) Geschichtsrevisionismus. Auch die historischen Vergleiche, wie sie auf „Querdenken“-Demonstrationen in die Öffentlichkeit getragen wurden, werden nun auch in diesem Band formuliert, wenngleich vorsichtiger, als dies mit dem Anheften eines ‚Judensterns‘ durch „Querdenken“-Anhänger:innen während der Pandemie geschah. Und doch kommt die „kritische Aufarbeitung“ der Corona-Maßnahmen nicht ohne Diktaturvergleiche aus. Dies geschieht, indem NS-Verfolgte zitiert werden und deren Gefühle mit den eigenen Wahrnehmungen der Freiheitseinschränkungen verwoben werden. So betont Kathrin Schmidt mit Verweis auf ein Opfer des Nationalsozialismus, das in einem polnischen Ghetto verstarb: „Ich fühlte ja ganz ähnlich wie sie, in den dreißiger Jahren, den Anfangsjahren des Faschismus!“ (39f.) Und weiter: „Ich denke, es gibt eine zumindest situative Verwandtschaft der Gesellschaftsveränderung, von der wir alle nicht wissen können, wohin sie uns führen wird.“ (40)

Mit der geschichtsrevisionistischen Perspektive wird im Band weiter gespielt, wenn als Personen, an denen sich nun in Sachen ‚Furchtlosigkeit‘ orientiert werden könne, neben Elisabeth von Thüringen oder Martin Luther eben auch Dietrich Bonhoeffer und Sophie Scholl als Gallionsfiguren bemüht werden. Dass die Geschichtsvergleiche nicht nur die NS-Zeit berühren, zeigt sich an Formulierungen, die nordrhein-westfälische Landesregierung habe „eine Art freiheitlich-demokratische Stasi“ (126) eingeführt, mit der oppositionelle Stimmen überwacht und gemeldet werden sollen. Wohin diese aus den Geschichtsvergleichen eingenommene Opfer-Perspektive führt, zeigt sich, wenn behauptet wird, dem ‚deutschen Michel‘ sei von außen ein schlechtes Gewissen aufgezwungen worden: „Irgendwie sind wir [Deutsche; HP] als ehemalige, allerdings eher kleinformatige Kolonialisten verpflichtet, all den korrupten Regierungen in Afrika und Lateinamerika finanziell unter die Arme zu greifen, um uns ein bisschen besser zu fühlen.“

Doch das Lamento begrenzt sich nicht nur auf die Bagatellisierung der ‚kleinformatigen‘ Kolonial-Herrschaft des Deutschen Reiches: „Nebenbei soll die hochmoralische Bundesrepublik an immer mehr Länder Reparationen für lange zurückliegende Kriegszerstörungen bezahlen. Das schlechte Gewissen lässt sich nämlich auch anzapfen. Wie das geht, haben uns die Erben der israelischen Opfer der Olympischen Spiele von München 1972 perfekt vorgeführt. Aber schon stehen andere Länder Schlange.“ (127) Am Ende muss dann doch offensichtlich wieder die Figur des ‚Juden‘ bemüht werden, der am ‚perfidesten‘ in der Lage ist, das deutsche schlechte Gewissen ‚anzuzapfen‘ und damit zum Negativ-Vorreiter für weitere ‚parasitäre‘ ‚feindliche‘ Handlungen gegen Deutschland wird. Die historischen Bögen von NS-Vergleich, Kolonialismus-Bagatellisierung und DDR-Analogien finden dann ihr antisemitisch-revisionistisches Ziel, wenn es pars pro toto Israelis sind, die für die eigene Opfer-Position verantwortlich gemacht werden können.

Erfolg für das ideologische Mainstreaming

Am Ende der Lektüre ist man geneigt, das Cover mit Munchs Der Schrei vor allem auf die Abgründe zu beziehen, die sich in verschiedenen Beiträgen des Bandes auftun. Mit einer „sachlich-kritische Aufarbeitung der Corona-Maßnahme-Politik“ hat Angst, Politik, Zivilcourage nichts zu tun. Der Band ist in der Breite ein Zeugnis ‚rechter‘, auf die Zersetzung der liberalen Gesellschaft und der demokratischen Verhältnisse abzielenden Agitation. Seine Publikation ist ein Erfolg für das ideologische Mainstreaming – und besorgniserregend vor dem Hintergrund der Ergebnisse der neuen Mitte-Studie Die distanzierte Mitte 2022/23, die zeigt, dass rechtsextreme Einstellungen stark angestiegen und weiter in die Mitte gerückt sind, und dass sich ein Teil der Mitte von der Demokratie distanziert, ein Teil auch radikalisiert. Ist den Herausgebern der Publikationsprozess entglitten? Oder haben wir es bei der Formulierung des Ansinnens der „sachlich-kritischen Aufarbeitung der Corona-Maßnahme-Politik“ mit einem Feigenblatt ‚rechter‘ Ideologie zu tun?

Tatsache ist: Solche Publikationen dürfen nicht unkommentiert erscheinen. Es braucht einerseits die dezidierte inhaltliche Auseinandersetzung mit Positionen, wie sie in diesem Band vertreten werden. Dafür müssen im Bereich der Theologie größere Anstrengungen unternommen werden, populistische, antiliberale und rechtsextreme Narrative als solche zu erkennen, zu beschreiben und zu erwidern. Diese Positionen existieren offenkundig auch im Kontext von Kirche und Theologie. Und andererseits spielt der Bereich der Publizistik eine zentrale Rolle bei der Frage, wo welche Positionen Gehör finden können. Daher ist es auch an dem Verlagswesen, sich intensiver damit auseinanderzusetzen, welche Inhalte veröffentlicht werden und gegebenenfalls dadurch erst normalisiert werden. Nur eine gesteigerte Aufmerksamkeit und klare Haltung in allen Teilbereichen von Gesellschaft wird es gelingen lassen, dem Erstarken der Demokratiefeindschaft Einhalt zu gebieten.

(Transparenzhinweis: In der Ursprungsversion dieses Beitrages vom 30.10.2023 war Hildegard von Bingen erwähnt worden, die in dem Buch der EVA gar nicht vorkommt. Gemeint war an dieser Stelle natürlich Elisabeth von Thüringen, die in dem Buch der EVA vorkommt. Dies haben wir auf Wunsch der Verfasser:innen am 10.11. 2023 verändert, Redaktion zeitzeichen)

Literatur:

Angelika Beyreuther, 75 Jahre Evangelische Verlagsanstalt, 
in: Fachbuchjournal, Ausgabe 1/2021.
https://www.fachbuchjournal.de/75-jahre-evangelische-verlagsanstalt/

[abgerufen am 29. September 2023].

Gabriele Kämper, Von der Selbstbewussten Nation zum nationalen Selbstbewusstsein, in: WerkstattGeschichte, 13 (2004), Heft 37, 64–79.

Volker Weiß, Die autoritäre Revolte. Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes, Stuttgart 2017.

Mitte-Studie. Die distanzierte Mitte. https://www.fes.de/referat-demokratie-gesellschaft-und-innovation/gegen-rechtsextremismus/mitte-studie-2023 [abgerufen am 29. September 2023].

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Kristin Merle

Dr. Kristin Merle ist Professorin für Praktische Theologie an der Universität Hamburg. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehört das Thema Religion und Rechtspopulismus/-extremismus.

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Hans-Ulrich Probst

Hans-Ulrich Probst ist seit 2021 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Praktische Theologie der Universität Tübingen und ist Mitglied der Evangelischen Landessynode in Württemberg. 


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