Alle im Reich Christi

Michael Pfenninger analysiert Karl Barths Theologie im Kontext der Säkularisierung
Michael Pfenninger
Foto: Désirée Good

Viele behaupten, Karl Barths Theologie sei etwas fürs Gestern. Keineswegs, meint der Zürcher Theologe Michael Pfenninger. Der 32-Jährige hat über Karl Barths Theologie im Kontext der Säkularisierung promoviert und viel Potenzial für unsere Gegenwart entdeckt.

In meinem Studium hatte ich mich zunächst für Geschichte als Hauptfach und Theologie nur als Nebenfach eingeschrieben. Schnell merkte ich jedoch, wie spannend dieses Nebenfach ist: Dort werden in einer Innensicht auf Kirche und Glaube Gegenwartsfragen verhandelt, wie es aus einer historischen Außenperspektive nicht möglich ist. Auch hat mich anfangs das Exotische gereizt, denn unter Gleichaltrigen gab es in meinem Umfeld kaum jemanden, der irgendetwas mit Theologie am Hut hatte. Aber so ist es eben heute: Theologie, Kirche und Glaube sind absolut freiwillig. Jeder gesellschaftliche Druck, zur Kirche zu gehen, sein Kind taufen zu lassen oder der Pfarrerin, dem Pfarrer mit besonderer Ehrfurcht zu begegnen, ist weg. Das gibt eine gewisse Ellbogenfreiheit, und auch deswegen fand ich Theologie so interessant.

Karl Barth hat mich im Studium schon früh fasziniert. Erst natürlich mit dem üblichen Ärger über seine zunächst etwas schwer zugängliche Sprache. Aber je länger ich mich mit ihm beschäftigte, umso mehr empfand ich seine Theologie als erfrischend unzeitgemäß. Barth ist jemand, der sich wenig Sorgen darüber macht, wie man theologisch aktuell wirkt. Er traut den biblischen und theologischen Texten und Gedanken auch heute noch etwas zu, aber eben ohne jede evangelikale Enge. Nach meiner Lesart ist er kein orthodoxer Theologe, dessen Lehre zu einem Rückzug aus der Gesellschaft und in sektenhaft enge Strukturen führen will. Vielmehr gelingt es Barth, jeder Ideologisierung des Christentums begründet zu widersprechen, ohne dabei politisch konservativ zu werden. Sehr erfrischend!

In meiner Dissertation Die Welt ist Gottes. Karl Barths Theologie der Welt im Kontext der Säkularisierung interpretiere ich Barths Werk mit Blick auf die Säkularisierung und die Säkularisierungsdebatten des 20. Jahrhunderts. Das ist eine relativ neue Perspektive, denn gemeinhin denkt man Barth und zeitdiagnostische Analysen, wie eben Säkularisierungstheorien, weit auseinander. Richtig ist, dass Barth, anders als viele liberale Theologen seiner Zeit, nicht von Gegenwartsanalysen her Theologie betrieben hat – aber trotzdem stand er immer im engen Dialog mit Gegenwartsentwicklungen. Ich untersuche in meiner Arbeit, wie Barth sich zu diesen Debatten geäußert hat und wie dieser Kontext sein Denken geprägt hat. Dabei zeigt sich, dass Barth im programmatischen Kern seiner Theologie immer mehr Abschied nahm vom Idealbild einer christlichen Gesellschaft und einer christlichen Welt – erst vorsichtig, aber dann immer dezidierter. So formulierte er etwa eine bissige Kritik am sogenannten christlichen Abendland.

Gegen ein solches Modell entwirft Karl Barth eine Lehre von der Kirche als wanderndem Gottesvolk und eine Ekklesiologie der Minderheit und der Bescheidenheit, ja, er schreibt der Kirche ausdrücklich eine Randexistenz in der Gesellschaft zu. Was dabei bemerkenswert ist: Barth denkt und schreibt all dies in den 1950er-Jahren, also in einer geschichtlichen Epoche, die in der Rückschau als goldenes Zeitalter der gesellschaftlichen Prägekraft der Kirche in unseren Breiten gilt. Damals wurde Barth aufgrund dieser Haltung von den Apologeten des christlichen Abendlandes übrigens vorgeworfen, er würde vor der Säkularisierung kapitulieren und vorschnell eine Minderheitensituation für Kirche und Christentum annehmen. Viele hofften stattdessen auf eine christliche Neuprägung Europas, auf eine Rechristianisierung der Kultur, und warfen Barths Theologie vor, dafür nicht hilfreich zu sein.

Ein weiterer wichtiger Punkt meiner Dissertation ist Barths Theologie der Welt. In der sogenannten Lichterlehre vertritt Barth gegen Ende seiner Kirchlichen Dogmatik die Ansicht, dass Christus durch die profanste Welt zur Kirche sprechen kann – zum Beispiel durch ein Kunstwerk oder durch ein politisches Ereignis. Barth rechnet also mit der Gegenwart und dem Wirken Christi auch in den säkularsten Kontexten. Diese umfassend universalistische Theologie Barths kann dabei helfen, alle Menschen als zu Gott gehörig zu rechnen und ihnen dann ihren vorgeblichen „Unglauben“ im Moment unseres seelsorgerlichen Handelns nicht vorzuwerfen, sondern auf die Treue Gottes zu allen Menschen zu vertrauen.

Hier mag man an den großen katholischen Theologen Karl Rahner denken und an seine Rede von den anonymen Christen, die ich in meiner Arbeit ebenfalls diskutiere. Im Gegensatz zu Barth aber läuft Rahners Vorstellung klar auf ein implizites Christentum nichtchristlicher Menschen hinaus. Dagegen verzichtet Karl Barth auf jede empirische Aufweisbarkeit. Seine Theologie „funktioniert“ auch dann noch, systemlogisch gesprochen, wenn Menschen wirklich Atheistinnen und Atheisten sind und bleiben.

Kritisch finde ich aus heutiger Sicht Barths Sprache. Durch sie dürften sich in unserer Gegenwart viele vereinnahmt fühlen. Zwar mag es bei uns Christinnen und Christen für ein entspannteres Verhältnis zur Säkularisierung sorgen, wenn wir mit Barth sagen, dass alle Menschen immer schon im Reich Christi sind, aber gleichzeitig sind solche Formulierungen heute schwer vermittelbar. Deshalb sollten wir diesen wichtigen Gedanken Barths nicht in der Sache, aber doch im Stil reformulieren – also immer deutlich sagen, dass wir die Welt so wahrnehmen, und dass sich diese Wahrnehmung aus unserem Glauben an Christus ergibt. 

Aufgezeichnet von Reinhard Mawick

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