Gestalten der Entfremdung

Warum schon der Begriff „Künstliche Intelligenz“ ein Missverständnis ist
Foto der Ausstellung „Maschinen – Lernen – Menschheitsträume“, die 2022 im Deutschen Hygiene-Museum in Dresden stattfand.
Foto: epd-bild/Matthias Rietschel
Foto der Ausstellung „Maschinen – Lernen – Menschheitsträume“, die 2022 im Deutschen Hygiene-Museum in Dresden stattfand.

In zz 8/2023 haben Peter Dabrock und Florian Höhne die theologischen und ethischen Herausforderungen beschrieben, die die so genannte Künstliche Intelligenz (KI) auf dem Feld der Religion mit sich bringt. Der Wiener Systematische Theologe Ulrich H. J. Körtner vertieft nun einige der theologischen Fragen rund um das Thema KI.

Ausgangspunkt der nachfolgenden Überlegungen ist nicht ein allgemeiner Begriff von Religion, sondern die Frage, was unter Glauben und Kommunikation des Evangeliums im digitalen Zeitalter zu verstehen ist. Anders gefragt: Was hat das alles mit Gott zu tun?

Die theoretischen Grundlagen des digitalen Zeitalters reichen in die frühe Aufklärung zurück. Es war der Universalgelehrte, Philosoph und Mathematiker Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716), der das duale oder binäre Zahlensystem entwickelte, mit dessen Hilfe sich Arithmetik und Logik verknüpfen lassen. Der duale Code von 0 und 1 ist die Basis aller Computertechnik und der digitalen Welt des World Wide Web.

Bei Leibniz hat der Zahlencode eine religiöse Dimension. Die Eins steht für Gott, die Null für das Nichts. Wie die Eins mit Hilfe der Null in fortlaufenden Kombinationen (10 = 2, 101 = 5, 110 = 6 und so weiter) die Welt der Zahlen und der mathematischen Operationen generiert, so erschafft Gott die Welt aus dem Nichts. Die Gedanken Gottes sind mathematisch, und das duale Zahlensystem liefert den Schlüssel zu Gottes Schöpfungsgedanken. „Wenn Gott rechnet“, so Leibniz, „und sein Denken wirksam werden lässt, entsteht die Welt.“ Die so entstehende Welt aber ist, wie Leibniz in seiner Beantwortung der Theodizeefrage – also der Frage, woher das Leid und das Böse in der Welt kommen, wenn doch Gott gut und gerecht ist – zu begründen versucht, die beste aller möglichen Welten.

Ob wir tatsächlich in der besten aller möglichen Welten leben, darf bezweifelt werden. Die Theodizeefrage will, Leibniz zum Trotz, nicht verstummen. Hingegen nimmt sein Traum von einem digitalen Zeitalter Gestalt an. Gott scheint allerdings aus der Welt der Algorithmen ins Nichts verschwunden zu sein. Thomas Fuchs, Inhaber der Karl-Jaspers-Professur für Philosophische Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie in Heidelberg, bringt es auf den Punkt: „Information beherrscht die Welt; allerdings besteht sie jetzt nicht mehr in den Gedanken Gottes.“

Glaube an Daten

Das Zeitalter der Digitalisierung ist eine Epoche etsi Deus non daretur (deutsch: als ob es Gott nicht gäbe), es sei denn, man überträgt die Macht, die einst Gott und seit der Aufklärung dem Menschen zugesprochen wurde, nun auf die allgegenwärtigen und scheinbar allmächtigen Algorithmen, wie es der israelische Historiker Yuval Noah Harari tut. Seine Vision erinnert ein wenig an Goethes Zauberlehrling, der die Geister, die er rief, nicht mehr loswird; mit dem Unterschied, dass die Machtübernahme der Algorithmen bei Harari keine Dystopie, sondern eine Utopie ist. Der Glaube an die Daten, „Dataismus“ genannt, ist die neue Religion des digitalen Zeitalters, in welchem ein materialistisch grundierter Transhumanismus vormalige Formen von Religion und Humanismus ablöst.

Nun verfiele man freilich einer allzu billigen Form von Apologetik, wollte man die Auseinandersetzung von Theologie und Kirche mit den Herausforderungen des digitalen Zeitalters auf vordergründige Religionskritik am Glauben an die Allmacht der Daten reduzieren. Davon hebt sich der differenzierte Diskussionsbeitrag von Peter Dabrock und Florian Höhn wohltuend ab. Ich meine aber, dass die Debatte um Digitalisierung und künstliche Intelligenz theologisch noch mehr in die Tiefe gehen muss.

In Fortführung eines Gedankens von Dietrich Bonhoeffer ist es Gott selbst, der uns in einer digitalisierten Welt leben lässt, etsi Deus non daretur. Paradoxerweise ist es der Gott, der aus der Welt der Algorithmen entschwunden scheint, vor dem wir dauernd stehen und der, allem Augenschein zum Trotz, auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten wartet – und antwortet. Darin ist ein verantwortungsethischer Umgang mit den Herausforderungen durch die Digitalisierung begründet, für den auch Wolfgang Huber plädiert.

Zusammen mit Gott scheint allerdings auch das menschliche Subjekt aus der digitalisierten Welt zu verschwinden. Einerseits wird darüber diskutiert, ob KI-Systemen, wenn sie eine hinreichende Komplexität erreicht haben, die sogar Emotionen und Empathiefähigkeit hervorbringen könnte, der Status von Subjekten oder Personen zuerkannt werden müsste. Die Beschränkung des Personbegriffs auf menschliche Lebewesen und ihren Körper lasse sich nicht länger halten, seien doch auch menschliche Organismen nichts anderes als informationsverarbeitende Maschinen. Andererseits führt die Deutung des Menschen nach dem Muster informationsverarbeitender Maschinen dazu, dass sich ein gehaltvoller Begriff von Person- und Subjektsein auflöst, weil die Bedeutung der Leiblichkeit für das Menschsein völlig verkannt wird.

Allenfalls intelligent simuliert

„Ausgeblendet“ wird – so Thomas Fuchs – „das Charakteristische des Lebens, so wie wir es aus unserer eigenen Erfahrung kennen, nämlich das Erleben oder die Innerlichkeit: Empfinden, Fühlen, Streben, Wahrnehmen, Denken.“ Ohne organisches Leben und Bewusstsein – und das heißt ohne subjektives Erleben – kann es keine wirkliche Intelligenz geben. Das Erleben selbst aber ist nicht künstlich herstellbar, sondern allenfalls virtuell zu simulieren. Anders gesagt: „Wenn Bewusstsein notwendig ist, um Information zu verstehen, das heißt, um in Strukturen und Mustern der Welt überhaupt erst so etwas wie Informationen zu sehen, dann kann es nicht selbst aus Information bestehen.“ (Thomas Fuchs)

Unsere Vernunft oder Intelligenz ist inkarnierte, verkörperte Vernunft, wie der französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty gesagt hat. Sie ist von unserem Körper gar nicht ablösbar. Der Körper, der zu siebzig Prozent aus Wasser und im Übrigen aus Kohlenstoffverbindungen besteht, ist keine Maschine, und das Gehirn ist kein Computer. Würde man Computer unter Wasser setzen, erlitten sie einen Kurzschluss. Bewusstsein und Denken sind auch keine auf dem Gehirn als Hardware hochgeladene Software. Das Gehirn ist vielmehr plastisch und verändert seine Struktur im Verlauf des Lebens und in Folge von Denkprozessen. Kurz: Programme von Künstlicher Intelligenz sind keine denkenden Personen und Personen keine Programme der Informationsverarbeitung. Computer stellen und beantworten keine Sinnfragen. Sie verstehen sie gar nicht, mag ChatGPT auch auf clevere Fragen verblüffende Antworten geben. Insofern liegt schon dem Begriff „Künstliche Intelligenz“ ein Missverständnis dessen, was Intelligenz ihrem Wesen nach ist, zu Grunde.

Bezogen auf unsere Körperlichkeit ist unsere Zeit von einer eigentümlichen Paradoxie gekennzeichnet: Einerseits erleben wir in allen Lebensbereichen einen ungeahnten Körperkult, bei dem die eigene Identität ganz auf die Körperlichkeit, das äußere Erscheinungsbild wie das körperliche Wohlbefinden reduziert wird. Andererseits aber sind wir, wenn es um Künstliche Intelligenz und virtuelle Welten geht, „Zeugen einer erstaunlichen Entmaterialisierung“ (Thomas Fuchs). Weder sind wir körperlose Intelligenz noch auf unsere Körperlichkeit beschränkt. Das eine wie das andere ist eine Gestalt der Entfremdung.

Gerade in Zeiten der Corona-Pandemie hat die Entmaterialisierung und Virtualisierung unserer Lebenswelt einen neuen Schub erfahren. Online-Meetings gehören seitdem beruflich wie privat zur Tagesordnung. Gleichzeitig wurde uns während der Lockdowns schmerzhaft bewusst, was fehlt, wenn körperliche Präsenz und Nähe unterbunden werden, etwa aufgrund von Besuchsverboten in Pflegeeinrichtungen. Smalltalk und Geselligkeit, körperliche Berührungen und der Austausch von Zärtlichkeiten lassen sich durch virtuelle Simulation nicht ersetzen.

Unsere leibliche Existenz lässt sich freilich auch nicht auf unsere reine Körperlichkeit reduzieren. Wir sind nicht bloß Körper, sondern wir haben ihn auch. Indem wir über ihn sprechen, unterscheiden wir uns von ihm, ohne ihm zu entkommen. Durch ihn sind wir mit der gesamten Welt verbunden, was wir schon bei jedem Atemzug spüren. In der Unterscheidung und dialektischen Zuordnung von Leibsein und Leibhaben zeigt sich unser wahres Menschsein, das es im Zeitalter der fortschreitenden Digitalisierung zu verteidigen gilt.

Wenn Merleau-Ponty und andere Philosophen aus der Tradition der Phänomenologie von inkarnierter Vernunft sprechen, scheuen sie sich nicht, einen dezidiert theologischen Topos zu gebrauchen, nämlich den Gedanken der Inkarnation im Christentum. „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns“, heißt es im Prolog des Johannesevangeliums.

Anthropologisch relevant

Schon bei Johann Georg Hamann (1730–1788) ist dieser Zusammenhang ganz offenkundig. Das Verhältnis zwischen Gott und Mensch, auf das die trans-zendent-relationale Bestimmung der Gott­ebenbildlichkeit verweist, wird dadurch hergestellt, dass Gott selbst „Fleisch und Blut“ annimmt.

Die Inkarnation des Logos setzt sich in der Verkündigung des Evangeliums in Predigt und Sakrament sowie in der Verschriftlichung ihres biblischen Zeugnisses fort. Alle Kommunikation des Evangeliums ist „leibliches Wort“, wie der deutsche Text von Confessio Augustana 5 erklärt.

Die inkarnationstheologische Begründung der vielfältigen Kommunikation des Evangeliums ist insofern anthropologisch relevant, als schon Hamann gegen den Purismus eines abstrakten Vernunftbegriffs einwendet, man erkenne in ihm „einen gnostischen Haß gegen Materie und eine mystische Liebe zur Form“ und zugleich eine „gewalttätige, unbefugte eigensinnige Scheidung desjenigen, was die Natur zusammengefügt hat“.

Hier müssen wir ansetzen, wenn wir uns den Herausforderungen der Digitalisierung und der so genannten Künstlichen Intelligenz für Theologie und Kirche theologisch stellen wollen. Natürlich lassen sich digitale Kommunikationsformen auch für die Kommunikation des Evangeliums einsetzen. Weshalb sollte man nicht auf ein Medium wie ChatGPT bei der Predigtvorbereitung zurückgreifen, solange der Prediger oder die Predigerin noch die Verantwortung für den Inhalt trägt, der auf der Kanzel vorgetragen wird? Entscheidend ist aber die Frage, ob Glauben und das Evangelium als Grund des Glaubens authentisch bezeugt oder nur simuliert werden. Es gehört zu den paradoxen Signaturen der Gegenwart, dass die Simulation von Subjektivität die Hochschätzung von Authentizität (Charles Taylor) und Singularitäten (Andreas Reckwitz) unterläuft. Glaube, so lautet eine gelungene Formulierung Eberhard Jüngels, die auch Gerhard Ebeling verwendet hat, ist Erfahrung mit der Erfahrung. Rechenprogramme machen keine Erfahrungen und schon gar nicht Erfahrungen mit Erfahrungen. Sie können sie bestenfalls simulieren.

Genügt am Ende die perfekte Simulation, um einen Gottesdienst feiern zu können, wie auf dem Kirchentag in Nürnberg geschehen? Lässt sich der Prediger, die Predigerin als Zeuge des Glaubens und des Evangeliums durch einen Avatar ersetzen, der nicht als Person aus Fleisch und Blut für das einsteht, was er sagt? Macht es einen Unterschied, ob man einen Rundfunk- oder Fernsehgottesdienst anschaut, der möglicherweise zeitversetzt gesendet wird, ob man einen digitalen Gottesdienst im Internet mitfeiert oder ob man in Präsenz einem Gottesdienst beiwohnt, der von einem Avatar geleitet wird?

Die reformatorische Tradition rechnet mit der Selbstmächtigkeit des göttlichen Wortes, die nicht an die Würdigkeit der Person dessen gebunden ist, der es bezeugt und verkündigt. Das Verstehen als Akt der Rezeption und somit der Glaube, der aus solchem Hören oder Lesen und Verstehen hervorgeht, können durch unterschiedliche Medien geweckt werden. Es ist letztlich ein geistliches Geschehen, das auf das Wirken des Heiligen Geistes zurückgeführt wird. Der vernehmende Glaube selbst lässt sich nicht simulieren, wie auch niemand im Glauben, nämlich darin, Gott über alle Dinge zu fürchten, zu lieben und zu vertrauen, durch einen anderen ersetzt werden kann.

Leiblichkeit des Wortes

Zur Leiblichkeit des Wortes (CA 5) gehört, dass laut Confessio Augustana 14 nur predigen soll, der dazu aus der Gemeinschaft der Glaubenden ordnungsgemäß berufen ist und für sein Zeugnis persönlich einstehen kann. Eine KI kann das niemals sein. Als Zeugen persönlichen Glaubens und des göttlichen Wortes, die Rede und Antwort stehen, können Personen durch keine KI und keinen Avatar ersetzt werden. Ich kann auch nicht mit einem Avatar gemeinsam beten. Mag dieser Eindruck auch in einem Gottesdienst wie jüngst beim Kirchentag in Nürnberg entstehen, es sind doch nur die anwesenden Personen, die gemeinsam beten. Wer zu zweit mit einem Avatar betet, betet in Wahrheit für sich allein. Selbst dann, wenn kommunizierende Personen nicht unmittelbar physisch präsent sind, bleibt Glaube ein interpersonales Geschehen, das die Existenz von leibhaftigen Personen zur Bedingung hat. Letztlich ist Glaube ein ganzheitlicher Lebensakt, der sich wie unser endliches leibliches Leben nicht simulieren lässt.

Im kritischen Umgang mit digitalen Medien und Künstlicher Intelligenz kommt es darauf an, einer neuen Platonisierung des Christentums gegenzusteuern. Eben darum gehört zum Glauben die Hoffnung auf die leibliche Auferstehung, mag auch wie bei Paulus an einen nicht näher beschriebenen geistlichen Auferstehungsleib gedacht sein. Der Digitalisierung zum Trotz bleibt die Einsicht Friedrich Christoph Oetingers (1702–1782) gültig, dass Leiblichkeit das Ende der Werke Gottes ist. 

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