Starker, schöner Tobak

Nach drei Jahren gab es endlich wieder eine Karl-Barth-Tagung „in echt“
Vierfacher Barthsinn, Collage (2018).
Foto: Lisa Wolters-LWS-Mediengestaltung-Aurich
Vierfacher Barthsinn, Collage (2018).

Nach einer längeren Zwangspause fand endlich wieder die Karl-Barth-Tagung im Präsenzmodus statt. Sie konnte zwar nicht auf dem traditionellen Leuenberg zusammenkommen, aber das machte nichts, denn Chrischona erwies sich als gute Alternative. Eindrücke vom heiteren Theologietreiben in leicht erhöhten Ton.

Alle Jahre wieder kam seit 1970 Mitte Juli stets die Karl-Barth-Tagung auf dem Leuenberg, gut 20 Kilometer südöstlich von Basel, zusammen. 2019 konnte dort das 50-jährige Jubiläum gefeiert werden. Dann gab's Corona, und das Treffen der Freundinnen und Freunde Barth‘scher Theologie musste dreimal in Folge ausfallen, beziehungsweise fand zweimal der Pandemie geschuldet nur hilfsweise per Zoom statt. Und 2022, als es eigentlich schon wieder gegangen wäre, musste die geplante Tagung recht spontan ausfallen, da das Hotel auf dem Leuenberg plötzlich in Konkurs gegangen war. Künstlerpech!

Aber der Leuenberg lebt wieder, wenn auch nicht auf dem Leuenberg – denn die Tagung fand erstmals im Konferenzzentrum Chrischona westlich von Basel statt – nur wenige hundert Meter Luftlinie von der deutschen Grenze entfernt. Mit dieser Dialektik musste die 53. Karl-Barth-Tagung vom 17. bis 20. Juli klarkommen, was gelang. Hauptsache, alles wieder live und „in echt“!

„Schöpfung als Wohltat?“ – das Thema der Tagung trug mit Recht ein Fragezeichen, möchte man doch den wohltätigen Charakter der Schöpfung angesichts der herrschende Lage durchaus in Frage stellen, wenn heute apokalyptische Nachrichten die Welt erschüttern: Waldbrände allerorten, Hitzerekorde und Wassermangel kennzeichnen „die“ Schöpfung als bedroht. Wie kann das eine Wohltat sein?

„Unfähig oder unwillig?“

Ja, der Titel der Tagung sei „altertümlich“ und provozierend“, gab Günter Thomas, Professor für Systematische Theologie, Ethik und Fundamentaltheologie an der Ruhruniversität Bochum und einer der beiden Sprecher des Vorbereitungskreises, in seiner Eröffnung zu. Nicht zuletzt die Corona-Pandemie habe bei vielen Christinnen und Christen die Frage aufgeworfen: „Ist die naturale Seite der Schöpfung tatsächlich nur gut?“ und „Gilt das ,Siehe, es war sehr gut‘ aus dem Buch Genesis tatsächlich der ganzen heutigen naturalen Schöpfung, für Krankheiten und Viren, die den sogenannten Selektionsdruck erhöhen?“ Wenn dies alles nicht zur guten Natur gehören würde, was würde das dann über den Schöpfer aussagen? Wäre dann Gott „unfähig oder unwillig eine bessere Welt zu schaffen“?

Diese Frage sei uralt und verfolge das Christentum von Anfang an, so Thomas in seiner luziden Einführung, und erinnerte an den Erzketzer Markion. Der habe bereits in der Alten Kirche im 2. Jahrhundert einen „jesuanischen unbekannten Gott der Liebe“ dem bekannten defizitären Schöpfergott des Alten Testaments gegenübergestellt, der eine „defizitäre und minderwertige Welt voller Leiden und Zerstörung“ geschaffen habe. Markion habe so bereits in der „formativen Phase des Christentums“ die Frage nach der Güte der Schöpfung radikalisiert und eine einfache Antwort vertreten: „Der Schöpfer der materiellen Welt mit all ihrem Leiden, ihrem Elend und ihrer Prägung durch den Tod hat nichts mit dem Gott der Liebe und Barmherzigkeit zu tun.“ Die radikale und schlichte Einsicht des Markion lautete damals: Es gibt zwei Götter, den bösen „Demiurgen“ der Schöpfung und den erlösenden, liebenden Gott der Verkündigung Jesu.

Zwar habe das Christentum Markions Lehre „in seinen Hauptströmungen“ klar abgewehrt, aber die von ihm aufgeworfenen Fragen konnten nicht „stillgestellt oder ausgelöscht“ werden, vielmehr begleite die Frage nach der Güte der Schöpfung alles theologisches Denken seitdem, wenn auch ganz unterschiedlich: So habe für Johannes Calvin gegolten, dass die Christen dem „Kerker des irdischen Leibes entfliehen sollten und würden“. Bei ihm und anderen Reformatoren sei also die Anthropologie und Sündenlehre der Ort gewesen, an dem die „Güte der naturalen Welt“ intensiv verhandelt wurde. Insbesondere auch die Frage, ob die naturale Welt in den „Prozess der Erlösung“ mit eingeschlossen sei und „wenn ja: Warum sollte sie und vor allem: wie?“ Dem stehe die reiche biblische Tradition entgegen, in der das „vielstimmige Lob des Schöpfers“ erklinge, und in den Gesangbüchern erinnerten unter anderen die Lieder Paul Gerhardts daran. In diesen Traditionen sei die Natur „so schön, dass sie Gleichnis des Heils werden kann.“

„Alte, daueraktuelle Fragen“

So konnte es lang gehen, bis Charles Darwin im 19. Jahrhundert die Bühne betrat und die Theologie vor eine doppelte Herausforderung stellte. Zum einen vor die nach dem Ursprung der Schöpfung, klar. Aber die weitere Frage, so Thomas, sei viel „korrodierender“ für eine hoffnungsfrohe Schöpferlobtheologie: „Ist die Schöpfung gut, wenn Zerstörung, Täuschung, verschwenderische Vernichtung, Verdrängung und Tod die notwendige Rückseite einer großartigen Kreativität sind.“ Diese Frage lasse sich auch durch die „die endlos wiederholte ökumenische Beschwörungsformel ,Friede, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung‘ nicht stillstellen. Insofern sei die Darwin’sche Evolutionstheorie, so der Bochumer Professor abschließend, der „neue Horizont alter, daueraktueller Fragen“.

Fürwahr, das sind nicht nur daueraktuelle, sondern heute auch übergroße Fragen, ja, eigentlich die Menschheitsfragen überhaupt! Wo anfangen, wo aufhören? Muss hier nicht – Stichwort Fridays for Future, Stichwort Last Generation – mehr gehandelt als nur gedacht werden? Wer heute die Zeitung aufschlägt, kann zu diesem Eindruck kommen. Aber laut Karl Barth braucht man zur Erkenntnis und Durchdringung der Dinge eben Zeitung und Bibel, denn – wie sagte der große Theologe einst: „Die Bibel lehrt uns die menschlichen Dinge in ihrem Zentrum zu sehen, in ihrer Höhe, in ihrer Tiefe zu sehen.“ Die Zeitung hingegen sei „der tägliche Bericht über das, was sich in der Menschheit zuträgt.“ Aber nur die Bibel „lehrt uns, daß eben diese Menschheit von Gott geliebt ist.“[1]

Band III,1 der Kirchlichen Dogmatik (KD) von Karl Barth, mit den ersten drei Paragrafen der Schöpfungslehre.
Foto: Reinhard Mawick

Band III,1 der Kirchlichen Dogmatik (KD) von Karl Barth, mit den ersten drei Paragrafen der Schöpfungslehre.

 

Dieser warme, optimistische Ton trägt auch Barths Schöpfungslehre, deren erste Teile im Band III/1 der Kirchlichen Dogmatik (KD) niedergelegt sind und die er in den Kriegsjahren 1942 bis 1945 erarbeitete. Er entfaltet sie, wenig überraschend für alle, die schon mal etwas von Barths Theologie gehört haben, von der Bibel her. Was seinen Ausgangspunkt angeht, ist eigentlich in dem zusammenfassenden Bandwurmsatz, den Barth als Vorspruch beziehungsweise Zusammenfassung des Folgenden unter der Überschrift „Der Glaube an Gott den Schöpfer“ voranstellt, alles gesagt:

Die Einsicht, daß der Mensch sein Dasein und Sosein mit aller von Gott verschiedenen Wirklichkeit zusammen mit der Schöpfung Gottes zu verdanken hat, vollzieht sich allein im Empfang und in der Beantwortung des göttlichen Selbstzeugnisses, d.h. allein im Glauben an Jesus Christus: in der Erkenntnis der in ihm verwirklichten Einheit von Schöpfer und Geschöpf und in dem durch ihn vermittelten Leben in der Gegenwart, unter dem Recht und in der Erfahrung der Güte des Schöpfers seinem Geschöpf gegenüber.[2]

„(A)llein im Empfang und in der Beantwortung des göttlichen Selbstzeugnisses, d.h. allein im Glauben an Jesus Christus“ … „allein“ ist also das Schlüsselwort, nach dem Barth im Folgenden handelt, indem er die Geschichte der Schöpfung als erzählende Auslegung der Schöpfungsgeschichte von Genesis 1 und 2 entfaltet. Zunächst im kurzen einleitenden § 40 (43 Buchseiten), dann im langen § 41 „Schöpfung und Bund“ (333 Buchseiten!) und schließlich im wieder kürzeren § 42 „Das Ja Gottes des Schöpfers“ (99 Buchseiten).

Basistext § 42

Aus dem letzten Paragraph des Bandes, dem § 42, in dem Barth beschwört, dass die Güte des Schöpfers die Schöpfung gut geschaffen habe, stammte der sogenannte Basistext, den die Teilnehmenden vorzubereiten hatten. Diesen Paragraphen fasste im Eingangsvortrag[3] Matthias Wüthrich, Zürcher Professor für Systematische Theologie insbesondere Religionsphilosophie, und der andere Sprecher des Vorbereitungskreises der Tagung, noch einmal ordnend zusammen, allerdings nicht ohne eine Art Warnhinweis vorauszuschicken: „Barths Schöpfungslehre (…) gilt gemeinhin nicht als das Glanzstück der KD – die Erwählungs- und Versöhnungslehre erfreuen sich in der Literatur größerer Beliebtheit.“

Doch allen berechtigten Vorbehalten zum Trotz plädiert Wüthrich dann doch dafür, dass Barths Schöpfungslehre „und insbesondere seine Interpretation der Güte der Schöpfung theologisch durchaus relevant“ sei „und zwar bis heute!“ Ja, Barth stelle ganz bewusst „(k)eine Gesamtsicht auf die Welt, keine Naturbetrachtung, keine Erläuterung eines christlichen Weltbildes“ und „keine Kosmologie“ an den Anfang der Schöpfungslehre, sondern verfahre laut Wüthrich so: „Nicht mit der Schöpfung, sondern mit der Erkenntnis des Schöpfers ist zu beginnen, und bei dieser Erkenntnis handelt es sich um eine Glaubenserkenntnis.“

Das war und ist natürlich starker Tobak für alle Barth-Ungeübten und Nicht-Eingeweihten, zumal es ja heute vordringlich darum geht, dass diese „Schöpfung“, sofern man darunter unsere uns umgebende handgreifliche und sichtbare Welt und Atmosphäre versteht, hochgradig bedroht erscheint. Nun standen Karl Barth 1945 zwar nicht die sich anbahnende Klimakatastrophe, aber genügend andere Gräuel und Gefahren, auch menschheitsgefährdende Gefahren vor Augen – waren doch zum Zeitpunkt des Abschlusses seiner Schöpfungslehre gerade die beiden Atombomben auf Japan gefallen. Und natürlich bestreitet Barth auch nicht, dass die Schöpfung zwei „Daseinsaspekte“ habe, eine Licht- und eine Schattenseite oder in seinen Worten, eine Bestimmung zu „Erheblichkeit und Würdigkeit“ auf der einen und zu „Bedürftigkeit und Gefährdung“ auf der anderen Seite. Warum aber muss es letztere Bestimmung geben, wenn doch die Schöpfung in sich reine Güte sei? Nun, der Sinn – beziehungsweise der „Grund“, wie Barth es nennt – von „Bedürftigkeit und Gefährdung", liegt in dessen Notwendigkeit für das Heilshandeln Gottes in Jesus Christus, in Kreuz und Auferstehung.

Aller Grund in Jesus Christus?!

Noch Fragen? Wüthrich zitiert die auch seiner Ansicht nach „steile Antwort“ Barths aus § 42: „Um ihn in seinem eigenen Sohn zur Gemeinschaft mit sich selbst zu erheben, hat Gott den Menschen geschaffen: das ist der positive Sinn seines Daseins und alles Daseins. Eben diese Erhebung hat aber zur Voraussetzung seine und des ganzen Daseins von Gottes eigenem Sohn zu teilende und zu ertragende Niedrigkeit: das ist der negative Sinn des Geschöpfs. Indem Alles auf Jesus Christus, auf seinen Tod und seine Auferstehung hin geschaffen ist, muß Alles zum vornherein unter dieser doppelten, entgegenstehenden Bestimmung stehen: es ist nicht Nichts, sondern Etwas, aber Etwas am Rande des Nichts, ein dem Nichts benachbartes und von ihm bedrohtes und aus und durch sich selbst dieser Bedrohung nicht gewachsenes Etwas.“[4]

Dahinter sind gewaltige Gedanken zu vermuten, auch wenn der/die Ungeübte sie nicht gleich zu begreifen vermag! Und so fragte Wüthrich auch, wie angesichts dieses Befundes die Schöpfung gerechtfertigt sein oder gar als vollkommen betrachtet werden könne. Liest man im § 42 weiter, so Wüthrich, stelle man fest: Barth habe dieses Problem durchaus erkannt, aber darin keinen Grund zur Verzweiflung gesehen, denn – so Barth – „der Trotz des christlichen Glaubens, ohne den es in dieser Sache allerdings nicht abgehen wird“ sei eben „ kein blinder Trotz (…), kein bloßes Behaupten, kein idealistisches Postulieren, keine bloße Resignation zu ruhiger Verehrung des Unerforschlichen, keine bloße Unterwerfung unter die Tatsächlichkeit unaufgelöster Antinomien“. Sondern bitte was? Wüthrich führte in seinem Vortrag behutsam in eine spezifisch dynamische Dialektik ein, in das Verhältnis der beiden unleugbar vorhandenen Daseinsaspekte, welches ein „asymmetrisches und dynamisches“ Verhältnis sei. Denn letztlich sei Barth überzeugt, so Wüthrich, dass es „zur Aufhebung des Dualismus von Licht- und Schattenseite“ kommen müsse und zitierte zur Illustration diesen Abschnitt noch einmal ausführlich Barth, wenn jener in der ihm typischen Emphase diese Lösung anbietet:

Man kann von da aus offenbar unmöglich von einem ewigen, man kann von da aus offenbar nur von einem in der Aufhebung begriffenen Dualismus jener beiden Aspekte reden. Kann man gerade von da aus unmöglich leugnen, daß sie beide tatsächlich vorhanden sind, so kann man sie doch von da aus unmöglich als zwei sich endgültig begrenzende, in gleicher Weise in sich ruhende und befestigte Bereiche verstehen. Hier wird ihr Nebeneinander vielmehr sichtbar als die Bewegung und Handlung jenes «wunderlichen Krieges, da Tod und Leben rungen», von dem doch zu sagen ist: «Das Leben behielt den Sieg, es hat den Tod verschlungen.» Das Geschehen dieses wunderlichen Krieges ist die Rechtfertigung des geschöpflichen Seins.“[5]

Erkenntnisbemühung und Predigtgestus

Der Autor dieser Zeilen kann bestätigen, dass man sich der Suggestion dieser Zeilen – in denen am Ende Martin Luthers Choral „Christ lag in Todesbanden“ anklingt, im Moment des Hörens oder der Lektüre nur schwer entziehen kann und auch gar nicht entziehen möchte. Aber welche Relevanz außerhalb des im Gehorsam annehmenden Glaubens- und Gottvertrauens liegt in solchen Zwittern zwischen Erkenntnisbemühung und Predigtgestus?

Für Barthianer:innen ist diese Frage sicherlich rührend falsch gestellt und ein Signum theologischer Unmusikalität, doch auch Wüthrich geht in seinem luziden Vortrag durchaus kritisch darauf ein, indem er konzediert, Barths Schöpfungslehre sei anthropozentrisch und weiche dem Dialog mit den Naturwissenschaften aus. Und natürlich bleibe Barths rasante Dynamik der Aufhebung des Dualismus von Licht- und Schattenseite unkonkret.

Aber der Zürcher Barthspezialist betont auch – und stärker – die Relevanz der Barth’schen Sicht, die er gegenüber anderen Schöpfungstheologien des 20. Jahrhunderts (beispielsweise Moltmann, Tillich, Brunner) hervorhebt: Auf jeden Fall habe Barth versucht, „zwischen einem Schöpfungsoptimismus, wie ihn Leibniz vertreten hat auf der einen Seite, und einem Schöpfungspessimismus eines Markion und Schopenhauer auf der anderen Seite hindurchzusteuern“. Insofern biete Barths Schöpfungstheologie „– mit einigen Modifikationen (!) – durchaus das Potential, auch zwischen den aktuellen Optimismen und Pessimismen hindurchzunavigieren – seien sie nun theologischer oder säkularer Natur.“ Insofern, so Wüthrich abschließend, scheine es ihm „durchaus sinnvoll an der Provokation Barths festzuhalten und zu bekennen: „Schöpfung ist Wohltat!“

Morgenblick in die Kirche in Bettingen-St. Chrischona, Schweiz am 19. Juli 2023.
Foto: Reinhard Mawick

Morgenblick in die Kirche in Bettingen-St. Chrischona, Schweiz am 19. Juli 2023.

 

Ja, so kann man es sehen, zumal, wenn man sich in den Bekennermodus versetzt. Denn bei aller Kritik an Barths Schöpfungstheologie oder an seiner bekennenden und behauptenden und seiner selbstbewussten Art des Theologietreibens überhaupt, nützt ja bange Katastrophenangst in Hinsicht auf das Weltgeschehen auch wenig. Oder anders gesagt: „Wir machen unser Kreuz und Leid / nur größer durch die Traurigkeit“ wusste schon der deutsche Barockdichter Georg Neumark in seinem Choral „Wer nur den lieben Gott lässt walten“[6].

Dennoch gab es auf der Tagung durchaus deutlich kritischere Anfragen an die Theologie Karl Barths, zum Beispiel durch den Hallenser Professor für Systematische Theologie und Dogmatik, Dirk Evers, der in seinem Vortrag[7] zunächst auch auf pointierte Weise den § 42 der Kirchlichen Dogmatik auslegte und dann in der zweiten Hälfte seiner Ausführungen diese Haltung einnahm: „Wenn wir uns die entscheidenden Stellen bei Barth anschauen, dann ist dort immer von Erkenntnis und Urteil die Rede, kaum von den Gegenständen der Schöpfung selbst.“ Hier drohe laut Evers eine Art „Schöpfungsdoketismus“, also eine nur scheinbare Befassung mit der realen Schöpfung. Zwar behaupte Barth, dass es ihm „nicht um Deutung, sondern einen ,objektiven Sachverhalt‘[8] gehe, aber dieser Sachverhalt beziehe sich, so Evers, doch „eher auf die Form des kategorischen Urteils, denn auf einen irgendwie gegenständlichen oder ontologischen Sachverhalt der Wirklichkeit der Schöpfung.

Durchaus riskante Angelegenheit

Klarer kann man die Barth’schen Ausführungen nicht infrage stellen. Und es war Evers auch wichtig, gegenüber Karl Barths Konstruktionen von Bund und Erwählung in Bezug auf die Schöpfung festzuhalten, dass Gott die Schöpfung „zunächst einmal um ihrer selbst willen erschaffen“ habe. So könne man Schöpfung zwar „insgesamt durchaus richtig als Wohltat“ bestimmen, aber sie „in ihrem Eigensinn (..) nicht von Gottes Heilshandeln schlechthin abhängig“ machen. Vielmehr müsse man die Schöpfung „spielerischer und weniger zielorientiert“ verstehen als es Barth getan habe, eher als „qualifizierte Selbstrücknahme Gottes“. Dann aber sei Schöpfung nicht mehr – wie bei Barth – als „souveräner Machterweis oder gar als Emanation des Göttlichen“ zu verstehen, sondern werde zu einer „durchaus riskanten Angelegenheit mit üppiger Verschwendung“.

Diese Sichtweise bekräftigte Evers mit einem Zitat der französischen Philosophin Simone Weil:The act of Creation is not an act of power. It is an abdication. Through this act a kingdom was established other than the kingdom of God. The reality of this world is constituted by the mechanism of matter and the autonomy of rational creatures. It is a kingdom from which God has withdrawn.“[9] (auf Deutsch in etwa: „Der Akt der Schöpfung ist kein Akt der Macht. Er ist eine Abdankung. Durch diesen Akt wurde ein anderes Reich als das Reich Gottes errichtet. Die Wirklichkeit dieser Welt wird durch den Mechanismus der Materie und die Autonomie der vernunftbegabten Geschöpfe konstituiert. Es ist ein Reich, aus dem sich Gott zurückgezogen hat.“)

Den Überlegungen Evers ein stückweit zur Seite sprang auch die Mainzer habilitierte Theologin Raphaela J. Meyer zu Hörste-Bührer, die im dritten Vortrag[10] Barths Schöpfungsgedanken vor dem Hintergrund gegenwärtiger Umweltdiskurse mit der aktuellen Lage konfrontierte. Dies tat sie, indem sie zum einen aktuelle Berichte des IPPW[11] referierte und interessante Beobachtungen zur sogenannten „Normalkosmologie“ entfaltete. Ein Begriff, der die Gesamtheit der nichtwissenschaftlichen, menschlichen Gefühle und Empfindungen gegenüber der umgebenden Natur und Atmosphäre umfassen will und den sein Erfinder, der Erlanger Systematische Theologe Wolfgang Schoberth, bereits 2004 so charakterisierte: „Als ‚Normalkosmologie‘ bezeichne ich diejenige Vorstellung von der Beschaffenheit unserer Welt, wie sie kulturell dominiert und unser Handeln weithin bestimmt.“ Diese Normalkosmologie sei inhaltlich „wesentlich geformt durch Versatzstücke aus den Naturwissenschaften, wie sie etwa wichtiger Bestandteil des gegenwärtigen Bildungskanons sind und in den Medien bekräftigt werden.“

Allerdings hielt sich die Mainzer Theologin mit Kritik an Barth zurück und verzichtete auf praktisch-ethische Schlussfolgerungen, die einige der Zuhörenden, besonders unter den Studierenden, sicher erwartet hatten – doch sie verblieb ganz im Dogmatischen. Bemerkenswert war aber ihr Schwenk auf Barths Sicht von Albert Schweitzer und dessen Ethik, die Karl Barth drei Bände später in KD III/4 skizziert: Schweitzer, der ja von ganz anderen theologischen Voraussetzungen auf Schöpfung und Geschöpf ausgeht, wird von Barth dort ausführlich und durchaus kritisch behandelt. Aber es gibt bei Barth auch eindrückliche, leicht selbstkritische Sätze über Schweitzer, die Meyer zu Hörste-Bührer den Versammelten zu bedenken gab, zum einen diesen: „Wie rechtfertigt man sich eigentlich, wenn man es anders hält als Schweitzer es hier von einem haben will?“ (KD III/4, 397) und zum anderen jenen: „Man sehe nur zu, daß man sich ihm gegenüber (sc. Schweitzer, R.M.) durch eigene Gedankenlosigkeit und Herzenshärtigkeit trotz seiner Schwächen nicht doch ins Unrecht setze!“ (KD III/4, 404).

Nun, Ihr Musen genug …

Soweit aus dem theologischen Maschinenraum der 53. Karl Barth-Tagung. Man darf gespannt sein, die Vorträge und Präsentationen in Bälde und in Gänze in der Zeitschrift für Dialektische Theologie nachlesen zu können, hoffentlich dann auch den vierten Vortrag von Christopher Southgate, der den diesjährigen Reigen beschloss, indem er aus angelsächsischer Perspektive einen Blick auf die moderne Schöpfungstheologie warf und sie auf seine Weise mit Karl Barth ins Gespräch brachte. Und auch soll das Wichtigste der Karl-Barth-Tagung nicht verschwiegen werden: Anspruchsvollen Vorträgen mit anspruchsvollen aber auch anregenden Aussprachen stand mindestens ebenso viel Zeit in kleineren Arbeitsgruppen gegenüber. Acht an der Zahl, in denen Jung, Mittel und Alt, Barth-Kenner:innen, Barth-Fans und Barth-Kennenlernende, in anregender Arbeitsatmosphäre das in den Vorträgen Gehörte nachbereiteten und sich durch weitere Lektüren und Perspektiven bereichern ließen. Von anderen kollektiven Lustbarkeiten, wie der Verkostung von Barthweinen ganz zu schweigen …

Foto: Reinhard Mawick

Und dann noch dies: Der Autor dieser Zeilen, dem von Barth’schen Sound auch Tage später noch ein bisschen der Kopf schwirrt, wenn auch wohlig, ist sehr froh, dass er im Zusammenhang dieser Tagung in seiner erdenden Arbeitsgruppe (Leitthema „Wie sprechen wir in der kirchlichen Praxis von der Schöpfung“) einem Brief von Karl Barth an seine Großnichte Christine (wieder)begegnete, der – ob bewusst oder unbewusst – das Verständnis der Barth’schen Schöpfungslehre trefflich zusammenfasst. Die Großnichte hatte in der Schule eine Lehrerin erlebt, die anscheinend die Darwin’sche Evolutionslehre gegen den biblischen Schöpfungserzählung ausgespielt hatte, und sie verlangte nun vom Großonkel Klärung, was Sache sei. Und der damals 78-jährige Barth schrieb ihr unter anderem dies: „Hat euch im Seminar niemand darüber aufgeklärt, daß man die biblische Schöpfungsgeschichte und eine naturwissenschaftliche Theorie wie die Abstammungslehre so wenig miteinander vergleichen kann wie, sagen wir: eine Orgel mit einem Staubsauger! — daß also von «Einklang» ebenso wenig die Rede sein kann wie von Widerspruch?“[12]

Was sollen wir sagen? Verhält es sich so etwa  auch mit Barths Theologie? Liefert auch sie zwar herrliche Orgelklänge zur inspirierenden Seelenspeise, aber kann doch in Sachen Weltverantwortung nur vereinzelt und individuell Hilfsdienste leisten – wenn auch auf hohem (und unterhaltsamen!) Niveau? Aber was soll’s, wenn dem so sein sollte, dann teilt sie dieses Schicksal wohl mit jeder Theologie, die sich heute ehrlich macht.

(Die 54. Internationale Karl-Barth-Tagung findet vom 15. bis 18. Juli 2024 statt - voraussichtlich wieder im Tagungszentrum Chrischona/Schweiz. Weitere Informationen dazu in Bälde hier)

 

[1] Zitiert nach Karl-Barth-Gesamtausgabe: 4.Gespräche 1964-1966 (Hg. Eberhard Busch), 243; Zürich 1997.

[2] Vorspruch zu § 40 der KD III,1 am Beginn von „Neuntes Kapitel. Das Werk der Schöpfung“ aus „Die Kirchliche Dogmatik, Dritter Band: Die Lehre von der Schöpfung“, Zürich 4. Auflage 1970, 1.

[3] Titel des Vortrags von Matthias Wüthrich: «…auf seinen Tod und seine Auferstehung hin geschaffen…» Zu Karl Barths Verständnis der Güte der Schöpfung in KD III/1 §42 (gehalten am 17. Juli 2023 auf der 53. Internationalen Karl Barth-Tagung in Chrischona-Schweiz).

[4] AaO, 430.

[5] AaO, 441.

[6] Evangelisches Gesangbuch (EG) Lied 369.

[7] Titel des Vortrags von Dirk Evers: 'Er hat uns allen wohlgetan ...': Barths Skizze eines erwählungstheologischen Optimismus (gehalten am 18. Juli 2023 auf der 53. Internationalen Karl Barth-Tagung in Chrischona-Schweiz).

[8] aaO 381.

[9] Simone Weil, Are We Struggling for Justice?, Philosophical Investigations 10, H. 1 (1987), 1–10, 3.

[10] Titel des Vortrags von Raphaela Meyer zu Hörste-Bührer: „Bedroht? Bewahrt? Bejaht – Barths Rede von der Schöpfung vor dem Hintergrund gegenwärtiger Umweltdiskurse (gehalten am 18. Juli 2023 auf der 53. Internationalen Karl Barth-Tagung in Chrischona-Schweiz).

[11] Der Intergovernmental Panel on Climate Change – kurz IPCC – ist das zwischenstaatliche Gremium der Vereinten Nationen zur Bewertung der wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Klimawandel.

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