Nach der Volkskirche

Die Menschen verstehen kein Christianesisch mehr. Kann man das noch ändern?
Foto: privat

Vor einigen Wochen schrieb Margot Käßmann ihre letzte Kolumne in der Bild und warnte darin vor einem post-christlichen Deutschland: „Wenn die Kirchen aus den Dörfern und Städten verschwinden, wo kommen wir zusammen in den großen Krisen und Katastrophen? Wenn wir nicht mehr miteinander singen und beten können, keine gemeinsamen Rituale mehr haben, zerbröselt auch die Gemeinschaft.”

Recht hat sie. Die dezentrale Struktur der Volkskirche hatte eine gesellschaftliche Bedeutung, die weit über die einer religiösen Gruppierung hinausging. Ich kann selbst auch ein Beispiel dazulegen: Kürzlich kam bei uns in der Redaktion der Brief einer alte Dame an. Sie machte sich Sorgen um ihre 95 Jahre alte Schwester, die allein und vereinsamt in einem Pflegeheim in einer anderen Stadt lebt, und fragte, ob wir nicht einen Besuch arrangieren könnten. Nichts leichter als das: Ich googelte die zuständige Kirchengemeinde und bat dort, sich zu kümmern - zack, Fall gelöst.

Ja, wenn es die Volkskirche nicht gäbe, müsste man sie erfinden. Aber was können wir gegen ihr Verschwinden tun?

Sünde ist Schokolade

Häufig werden Beobachtungen wie die von Käßmann als Plädoyer dafür verstanden, dass wir wieder mehr für Kirche und Christentum werben müssten. Dass wir uns offen zu unserer Religiosität bekennen sollen. Man schüttelt den Kopf über Leute, die sich zwar aufregen, wenn Kirchen verkauft oder abgerissen werden, aber selbst nie in den Gottesdienst gehen. Also: Lasst uns wieder mehr von Gott und Jesus reden, die Leute zum Glauben zurückführen!

Quatsch, sage ich. Der Versuch, Menschen (in relevanter Anzahl) wieder zu Gott, Kreuz und Christentum zu bringen, wird scheitern. Nicht, weil sie heute alle gottlos wären, keineswegs. Die Zahl der inhaltlich überzeugten Atheist*innen, mit denen man sich in Debatten pro und contra Gottesglauben verwickeln kann, ist doch sehr überschaubar. Sondern weil einfach niemand mehr versteht, wovon die Rede ist, wenn wir “Gott” oder “Kreuz” oder “Auferstehung” sagen. Wir könnten genausogut Chinesisch reden.

Die übergroße Mehrheit der Menschen (auch der Kirchenmitglieder) denkt und spricht ganz einfach nicht mehr im Rahmen der traditionellen christlichen symbolischen Ordnung. Wenn von „Sünde“ die Rede ist, denken die Leute an Schokolade, und jedes Jahr an Pfingsten haben sie schon wieder keine Ahnung, worum es eigentlich geht. Und sie empfinden das keineswegs als Mangel, weshalb alle Erklärversuche kirchlicher Kommunikationsbeauftragter ins Leere laufen.

Bleierne Müdigkeit

„Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“, lautet eine berühmte Erkenntnis Ludwig Wittgensteins. Das heißt im Umkehrschluss: Wörter, die im Alltag nicht gebraucht werden, bedeuten auch nichts. Und das betrifft inzwischen fast das gesamte christliche Vokabular. Nicht, dass wir uns falsch verstehen, ich persönlich finde das schade. Ich finde das Wort „Gott“ und überhaupt den symbolischen Kosmos des Christentums ausgesprochen nützlich, um über Sinnfragen zu philosophieren. Aber ich habe inzwischen akzeptiert, dass mich niemand versteht, wenn ich das tue, außer bürgerlich gebildeten Menschen über Sechzig und meinen Kolleg*innen, die ebenfalls bei der Kirche arbeiten.

Eine gute Bekannte von mir, Anne Newball Duke, hat ihre Fremdheitsempfindungen in Punkto „Gottesrede“ kürzlich sehr ausführlich ausformuliert. Ich habe das mit großem Interesse gelesen und, ja, ich hätte auf praktisch alle ihre Kritikpunkte eine schlaue und differenzierte Erwiderung. Aber allein beim Gedanken daran, das auseinander dröseln zu sollen, überkommt mich bleierne Müdigkeit: Was soll das bringen? Es ist doch kein Problem, dass ich mit dem Begriff „Gott“ etwas anfangen kann und sie nicht. Es steht kein wirklicher Konflikt dahinter. Wir sind uns in den wesentlichen moralischen, ethischen und politischen Themen einig, worüber sollen wir denn diskutieren?

Und da sind wir keine Ausnahme. Sämtliche Umfragen zeigen, dass es in Bezug auf Ansichten und Werte keine nennenswerten statistischen Unterschiede zwischen religiösen Menschen und nicht religiösen Menschen gibt. Der Soziologe Detlef Pollack erklärte das kürzlich in der FAZ damit, dass Europa viel mehr von christlichen Traditionen beeinflusst sei, als die Leute sich klarmachen: „Werte wie Gerechtigkeit, Mitleid, Demut – oder wie wir heute sagen: Fairness, Empathie, Bescheidenheit – haben eine große Bedeutung. Menschen, die von außen nach Europa kommen, bemerken diese Spuren des Christentums sehr deutlich. Mit Max Weber denke ich aber auch, dass diese ethischen Orientierungen inzwischen auch unabhängig vom Christentum existieren können und in den westlichen Gesellschaften inzwischen auf eigenen, säkularen Füßen stehen.”

Kommunale Orte

Anders gesagt: Das Christentum hat’s vielleicht erfunden, aber andere haben’s übernommen, weiterentwickelt und halten es jetzt für ihr Eigenes. Sei’s drum. Zugegebenermaßen hat die Kirche neben allem Guten auch viel Mist gemacht (und tut es weiterhin). Deshalb möchten sich viele Menschen nicht mehr als christlich identifizieren und haben aufgehört, in solchen Begrifflichkeiten zu sprechen und zu denken. Das mag man bedauern oder begrüßen, ändern wird es sich nicht mehr. Allen Prognosen zufolge geht der Mitgliederverlust der Kirchen weiter.

Und was wird dann aus der Volkskirche? Die Bundestagsabgeordnete Lamya Kaddor hat in ihren Instagram-Stories kürzlich vorgeschlagen, ehemalige Kirchen als kommunale Orte der Begegnung weiter zu betreiben. Eine schöne Idee, finde ich. Eben weil eine Gesellschaft tatsächlich solche Orte braucht: Anlaufstellen für in der Nachbarschaft, Räume für gemeinsame Aktivitäten und Debatten, Zusammenkünfte, bei denen Menschen Halt finden in Zeiten von Krisen, Gemeinschaften, wo sie sich gegenseitig trösten und Mut machen und Zugehörigkeit erfahren können. Aber Kirchengemeinden, in denen „Christianesisch“ gesprochen wird, können diese Orte nicht mehr sein.

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