Zeitgenossen aus der Vergangenheit

Über Eremiten, Askese und zwei Josephs auf dem heiligen Berg

Das antike Mönchtum gehört zu den Standartthemen meines Faches, das man früher „Ältere Kirchengeschichte“ nannte und heute gern (und weniger missverständlich) „Antikes Christentum“. Je nach Temperament derer, die vortragen, hört man dann mehr oder weniger munter von etwas wunderlichen Existenzen, die auf Säulen klettern, dort auf einer Plattform mehr vegetieren als leben und sich pro Tag tausend Mal verbeugen. Man lernt einen Wüstenvater kennen, der sich gebückt einmauern lässt, um aus der Haltung der Demut ja nicht herauszukommen. Schließlich erfährt man, dass sich das antike Mönchtum durch radikales Fasten und maximale Körperkontrolle auszeichnete und die teilweise uralten Väter ihren Schülern des Nachdenkens werte Sprüche mitgaben, wie beispielsweise: „Wenn ihr liegt und schlaft, dann sitzt ihr schon. Wenn ihr sitzt, dann steht ihr schon. Wenn ihr steht, dann geht ihr schon“. Das passt auch gut als Charakterisierung eines hektischen Lebensstils in der Spätmoderne.

Von Nonnen, Asketinnen – kurz: von Frauen – ist meist weniger die Rede. Aber die gab es natürlich auch, in nicht geringer Zahl. In den letzten Jahrzehnten wurde viel über das antike Mönchtum geforscht. Wird diese Forschung im akademischen Unterricht rezipiert, lernt man noch dazu, dass solche weisen Väter für ihre Umgebung wie eine Art Ombudsmann funktionierten, Rat in Lebenskrisen gaben und Streit in der Nachbarschaft schlichteten. Es gab regelrechte monastische Landschaften mit hunderten von Gemeinschaftsklöstern und Einsiedlerklausen. Scharen von Menschen pilgerten quer durch das römische Reich zu den Asketinnen und Asketen, staunten über das, was zu sehen war, baten um Rat in schwierigen Fragen und wurden so für das Christentum durch sie fasziniert. Und es gibt über das antike Mönchtum immer noch Neues zu erfahren: Ziemlich überrascht war ich, als ich vor einiger Zeit über Untersuchungen an Skeletten aus ägyptischen Mönchsgräbern las: Die starken Restriktionen bei der Ernährung haben offenkundig dazu geführt, dass die Mönche deutlich länger lebten als die Durchschnittsbevölkerung.  Askese war offenbar doch nicht so ungesund, wie ich bislang dachte …

Mit Kreditkarte und Handy

Ich glaube schon, von den antiken Mönchen und Nonnen einigermaßen bunt und farbig erzählen zu können und führe auch immer wieder, wenn ich in Jerusalem lehre, Studierende zu den baulichen Überresten dieses Mönchtums in der Wüste Juda zwischen den Außenbezirken der Heiligen Stadt und dem Toten Meer. Das Fremde dieser antiken christlichen Bewegung fasziniert noch heute den einen und die andere, stößt aber auch viele ab. In ihrer eigenen Frömmigkeit fühlen sich allerdings nur wenige direkt angesprochen. Und von der Gesundheit dieses Lebensstils sind auch nur die Wenigsten überzeugt. Bislang allerdings hielt ich alles das, worüber ich gerade geschrieben habe, für Vergangenheit, mit der sich Menschen beschäftigen, die sich – wie ich selbst – gern mit Vergangenheit beschäftigen. Natürlich gibt es heute an verschiedensten Orten ein lebendiges Mönchtum, aber die großen und kleinen Benediktinischen Klöster – um nur ein Beispiel zu nennen, mit dem ich im Laufe meines Lebens viele schöne Erfahrungen sammeln konnte –, haben doch mit einem spätantiken Mönchskonvent nur noch begrenzt etwas zu tun. Nicht zuletzt durch das Zweite Vatikanische Konzil, aber auch durch die verschiedenen kulturellen und technischen Revolutionen des zwanzigsten Jahrhunderts hat sich gegenüber den antiken Ursprungsformen außerordentlich viel geändert. Die Mönche eines Klosters, das ich seit Studienzeiten besonders gut zu kennen glaube, machen Urlaub, benutzen eine Kreditkarte und twittern mit ihrem Handy.

So jedenfalls dachte ich bis vorige Woche. Denn da erlebte ich in einem Kloster auf dem Heiligen Berg Athos, dass alles das, was ich für Vergangenheit hielt, lebendige Gegenwart ist. Denn nach einer längeren Führung durch das Kloster, durch einige der Kirchen und das außerordentlich reich bestückte Museum, durch den Speisesaal und weitere Sehenswürdigkeiten, schlug der aus einer deutsch-griechischen Familie stammende Mönch vor, am nächsten Morgen zum Gottesdienst in eine Einsiedelei vor dem Kloster zu wandern – da gäbe es etwas Wichtiges zu sehen und man könnte dort auch den morgendlichen Gottesdienst besuchen und sei wieder rechtzeitig zum Frühstück im Kloster. Als Treffpunkt wurde eine nachtschlafene Zeit kurz nach Sonnenaufgang verabredet.

In der Einsiedelei

Schweigend zogen wir in den Morgen hinein vor die Tore des Klosters und weiter einen kleinen Hügel hinauf. Dort stand rund eine Viertelstunde vom Kloster entfernt ein längliches, weiß gestrichenes einstöckiges Gebäude, mit einer Veranda davor, die von Wein bewachsen war, dazu ein paar Nebengebäude. Aus der Einsiedelei tönte Gesang. Noch etwas morgenmüde ging ich in den links im Gebäude befindlichen kleinen Kirchenraum mit Ikonostase, stellte ich mich in einer der Stallen des Gestühls auf (wie im lateinischen Westen gibt es dort kleine Vorsprünge, an die man sich mit dem Hintern mehr anlehnen kann als das sich auf ihnen sitzen lässt) und verfolgte etwas schlaftrunken die Liturgie des morgendlichen Gottesdienstes. Da nur wenige Kerzen brannten, war gut wahrnehmbar, wie es allmählich immer heller wurde und langsam auch andere Details des Gebäudes neben der kleinen Kirche sichtbar wurden. Immer deutlicher erkannte ich, dass mir gegenüber an der Kirchenwand ein vergittertes Fenster den Blick in eine Mönchszelle freigab – nach und nach wurden Schränke, Stuhl, Bett, Bücher und Bilder im morgendlichen Licht sichtbar. Nachdem der Gottesdienst zu Ende war, betrat ich mit dem Mönch, der mich in die Einsiedlerklause geführt hatte, die Zelle und erfuhr, dass hier bis 2009 Altvater Joseph der Jüngere als Einsiedler gelebt hatte.

Joseph der Jüngere, ein Mönch mit grauem Bart und schwarzem Gewand

Joseph der Jüngere (1921-2009)

Ich erfuhr weiter, dass er in seiner Klause eine wundertätige Ikone der Gottesmutter Maria verehrte, die als Zeichen ihrer Wundertätigkeit einen besonderen Wohlgeruch abgeben soll – so, wie auch in der Antike von wundertätigen Bildern und Reliquien berichtet wurde, die einen Wohlgeruch von sich gaben und keinen Moder. In der Zelle stand neben einem Bett und zwei Schränken ein Plastikstuhl, einige wenige, vor allem liturgische Bücher und Bilder von anderen Altvätern. An einem der Schränke lehnte eine rohe, helle Holzlatte und auf meine Frage nach deren Zweck erklärte der mich begleitende Mönch, damit habe sich der Altvater gegen die Unterschenkel geschlagen, wenn er „sündige Gedanken“ hatte und diese nicht anders vertreiben konnte. Als er im biblischen Alter von 88 Jahren 2009 gestorben sei, hätten sich vor dem Eintritt der Leichenstarre seine Gesichtszüge, die noch alle Spuren eines Todes durch Ersticken trugen, in heiteres Lächeln verkehrt – „auch ein Wunder“, bemerkte mein Führer aus dem Kloster. Auf dem Rückweg zum Kloster und zum (wegen eines Festtages ungewohnt reichen) Frühstück erzählte er mir, dass der spirituelle Wiederaufstieg des Klosters, das Ende der sechziger Jahre wie die ganze Klosterlandschaft des Athos kurz vor dem Aussterben gestanden hätte, eng mit Joseph dem Jüngeren und seinem geistlichen Vater, Joseph dem Älteren, verbunden sei. Diese hätten mit ihren Schülern viele Menschen neu auf den Athos gezogen und für ein Leben als Mönche oder Einsiedler gewonnen. Jetzt seien es mit ihm über einhundertzwanzig Brüder. Nach dem Frühstück wurde mir noch eine englische Übersetzung der Biographie, die Joseph der Jüngere über Joseph den Älteren geschrieben hatte, geschenkt. Die las ich in einem Zug auf dem Rückflug von Thessaloniki nach Berlin und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.

Joseph der Ältere, ein Mönch mit grauem Bart und schwarzem Gewand

Joseph der Ältere (1897-1959)

Auch der ältere Joseph (1897-1959) war ein Asket, der als Einsiedler im Athos-Gebirge lebte. Er versuchte, zwischen den Sonntagen weitgehend ohne Nahrung zu leben, wechselte niemals seine Unterwäsche (was zu schlimmen Ekzemen auf dem Rücken führte), schlug sich ebenfalls, wenn er seine sündigen Gedanken nicht durch beständiges Beten bekämpfen konnte, und verzichtete sogar (im Unterschied zu seinem Schüler, Joseph, dem Jüngeren) auf das Bett und schlief, wenn er denn schlief, in einem Stuhl vor seiner Klause. Auch für ihn waren Wunder Alltag und keine Mythologie aus längst vergangenen voraufklärerischen Zeiten, auch er wollte schon als Mensch wie ein Engel frei von allen körperlichen Bedürfnissen werden, ganz Geist, ganz Gott hingegeben in seinen Gedanken, immer im Gebet und in der Liturgie. Kurz gesagt: Gerade wie die antiken Mönche und Nonnen, die ich an der Universität studiere.

Der Mönch, der mich zur Einsiedelei des jüngeren Joseph gebracht hatte und mir von seinem Lehrer, dem älteren Joseph erzählt hatte, war erkennbar fasziniert von diesem mir sehr fremden, uralten monastischen Ideal. Er war so fasziniert, wie es viele gebildete junge griechische Männer aus der halben Welt sind, aus Griechenland selbst, Deutschland, Kanada, Amerika und Australien. Diese Menschen treten in großen Scharen in die Klöster auf dem Berg Athos ein und versuchen sich auf dem Weg der beiden Josephs.

Orthodoxe Feministin

Nun könnte man es sich einfach machen und damit schließen, dass es immer wieder Zeitinseln in der Welt gibt, in der etwas längst Vergangenes und glücklicherweise Überwundenes überlebt hat. Aber so einfach ist die Welt nicht und so einfach darf man es sich mit dem Kloster und seiner Einsiedelei nicht machen. Sie sind nämlich zugleich auch ziemlich gegenwärtig. Ökologie und Nachhaltigkeit sind den Mönchen wichtig, sie praktizieren strenge Mülltrennung und verkaufen im Klostershop mehrere Sorten eines biologisch angebauten Honigs, der ganz vorzüglich schmeckt. Und die Biographie des älteren Joseph gibt es in vielen Sprachen, preiswert und man wirbt für seinen Lebensstil mit allen Mitteln moderner Massenkommunikation. Natürlich gibt es Internet im Kloster, wenn auch der Abt entscheidet, wer das Passwort bekommt.

Der jüdische Denker Schalom Ben Chorin, bei dem ich in Jerusalem vor vierzig Jahren Vorlesungen hörte, sagte einmal: „Nicht alle, die zur selben Zeit leben, sind Zeitgenossen“. Seinerzeit war ich ganz überzeugt von diesem Satz, weil er mir erlaubte zu verstehen, warum es in Jerusalem noch Menschen gab, die nach Kleidung und allen Gewohnheiten noch im osteuropäischen Schtetl des frühen neunzehnten Jahrhunderts zu leben schienen, scheinbar genauso wie in den großen jüdisch-orthodoxen Vierteln von Lemberg oder Czernowitz, die ich aus Schwarz-Weiß-Bildern und Erzählungen kannte. Inzwischen weiß ich, dass es auch in Me‘a She‘arim natürlich im Jahre 2023 nicht so zugeht wie 1823 in Lemberg oder sonstwo in Galizien oder der Ukraine.

Jüngst besuchte ich die große Demonstration in Jerusalem gegen die Politik der Regierung Netanjahu – und da sprach eine erkennbar wie die Frauen in Me‘a She‘arim gekleidete Frau zu den großen Menschenmengen, die sich als „feministische Orthodoxe“ vorstellte. Vergangenheit ist manchmal überraschend gegenwärtig, aber nie als identische Kopie, sondern als vergangene Gegenwärtigkeit gegenwärtiger Vergangenheit. Oder anders formuliert: Alle, die zur selben Zeit leben, sind Zeitgenossen. Aber manche sind sie auch noch Genossen (und Genossinnen) einer längst vergangenen Zeit. Und dieses Miteinander der Zeiten ist manchmal ziemlich erschreckend, aber meist auch sehr aufregend. Nicht nur für Menschen, die Geschichte lehren oder studieren.

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