Weder Engelswerk noch vom Teufel
Mikrofinanzkredite galten lange als effektives Mittel zur Bekämpfung von Armut im globalen Süden. Doch dann häuften sich negative Berichte über Missbrauch und überschuldete Haushalte. Sollte man also noch in Mikrokredite investieren? Der Journalist Thomas Klatt hat sich bei Experten der Entwicklungsfinanzierung umgehört.
Als der bengalische Wirtschaftswissenschaftler Muhammed Yunus Ende der 1970er-Jahre damit experimentierte, mittellosen Frauen Kleinstdarlehen anzubieten, konnte keiner ahnen, dass daraus eine weltweite Geldanlagemethode werden würde: Mikrofinanzkredite. Die Ärmsten der Armen sollten damit in Haus, Hof oder sogar ein kleines Geschäft investieren können, um so irgendwann zu bescheidenem Wohlstand zu gelangen. Yunus erhielt dafür 2006 sogar den Friedensnobelpreis. Doch in den vergangenen Jahren kam Kritik auf. Mikrofinanzverleiher würden Wucherzinsen verlangen und so die Kreditnehmer in noch mehr Armut treiben. Besonders krass sei das derzeit in Kambodscha der Fall. Kann man also weiterhin guten Gewissens sein Geld in Mikrofinanzfonds anlegen? Oder stimmt die Kritik nicht?
Frank Bliss vom Institut für Ethnologie an der Universität Hamburg untersucht mit Förderung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) Möglichkeiten und Grenzen der Entwicklungszusammenarbeit. Zuletzt war er dafür auch in Kambodscha. Wenn es um die Kreditvergabe gehe, verhielten sich die Banken dort ähnlich wie in Deutschland, sagt er: „Die Leute in Kambodscha haben es ähnlich schwer, an einen Kredit zu kommen, wenn sie keine Rücklagen haben oder keine anderen Wertgegenstände, die als Sicherheit eine Rolle spielen können.“
Aber es gibt doch einen Unterschied zu Deutschland. In Kambodscha gibt es mehr Kleinst-Landbesitzer. Der Wert des Landes habe sich dort in den vergangenen fünf Jahren vervielfacht, sagt Bliss. Selbst in einem Dorf, das mehrere Kilometer von der nächsten asphaltierten Straße entfernt liegt, seien 500 Quadratmeter Boden schon mehrere Tausend Dollar wert. Der Wert steigere sich noch, wenn auf dem kleinen Grundstück ein Haus stehe. Das reiche schon, um einen Kleinstkredit zu erhalten. In Kambodscha geht es meist um Mikrofinanzkredite von im Schnitt 5 000 Dollar. Verliehen werden sie in der Regel mit einem Zinssatz von 18 Prozent und Gebühren von bis zu 20 Prozent. Das hört sich viel an. Doch in Kambodscha seien anders als in Deutschland auch die Sparzinsen relativ hoch und lägen bei immerhin sechs bis 7,5 Prozent.
„Also wenn wir jetzt in Deutschland zwei Prozent Sparzinsen bekommen, die Banken hier aber ganz flott elf bis zwölf Prozent Zinsen für Überziehungskredite nehmen, dann ist die Situation in Kambodscha im Vergleich fast noch sozialer“, sagt Entwicklungshilfeexperte Bliss.
Kein Wunder also: Mikrofinanzkredite sind in Kambodscha beliebt. Rund zwei Drittel aller Haushalte haben dort solche Kleinst-Darlehen aufgenommen. Aber es gebe auch Schattenseiten, weiß Bliss: „Sie haben praktisch täglich Vertreter irgendeiner Mikrofinanzinstitution im Dorf.“ Die klopften dann auch an die Türen und fragten: „Braucht Ihr nicht auch einen Kredit?“
So würden bis zu 1 000 US-Dollar schnell auch an diejenigen vergeben, die gar keinen Kredit aufnehmen wollten, dann aber doch dazu überredet werden. Das hat Bliss in einer Befragung von 1 400 Haushalten in Kambodscha herausgefunden. Auch seien oft junge Erwachsene überschuldet, weil sie sich schnell, nur allzu schnell den Traum eines eigenen Mopeds erfüllen wollen. Formell werde zwar ein Business-Plan mit einer Cashflow-Analyse verlangt. Zudem gebe es ein kambodschanisches Kreditbüro, das alle Kreditvergaben sammelt, um die Kredithistorie nachverfolgen und so die aktuelle Kreditwürdigkeit einer Person beurteilen zu können. Doch das sei die Theorie. In der Praxis werde nicht jeder Kreditnehmer akribisch überprüft und die Business-Pläne würden teilweise nur oberflächlich durchgeblättert, wenn eben die Sicherheiten etwa eines Grundbesitzes da wären.
Auf der anderen Seite wüssten die Kreditgeber, dass das Ausfallrisiko gering sei, weil die rechtzeitige Rückzahlung in Kambodscha eine persönliche Ehrenpflicht sei. Es gebe Druck aus der Verwandtschaft und der Nachbarschaft, alles rechtzeitig wieder zurückzuzahlen. Und im Zweifel würden die Außendienstmitarbeiter auch mal den Dorfchef ansprechen und ihm mitteilen, wer von den Bewohnern seines Dorfes die Schulden nicht zurückgezahlt hat, weiß Bliss aus seinen Besuchen im Land.
Nun aber heißt es in Medienberichten, dass es gerade in Kambodscha immer öfter zu einer missbräuchlichen Vergabe von Mikrofinanzkrediten komme. Die Menschen würden ihre Kredite nicht mehr bedienen können, verlören Haus, Hab und Gut. Sie würden gar in den Selbstmord getrieben. Was ist dran an den Berichten?
Nachfrage bei Oikocredit, 1975 auf Initiative des Ökumenischen Rates der Kirchen mit dem Ziel der Entwicklungsförderung gegründet. Tes Pilapil ist als Regionaldirektorin auch für Kambodscha zuständig. Sie weist die negativen Presseberichte der letzten Zeit zurück: „Wir sind sehr wählerisch in der Auswahl unserer Partner. In Kambodscha gibt es 84 Finanzinstitute. Wir arbeiten nur mit neun von diesen zusammen. Sie müssen unseren strengen Kriterien entsprechen.“
Umkämpfter Markt
Kambodscha mit seinen gut 14 Millionen Einwohnern sei ein umkämpfter Markt. Daher müsse man bei ethisch korrekten Geldanlagen umso mehr darauf achten, dass die Kunden gut beraten werden und die Kalkulation plausibel sei.
„Wir haben eine Matrix, die auf 26 Fragen fußt. Wie erreichen die Kredite zum Beispiel arme Frauen? Welche Beschwerde- und Klagemöglichkeiten gibt es? Gehört die Bank nur einem oder ist sie eher genossenschaftlich organisiert? Geht es um Nachhaltigkeit und echte Hilfe oder nur um Gewinnmaximierung und aggressives Wachstum der Bank? Wir haben Null Toleranz bei Missbrauch von Kundenbeziehungen“, so Pilapil weiter.
Die negativen Berichterstattungen stimmen aber auch in der Oikocredit-Zentrale im niederländischen Amersfoort nachdenklich. Die Formel, jeder Mikrofinanzkredit sei automatisch ein guter Mikrofinanzkredit, gelte schon lange nicht mehr. „In den früheren Jahren waren die Medien voll von Berichten, dass Mikrofinanz wie ein Engel sei. Es war das Wunder, auf das die Welt gewartet hatte“, sagt Ging Ledesma, Direktorin für Strategie und Nachhaltigkeit bei Oikocredit. Leider seien sie aber weder vom Teufel noch Engelswerk. Sie seien einfach ein Werkzeug, das das Potenzial hat, gut oder schlecht zu sein. „Wir haben schon 2009 eine Untersuchung dazu veröffentlicht. Die Flitterwochen sind vorbei. Wir müssen jetzt vorsichtig sein mit neuen Stakeholdern“, sagt Ledesma.
Dieser Einschätzung kann auch Fondsmanagerin Edda Schröder folgen. Sie betreut unter anderem die Mikrofinanzfonds der katholischen Pax Bank, auch für Kambodscha: „Es gibt immer schwarze Schafe bei den Kreditberatern, auch bei den Kunden, die falsche Angaben machen, damit sie überhaupt ein Darlehen bekommen. Aber ich finde es schade, wenn ein Konzept pauschal abgewertet wird“, sagt sie. „Letztendlich ist das nichts anderes, als wir es hier in Deutschland schon vor 150 Jahren mit den genossenschaftlichen Banken hatten. Eine Finanz-Gemeinschaft im Mikrobereich, damit Gruppenkredite vergeben werden und die Menschen sich weiterentwickeln konnten.“
Geringe Überschuldungsquote
So sieht das auch Ethnologe Frank Bliss. Anders als manche Presseberichte vermuten lassen, gebe es in Kambodscha keinen Überschuldungs-Tsunami, geschweige denn Massen-Suizide. Gerade einmal 1,2 Prozent aller Kreditnehmer seien gezwungen, eigenes Land zu verkaufen. Fast alle anderen würden es schaffen, ihre Kredite zurückzuzahlen. Etwa, indem sie zur Not mehrere Monate im Ausland einer schweren Lohnarbeit nachgingen, um so wieder an genügend Cashflow zu gelangen.
Aber welche Alternative hätten arme Menschen zu den derzeitigen Mikrofinanzkrediten? „Was wir in Kambodscha mit bis zu 20 Prozent Zinsen als vermeintlich horrend ansehen, ist im Weltvergleich, auch im Vergleich mit privaten Geldverleihern, fast eine Nettigkeit gegenüber den Kunden“, sagt Bliss. Andere Verleiher würden meist beim doppelten Zinssatz starten und endeten bei bis zu 365 Prozent im Jahr, also ein Prozent pro Tag. Manche verlangten sogar die Verdopplung der Rückzahlung in einem Monat.
In Uganda etwa würden 100 Prozent Zinsen von den Endkreditnehmern verlangt werden. Das sei unseriös. In so einen Markt würde die Pax Bank nicht investieren, sagt auch Fondsmanagerin Edda Schröder. Zudem sei der Mikrofinanzmarkt heute regulierter und damit seriöser als noch in früheren Jahren. Deutsche Kunden, die in solche Fonds investieren wollten, hätten somit heute mehr Sicherheit, dass mit ihrem Investment kein Schindluder getrieben wird.
„In Kambodscha ist er reguliert, in Indien ist er reguliert“, sagt Schröder. Das bedeutet: Mikrofinanzinstitute müssten bestimmte Eigenkapitalquoten aufweisen und den Kundenschutz in den Vordergrund stellen, sagt Schröder.
Wichtig sei es zudem, im jeweiligen Land zu wissen, wem man vertrauen könne und wem nicht. So würden die Fonds der Pax Bank nur Darlehen an Finanzinstitute in den Entwicklungsländern vergeben, damit diese Kleinstkredite an Existenzgründer oder für Betriebsmittel oder für private Ereignisse wie Beerdigungen oder Krankheitsfälle auszahlen, also an Menschen, die arm sind, die normalerweise keinen Zugang zu Finanzdienstleistungen haben. Aber so, dass seriös gesichert ist, dass diese ihren Kredit auch wieder zurückzahlen können, ohne sich ruinös zu überschulden.
Entwicklungshilfe-Experte Frank Bliss liefert ein grundsätzliches Argument für Mikrofinanzkredite. Ohne diese würde es wesentlich mehr Hunger in der Welt geben, meint er. Denn viele Bauern müssten ihr Saatgut oder Düngemittel auf Pump kaufen, damit sie aussäen könnten. Wenn sie diese Mikrokredite nicht bekommen würden, wäre es für viele Bauern sehr schwierig, überhaupt landwirtschaftlich zu überleben.
Wichtig ist für ihn vor allem die Transparenz: „Wie hoch ist der Anteil von Frauen? Welche Einkommensgruppen und welche Gewerbe werden gefördert? Wo gibt es Rückzahlungsprobleme? Ein Fonds, der sagen kann, was die tatsächlichen Zielgruppen sind und alle Fragen beantwortet, ist ein toller Fonds.“ In solche Fonds könne man auch weiterhin ohne ethische Fragezeichen und Kopfzerbrechen investieren.
Unter dem Strich gilt also, dass nicht jeder Mikrofinanzfonds immer ein guter Mikrofinanzfonds ist. Aber, wer sein Geld mit gutem Gewissen anlegen will, um die Armut in der Welt zu bekämpfen, liegt mit Mikrofinanzinvestitionen weiterhin richtig, wenn sie seriös getätigt werden. Weltweit werden jedoch nur rund 100 Milliarden US-Dollar als Mikrofinanzkredite vergeben. In Deutschland liegt das Investment bei geschätzt gerade einmal zwei Milliarden. Auch Jahrzehnte nach ihrer Erfindung und Popularisierung durch Muhammed Yunus sind Kleinstkredite auf dem globalen Finanzmarkt immer noch nur ein Nischenprodukt zur Bekämpfung der Armut.
Thomas Klatt
Thomas Klatt ist Theologe und Journalist. Er lebt in Berlin.