Soziale Seismografen

Warum die Militärseelsorge nach der Zeitenwende vor neuen Herausforderungen steht
Militärpfarrer Andreas-Christian Tübler aus Appen bei Hamburg feiert einen Feldgottesdienst mit Bundeswehrsoldaten in Koulikoro/Mali.
Foto: epd
Militärpfarrer Andreas-Christian Tübler aus Appen bei Hamburg feiert einen Feldgottesdienst mit Bundeswehrsoldaten in Koulikoro/Mali.

Die Reformphasen der Bundeswehr haben sich immer auch auf die Militärseelsorge ausgewirkt. Durch Veränderungen sieht diese sich herausgefordert, die Begleitung der Soldatinnen, Soldaten und ihrer Familien an neue Erfordernisse und Dynamiken anzupassen. Damit stellt sich in diesen Zeiten die Frage nach der künftigen Gestalt der Militärseelsorge, wie die zeitzeichen-Herausgeberin und Praktische Theologin Isolde Karle und ihr Kollege Niklas Peuckmann darlegen.

In Reaktion auf den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine sprach Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner vielbeachteten Rede vom 27. Februar 2022 von einer „Zeitenwende“. Dieser Begriff ist seither in aller Munde. Er ist zu einem Programmbegriff geworden, der den Startpunkt markiert, die europäische Sicherheitsarchitektur neu zu konzipieren und im selben Zug die Bundeswehr finanziell und materiell massiv aufzuwerten. Mit dem Ausdruck der „Zeitenwende“ verbindet sich darüber hinaus eine Wahrnehmungswende, die alles auf den Prüfstand stellt, was mit Sicherheit, Militär und Frieden zusammenhängt. Insofern ist es wenig überraschend, dass dieser Programmbegriff auch innerhalb der Kirche rezipiert, diskutiert und zum Anlass genommen wird, neu über die Friedensethik nachzudenken. Die Diskussionen schwanken dabei zwischen einem nach wie vor sehr klar vertretenen Pazifismus einerseits und einer ebenso deutlich vertretenen Position der direkten und solidarischen Unterstützung der Ukraine (auch mit Waffenlieferungen) andererseits. Der Fokus in diesem Beitrag liegt demgegenüber auf der Frage, was die „Zeitenwende“ für die Militärseelsorge bedeutet. Dabei sind zum einen die Auswirkungen dieses Paradigmenwechsels auf die Praxis der Seelsorge in der Bundeswehr in den Blick zu nehmen, zum andern gilt es aber auch und vor allem, die existentiellen Folgen der „Zeitenwende“ zu reflektieren.

Breites Fundament

Zunächst ist zu klären, auf welchem Fundament die „Zeitenwende“ eigentlich steht. Es gehört zum Wesen der Bundeswehr, sich fortwährend weiterzuentwickeln. Als eine Armee in der Demokratie reagieren die Streitkräfte auf Impulse, die von außen an sie herangetragen werden. Diese Impulse kommen aus Politik und Gesellschaft, sie wurzeln mitunter aber auch in eruptiven Veränderungen der globalen sicherheitspolitischen Lage. Die Bundeswehr – das zeigt ihre Geschichte eindrücklich – sieht sich deshalb einem kontinuierlichen Transformationsprozess ausgesetzt.

Es ist für die Bundeswehr insofern keine grundlegend neue Erfahrung, sich neuen Herausforderungen zu stellen. Neu an der nun proklamierten „Zeitenwende“ ist, dass die Impulse zur Veränderungsnotwendigkeit aus den Bereichen der Gesellschaft, der Politik sowie dem Militär selbst stammen. Die „Zeitenwende“ fußt mithin auf einem deutlich breiteren Fundament als frühere Reformprozesse. Dies hängt damit zusammen, dass sich mit dem Angriffskrieg Russlands auf die gesamtterritoriale Integrität der Ukraine die geo- und sicherheitspolitische Lage wahrnehmbar – und zwar für alle Bereiche der Öffentlichkeit – verändert hat.

Schon seit 2015 gibt es in Deutschland Bestrebungen, einen sicherheits- und verteidigungspolitischen Strategiewechsel vorzunehmen. Dieser Strategiewechsel hängt nicht zuletzt mit den Erfahrungen der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim im Frühjahr 2014 durch Russland zusammen. Im Weißbuch der Bundeswehr aus dem Jahr 2016 wird festgehalten, dass der Fokus nicht mehr nur auf die Auslandseinsätze gerichtet ist, sondern sich zugunsten der Landes- und Bündnisverteidigung, für die seitdem genügend Truppenkontingente vorgehalten werden sollen, verschiebt. Die „Zeitenwende“ fußt insofern nicht nur auf einem breiten Fundament der Zustimmung, sondern besitzt selbst eine Vorgeschichte.

Die Reformphasen der Bundeswehr haben sich immer auch auf die Militärseelsorge ausgewirkt. Durch Veränderungen in der Bundeswehr sieht sich die Militärseelsorge herausgefordert, die Begleitung der Soldat*innen und ihrer Familien an systemspezifische Erfordernisse und Dynamiken anzupassen. Dies zeigt sich auch im Rahmen der „Zeitenwende“. So wurde die Einsatz- beziehungsweise Missionsbegleitung auf die NATO-Ostflanke ausgeweitet. Dementsprechend ist die Militärseelsorge gegenwärtig in Litauen und der Slowakei präsent.

Im Zuge der jüngsten Diskussionen um die Haltung der Kirchen zum Krieg in der Ukraine ist die friedensethische Profilierung der Militärseelsorge noch weiter in den Vordergrund gerückt. Dies hat gute Gründe, doch sollte die Perspektive der Seelsorge demgegenüber nicht vernachlässigt werden. Denn in der Praxis der Militärseelsorge steht die Seelsorge selbst weiterhin im Zentrum: Es geht um die seelsorgliche Begleitung von Soldat*innen und ihren Familien in der Heimat und im Ausland. Dies hat sich durch die „Zeitenwende“ nicht geändert. Militärpfarrer*innen verstehen ihren Dienst auch unter den aktuellen Bedingungen einer sicherheitspolitisch veränderten Welt weiterhin im Sinne einer konfessionsübergreifenden Ansprechbarkeit als seelsorgliche Begleitung.

Mit dem Ausdruck der „Zeitenwende“ verbindet sich ein Reformprozess, der die künftige Bundeswehr prägen wird. Damit stellt sich zugleich die Frage nach der künftigen Gestalt der Militärseelsorge. Es ist naheliegend anzunehmen, dass neue Dienstposten für die Militärseelsorge eingerichtet werden müssen, wenn es der Bundeswehr tatsächlich gelingt, ihre Truppenstärke wie beabsichtigt zu vergrößern. In Zeiten der Verflüchtigung der Volkskirche stellt ein kirchliches Handlungsfeld, das wächst, ein ungewohntes Gegenbeispiel zum allgemeinen Trend dar. Dies löst womöglich nicht nur Freude bei den Kirchen aus, sondern könnte auch mit Konkurrenzen unter den Landeskirchen einhergehen, weil diese die Pfarrer*innen für den Dienst in der Militärseelsorge befristet freistellen müssen. In Zeiten des Pfarrermangels könnte das nicht nur als Chance, sondern auch als Problem wahrgenommen werden. Die neu eingerichtete Jüdische Militärseelsorge, die gerade sukzessive aufgebaut wird, zeigt, dass sich die Militärseelsorge bereits jetzt interreligiös vergrößert. Ob die „Zeitenwende“ überdies die wünschenswerte Institutionalisierung einer Muslimischen Militärseelsorge, über die seit Anfang der 2010er-Jahre intensiv diskutiert wird, weiter voranbringt, bleibt abzuwarten.

Schwerwiegender dürfte indes noch sein, welche existenziellen Folgen die „Zeitenwende“ selbst nach sich ziehen könnte. So werden innerhalb der Bundeswehr aktuell theoretische Szenarien durchgespielt, von denen man inständig hofft, dass sie niemals eintreten werden. Dabei ist vor allem an eine mögliche Ausweitung des Krieges Russlands gegen die Ukraine zu denken, durch die der Bündnisfall eintreten könnte. Konkret geht es für die Militärseelsorge um die Frage, wie der Platz und die Funktion eines Seelsorgers beziehungsweise einer Seelsorgerin in einem solchen Fall zu bestimmen wäre. Damit einher gehen Fragen nach den Kapazitäten der seelsorglichen Begleitung von Soldat*innen, die in aktive Kampfhandlungen eingebunden wären.

Bedrückende Vorstellungen

Mit einem solchen Schritt beträte die Bundeswehr Neuland. Sie machte in den zurückliegenden Auslandseinsätzen – konkret im Afghanistaneinsatz – zwar bereits Erfahrungen mit Kampfhandlungen, doch ist die Größenordnung, die bei einer Ausweitung des Krieges im Raum steht, mit diesen Erfahrungen nicht vergleichbar. Es ginge nicht um die singuläre Situation, dass es zu einem oder wenigen getöteten Soldaten kommt, es wären vielmehr viele Tote zu beklagen, und es entstünde darüber hinaus ein ganz anderes Bedrohungspotenzial für die heimische Bevölkerung. Schon die Afghanistaneinsätze zeigten, wie belastend die Kampfhandlungen für viele Soldat*innen waren. Träte der Bündnisfall ein, wäre die Belastung ungleich höher und umfassender.

Gegenwärtig sind diese bedrängenden Konfrontationsszenarien zum Glück reine Theorie. Trotzdem üben die damit verbundenen Sorgen und Befürchtungen schon jetzt Einfluss auf die Soldat*innen und ihre Familien aus. Der 24. Februar 2022 hat in erschreckender Klarheit vor Augen geführt, dass ein Krieg nicht – wie bislang – undenkbar ist, sondern im äußersten Grenzfall Realität werden kann. Dies ruft Verunsicherung bei Soldat*innen der Bundeswehr hervor. Genau diese Verunsicherungen werden auch an die Seelsorger*innen herangetragen. Zudem sind diese selbst von der veränderten sicherheitspolitischen Lage betroffen – was, wenn es tatsächlich zu offenen Kampfhandlungen im Feld kommen sollte, bei denen Bundeswehrsoldat*innen zu begleiten wären? Für nicht wenige ist das eine bedrückende Vorstellung.

Die Verunsicherungen schärfen zugleich den Blick für einen blinden Fleck in der Diskussion um die „Zeitenwende“. Die Diskussion kapriziert sich gegenwärtig vor allem auf technische, materielle und finanzielle Fragen. Die Veränderungen, die damit angestoßen werden, werden aber nicht abstrakt bleiben, sondern spürbaren Einfluss auf die Lebenswelt vieler Menschen haben. Zuvörderst betrifft dies die Soldat*innen, die die neuen Eventualitäten aushalten und im Ernstfall im Sinne ihres Eides zur Landes- und Bündnisverteidigung an Kampfhandlungen teilnehmen müssten. Das macht deutlich, dass alle technischen, materiellen und finanziellen Fragen – so wichtig und drängend sie auch sein mögen – zugleich als existentielle und soziale Fragen zu behandeln und zu reflektieren sind. Es gehört zur postheroischen Ehrlichkeit auszusprechen, dass die neu angedachte Sicherheitsarchitektur in erheblichem Ausmaß auf Kosten der Personen gehen könnte, die diese vorrangig repräsentieren und zu tragen haben.

Kritische Solidarität

Auf die Ausweitung der Debatte sollte deshalb auch die Kirche und konkret die Militärseelsorge Einfluss nehmen, indem sie auf die enormen Belastungen und Herausforderungen, denen sich bereits heute Soldat*innen in ihrem Dienst stellen, hinweisen. Die Militärseelsorge leistet ihren Dienst in der Bundeswehr im Zeichen einer kritischen Solidarität. Eine kritische Solidarität verliert die handelnden Personen innerhalb der ambivalenten Kontexte ihres Dienstes nicht aus dem Blick, sondern begleitet sie solidarisch. Gleichzeitig schärft sie das Bewusstsein für krisenhafte Zustände oder problematische Entwicklungen. Der kritischen Solidarität wohnt insofern eine Seismografenfunktion inne, die auch für die aktuelle Debatte zur „Zeitenwende“ relevant ist. Es geht um eine Perspektivenerweiterung, die dazu verhilft, Sicherheitspolitik nicht nur abstrakt zu denken, sondern sie in ihren konkreten und vor allem auch existentiellen Konsequenzen durchzubuchstabieren, um der Komplexität der Thematik gerecht zu werden.

Diese Komplexität spiegelt sich auch im politischen Handeln. Bundeskanzler Olaf Scholz agierte bislang vorsichtig und in internationaler Abstimmung mit Blick auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine. Er wurde dafür vielfach kritisiert, doch scheint uns diese Vorsicht angesichts der schwerwiegenden Fragen, um die es hier geht, angemessen. Ziel war und ist es, die Ukraine in ihrem Kampf um die Freiheit solidarisch zu unterstützen, eine Ausweitung des Krieges aber zugleich mit aller Kraft zu verhindern. Darin zeigt sich ein Ringen um sicherheitspolitische Lösungen, das der Vision vom Frieden in Europa verpflichtet ist. In genau dieser Verpflichtung sollte auch die „Zeitwende“ stehen, die es im Sinne der kritischen Solidarität zu reflektieren und zu gestalten gilt. 

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Foto: privat

Niklas Peuckmann

Dr. Niklas Peuckmann ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Praktische Theologie an der Universität Bochum.


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