Einladung zum Mitdenken

Gespräch mit dem Schriftsteller und Theaterdramaturgen John von Düffel über eine moderne Form der Askese, die Dissonanz zwischen Denken und Handeln und über Vorbilder
Diogenes von Sinope. Stahlstich, nach antikem Relief. Aus: L’Univers. Histoire et description des tous les peuples. Paris um 1835.
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Diogenes von Sinope. Stahlstich, nach antikem Relief. Aus: L’Univers. Histoire et description des tous les peuples. Paris um 1835.

zeitzeichen: Herr von Düffel, „Das Wenige und das Wesentliche“ heißt Ihr neues Buch. Ein Stundenbuch, wie man es sonst als Gebets- und Andachtsbuch aus der katholischen Liturgie kennt. Warum haben Sie diese Form gewählt?

JOHN VON DÜFFEL: Die Idee des Stundenbuchs kommt aus dem Wunsch nach einem Wegbegleiter. Ein Buch, das man durch die Stunden des Tages mitnehmen kann und aus dem man meist in kurzer, verdichteter Form ein paar Gedanken für jede Stunde mit auf den Weg bekommt, sozusagen als geistigen Proviant für die Reise.

Also eine alte Form für neue Gedanken?

JOHN VON DÜFFEL: Es ist vor allem ein persönliches Buch, entstanden aus dem Gefühl heraus, dass jeder abstrakte Gedanke in tausend Scheinargumentationen untergeht, und jede konkrete Geschichte mit tausend anderen Geschichten verschwimmt. Dieses Stundenbuch ist kein Essay, und es ist kein Roman. Wie kann man mit größtmöglicher Klarheit und Ehrlichkeit über sich und die wichtigen Themen wie Überkonsum, Natur­zerstörung, Klimawandel nachdenken? Es ist literarische Philosophie oder auch philosophische Literatur. Das Literarische daran ist, nicht abzusehen von dem Ort, wo man ist, nicht abzusehen von der Stunde, in der nachgedacht wird, und auch nicht von dem Menschen, der nachdenkt mit all seinen Fragen und Unsicherheiten. Dadurch wird ein Gedanke persönlich. Man kann ihn ablehnen, man kann ihn annehmen, man kann auch ganz anders darüber denken, aber man denkt hoffentlich darüber nach.

Warum brauchen wir heute ein Stundenbuch?

JOHN VON DÜFFEL: Was unserer Zeit heute gut ansteht, ist ein Nachdenken über Verzicht. Dieses Thema war zuerst da, dann hat sich die Form herauskristallisiert. Es fing an mit einem sehr eingehenden Gespräch mit meinen Studierenden an der Berliner Universität der Künste über digitale oder mediale Askese. Es ging dabei um das Zuviel: die Unmenge an Nachrichten, an medialer Ansprache durch E-Mails und die sozialen Medien wie Instagram und Facebook, die für die meisten immer mehr zur Belastung werden. Was sich zunächst wie ein großer Kommunikationsvorteil anfühlt, hat eben auch viele Nachteile. Wie findet man darin seinen Weg? Je länger wir darüber geredet haben, desto mehr wurde für die Studierenden Askese oder Verzicht ein positiver Begriff. Den meisten scheint er ja erst einmal das Gegenteil von Genuss zu sein.

Die klösterliche Atmosphäre, das Leben der Mönche klingt an, wenn Sie die Umgebung in Ligurien beschreiben. Sie arbeiten mit Wiederholungen im Text, der einen appellativen Charakter hat. Das alles wirkt sehr religiös.

JOHN VON DÜFFEL: Tatsächlich wollte ich einen säkularen Begriff von Askese entwickeln, der auch außerhalb eines religiösen Kontexts angenommen werden kann. Diese Lebenszugewandt­heit von Verzicht oder einer Askese, die sich nicht vom Leben abkehrt, sondern das Leben bejaht, ist mir wichtig. Aber Sie haben vollkommen recht, durch die Strenge der Form mutet der Text liturgisch an oder zumindest lyrisch. Das hat mit dem Maß an Verdichtung zu tun.

Das heißt Form und Inhalt sind kongruent?

JOHN VON DÜFFEL: Das Buch heißt ja „Das Wenige und das Wesentliche“, dadurch ergibt sich eine Strenge des Textes, der in freier Versform geschrieben ist. Auf jeder Zeile steht etwas, aber die Zeile ist nicht voll, das Wenige ist hoffentlich wesentlich. Ich war beim Schreiben wirklich sehr streng mit mir und habe alles ge­strichen, was mir „zu viel“ schien. Und ich hoffe, dass diese Strenge zur Klarheit führt. Und dass neben dem Inhalt auch durch die Form etwas Spirituelles miterzählt wird, etwas von der Immaterialität der Werte, die verhandelt werden. Aber es ist auf keinen Fall eine katholische Reprise.

Warum ist es Ihnen wichtig, gleich zu Anfang des Buches deutlich zu machen, dass der Asket der Zukunft nicht religiös sein wird?

JOHN VON DÜFFEL: Ich habe überhaupt nichts dagegen, wenn man durch den Glauben die Kraft findet, sein Leben aufzuräumen und sich auf das Wesentliche zu besinnen. Für viele Menschen ist der Glaube ein wesentlicher Aspekt ihres Lebens. Doch der Begriff der Askese kann weiter verstanden werden und ist nicht auf das Religiöse begrenzt, er kann das weltliche Leben einschließen. Deshalb habe ich bei meiner Neudefinition nicht nur auf die Askese der Mönche zurückgegriffen, sondern auch auf die antiken Vorbilder, die noch aus polytheistischen oder vorchristlichen Zeiten stammen.

Welche sind das?

JOHN VON DÜFFEL: Diogenes in der Tonne zum Beispiel, von dem der große Asketensatz stammt: „Ich gehe über den Markt und freue mich an den Dingen, die ich nicht brauche.“ Für den Begriff von Askese, den ich vermitteln möchte, ist das ein wichtiger Gedanke. Diese Askese ist ein Verzichten ohne Verzicht, das mit Genuss nicht auf dem Kriegsfuß steht. Eine weitere überlieferte Anekdote von Diogenes ist, wie Alexander der Große ihm gegenübertritt, während er in seiner Tonne liegt, und ihm jeden Wunsch erfüllen will. Und Diogenes sagt: „Geh mir aus der Sonne.“ Alexander der Große ist von dieser Unbestechlichkeit so beeindruckt, dass er selber gerne Diogenes wäre. Das ist ein großes Zeichen für die Kraft des asketischen Gedankens. Wenn wir unsere Bedürfnisse besser kennen und uns nicht nur von den Ansprüchen oder Erwartungen anderer leiten lassen, hilft uns das, die Person zu werden, die wir sind.

Was zeichnet den modernen Asketen aus?

JOHN VON DÜFFEL: Zur Vorstellung der Askese in der Vergangenheit gehören ja Willensstärke und Disziplin. Vor allem auch die Vorstellung, dass man seine Bedürfnisse, seine Triebe und den inneren Schweinehund unterdrücken muss. Der Hauptpunkt einer neu gedachten Askese ist nicht die Unterdrückung von Bedürfnissen, sondern das Gespür für sie. Das ist der entscheidende Unterschied.

Warum ist es wichtig, gerade die eigenen Bedürfnisse zu kennen?

JOHN VON DÜFFEL: Weil es stark macht zu wissen, was man alles nicht braucht. Natürlich muss man immer wieder neu herausfinden, was die eigenen Bedürfnisse sind. Oft wollen wir etwas, von dem wir erst später merken, dass wir es gar nicht brauchen. Man setzt sich etwas in den Kopf und macht sich auf den Weg,
um dann festzustellen, dass die Suche, auf der man sich befindet, eine ganz andere ist. Das soll nicht heißen, dass der Weg das Ziel ist. Der Weg ist die Möglichkeit, das Ziel zu korrigieren. Wenn man unterwegs auch sich selber im Blick hat, dann findet man irgendwann heraus, warum man unterwegs ist. Man kommt zu dem Grund des Weges und zu den Bedürfnissen, die einen bewegen.

Und trotzdem gibt es ein Ziel dieser Lebensweise?

JOHN VON DÜFFEL: Erstrebenswert, das haben die antiken Philosophen schon betont, ist das rechte Maß. Wir leben in einer Zeit der systemischen Maßlosigkeit. Mehr Wachstum, maximale Beschleunigung. Doch so zerstören wir diesen Planeten, unsere Lebensgrundlagen. Wir alle leben in einer großen Unstimmigkeit, die Psychologen nennen es „kognitive Dissonanz“. Gemeint ist der alte Widerspruch zwischen Denken und Handeln. Wir wissen eigentlich, dass unsere Lebensweise nicht richtig ist, aber wir machen trotzdem weiter so. Das ist nicht nur die Schuld des Individuums, es ist der eingeschlagene Weg, den alle gehen. Das Abweichen davon ist sehr anstrengend, mühsam, und es wird einem nur selten gedankt.

Ist denn die Dissonanz zwischen dem, was wir denken, und wie wir handeln, ein neues Phänomen?

JOHN VON DÜFFEL: In dem Ausmaß, in dem es uns heute bewusst ist, ja. Vor allem, weil es losgelöst ist von einem religiösen oder ideologischen Diskurs. Es handelt sich um eine wissenschaftlich erwiesene Tatsache, dass wir dabei sind, den Planeten zu zerstören. Alle haben die Informationen, jeder weiß es, bis auf wenige Leugner. Dass wir trotz allem nicht in der Lage sind, entsprechend zu handeln und gegenzusteuern, hat nur zu einem kleinen Teil mit dem Individuum zu tun. Aber ich glaube, wenn das Individuum nicht anfängt, passiert gar nichts.

Woher kommt dieses Übermaß an Konsum?

JOHN VON DÜFFEL: Ich mache das fest an der Figur des Sisyphos. Der Sisyphos des Konsums ist der Mensch, der dieses Produkt, diesen Urlaub oder dieses Haus oder was auch immer, haben muss. Und dafür tut er alles, so wie wir. Wir rollen den Stein wie Sisyphos den Berg hinauf, er rollt wieder runter, und dann haben wir das nächste Ziel vor Augen. Das ist eine Maßlosigkeit in Raten, bei der ich aber eigentlich nie auf die Idee komme, zu überprüfen, warum ich überhaupt unterwegs bin und welche Berge überhaupt Berge sind, die ich nehmen muss, und welcher Stein eigentlich mein Stein ist. Wir machen einfach immer weiter so. Dadurch kommt ein Zuviel zustande, ein Überkonsum, der nicht einmal Zufriedenheit bringt.

Aber genießen wir nicht auch, was wir haben?

JOHN VON DÜFFEL: Konsum ist zunächst einmal nur Verbrauch, für den man bezahlt. Er ist weder Genuss, noch macht er glücklich. Ich bezahle das Essen, aber ob ich es genieße, hängt davon ab, wie ich esse und ob ich es zu schätzen weiß. Es ist eine Frage des Bewusstseins, der geistigen Haltung – etwas, das man nicht kaufen kann. Genuss und Konsum sind also nicht dasselbe, auch wenn die Reklame immer so tut als ob. Schon allein, wenn wir aufhören würden, das zu konsumieren, was wir nicht genießen, wäre viel erreicht. Darüber hinaus definiert unser wirtschaftliches System Konsumieren als das Gegenteil von Produzieren und damit als passiv. Genuss ist aber eine Wechselwirkung, es hat mit
Schmecken und Geschmack zu tun oder im Fall von ästhetischem Genuss mit einer gedanklichen Aktivität. Das Erlebnis eines Bildes oder eines Buches entsteht ja erst durch meine Auseinandersetzung damit.

Gilt das auch für die Lektüre Ihres Buches?

JOHN VON DÜFFEL: Lesen ist eine Kulturtechnik und, ja, eine eigene Kunst. Ich hoffe natürlich, dass das Stundenbuch dazu einlädt. Es lenkt den Blick auf unsere Lesekunst, aber auch auf die Lebenskunst. Und dazu gehört für mich in Zeiten des Zuviels die Kunst des Weglassens. Was ich brauche und was nicht, ist eine individuelle Frage, dafür gibt es keine Patent­rezepte, nur diesen alten delphischen Imperativ „Erkenne dich selbst“, gepaart mit dem zweiten Imperativ „Nichts im Übermaß“ oder „Alles in Maßen“. Ich kann das richtige Maß nur finden, wenn ich einigermaßen weiß, wer ich bin, was für Bedürfnisse ich habe. Wenn ich das in Einklang mit meinem Handeln bringe, ist das aus meiner Sicht ein kunstvoller Akt.

Ist das ein Plädoyer für Bescheidenheit?

JOHN VON DÜFFEL: Der Bescheidene vollzieht eine soziale Handlung, indem er weniger nimmt als sein Gegenüber. Das ist eine Spielregel bürgerlicher Höflichkeit. Gleichzeitig würde der Bescheidene nicht unbedingt sagen, er habe genug. Die eigentliche, ideale Form wäre zu sagen, ich kann abgeben, weil es für mich genug ist. Weil ich genug habe, verzichte ich zugunsten anderer. In der Bescheidenheit aber steht das soziale Prestige der Zurücknahme im Vordergrund. Da kann manchmal ein hohles Gefühl bleiben. Ich weiß, wovon ich rede, weil ich auch zur Bescheidenheit erzogen worden bin. Im Theater sagt man oft: Dezenz ist Schwäche. Da sind die Lauten, die sich in den Vordergrund spielen, manchmal die Stärkeren. Darin ist das Theater vielen anderen Bühnen unserer Welt nicht unähnlich.

Der moderne Asket macht sich meist allein auf die Suche nach seinen Bedürfnissen. Welche Rolle spielt in diesem Konzept die Gemeinschaft?

JOHN VON DÜFFEL: Das ist eine wesentliche Frage. Wenn man seine Bedürfnisse erforscht, wird man fest­stellen, dass die meisten Bedürfnisse, die uns leiten, soziale Bedürfnisse sind. Wie zum Beispiel die Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Viele materielle Bedürfnisse sind verkappte im­materielle Bedürfnisse. Ihre Verwandlung in materielles Begehren ist einer der größten Tricks der Verkaufskunst. Insofern sind viele Bedürfnisse, denen wir folgen, nur in der Gemeinschaftlichkeit zu befriedigen. Ich glaube, dass das Individuum unhintergehbar ist, die/der Einzelne muss immer bei sich anfangen, aber wenn ich von Maß spreche, dann ist das Maß ja nicht nur eines, was ich mir selber gebe, es umfasst auch ein Verhältnis zur anderen Person oder zur Gemeinschaft.

Warum ist das rechte Maß verloren gegangen?

JOHN VON DÜFFEL: Eine der größten Maßlosigkeiten ist sicherlich das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Das Verhältnis war noch anders, als ich vor über dreißig Jahren anfing, Theater zu machen. Da war die Gesellschaft sehr mächtig, das Individuum klein. Heute ist es umgekehrt. Jeder gesellschaftliche Konsens scheint für das Individuum eine Zumutung zu sein. Ein soziales Gefüge, eine soziale Ordnung entsteht aber nur dadurch, dass jede Person sich ins richtige Maß zur anderen Person setzt. Das fühlt sich dann richtig an. Im ständigen Wettbewerb aber lernen wir – und das ist ein Systemfehler –, dass man entweder als Gewinner oder Verlierer aus einer Auseinander­setzung her­vorgeht. Warum sollten nicht zwei Personen mit dem Gefühl aus­einandergehen, bekommen zu haben, was sie brauchen, und mit­einander ein Maß gefunden zu haben? Dieses Finden eines Maßes ist nicht nur eine individuelle Erkenntnis­aufgabe, sondern auch eine soziale Aushandlung.

Kann der Einzelne in dieser Ideologie des Wachstums, des Systems von immer mehr überhaupt etwas bewirken? Er müsste sich ja regelrecht abkoppeln, auch von der Gemeinschaft.

JOHN VON DÜFFEL: Auf jeden Fall kann man den einzelnen Personen nicht die ganze Last der Veränderung auf die Schultern laden. Aber nichts zu tun, ist auch keine Lösung. Es stellt sich die Frage, wie man eine Form von Wirksamkeit erreicht. Zwar gibt es kein richtiges Leben im falschen. Aber es gibt im falschen eine richtige Richtung. Das Individuum lebt in einem System, für das es nichts kann und das ihm häufig falsch erscheint. Gleichzeitig sind wir nicht davon entbunden zu schauen, was zumindest die richtige Richtung ist. Wenn man für sich eine richtige Richtung findet, ist das ein seltener Moment des Einklangs oder auch des Glücks, der Übereinstimmung von Denken und Handeln.

Ist Ihr Asket der Zukunft eine Utopie?

JOHN VON DÜFFEL: Wenn jetzt alle anfangen, in eine andere Richtung zu gehen, würde sich etwas verschieben. Das ist sehr utopisch gedacht, so vermessen wäre ich nicht. Der Punkt, an dem ich zum Utopisten werde, ist vielmehr der Leidensdruck. Ich glaube, dass alles menschliche Leid nach Veränderung ruft und auch Ver­änderung bewirken kann. Wenn sich eine Lebensweise für viele Menschen falsch anfühlt, wird die Suche nach einem richtigeren Leben – und ich sage das vorsichtig im Komparativ – zum Bedürfnis. Es wird ein Bedürfnis, aus dem falschen herauszukommen. Das ist die Chance. Natürlich gibt es Abhängigkeiten, die zu uns gehören. Das sage ich auch als Familienvater mit Abhängigkeiten, die ich zutiefst bejahe, die zu meinem Leben dazugehören, unter denen ich manchmal ächze, aber die ich nicht missen möchte. Das zu sortieren, ist ein wichtiger Schritt.

Sind Sie auch ein Suchender oder schon ein Wissender?

JOHN VON DÜFFEL: Ich bin auf jeden Fall ein Suchender. Mein Buch beschreibt eine Suche und die Wege, die ich im Zuge dieser Suche gegangen bin. Das ist eine tiefe Überzeugung von mir, dass wir durch den Weg und durch die Richtung auch so etwas wie Sinn erleben. Sinn ist das Gefühl, dass man gerade in die richtige Richtung geht. Dass man sich auf der richtigen Spur befindet. Sinn ist für mich keine Formel, die man irgendwo findet oder ein großer Satz, sondern das Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein.

Haben Sie persönliche Vorbilder auf diesem Weg?

JOHN VON DÜFFEL: Ich besinne mich immer häufiger auf die Grundfesten meines Philosophiestudiums, das lange zurückliegt. Der Grund, warum ich damals nicht Philosoph, sondern Romancier, Theaterautor und -macher geworden bin, hat damit zu tun, dass ich die Wahrheitsprobe für einen Gedanken im Leben selbst sehe, in seiner Lebensnähe. Ich suche nach einem Denken, das für mich im Alltag eine Bedeutung hat und etwas verändert. Das ist der Ehrgeiz dieses Buches: lebensnahes, lebenswirksames Denken. Meine Vorbilder sind dabei Figuren wie Diogenes in der Tonne oder – als Dramatiker – auch Sophokles. Nur darf kein Vorbild darüber hinwegtäuschen, dass man seinen Weg letztlich alleine finden muss.

Sie wollen ein lebensnahes Denken beschreiben. Für Menschen, die mit einem Einkommen im Monat gerade so über die Runden kommen und in Armut leben, mag so eine Umdeutung des Überflusses hin zu dem Weniger fast zynisch wirken.

JOHN VON DÜFFEL: Askese meint die freie, freiwillige Entscheidung für das Wenige, keinen Zwang. Insofern ist Askese ein Privileg derer, die die Wahl haben, sich für das Mehr oder für das Weniger zu entscheiden. Askese ist das Privileg, von seinen Privilegien so wenig wie möglich Gebrauch zu machen. Kurzum, ich würde mich hüten, denen, die wenig haben, das Wenige zu predigen. Vielmehr geht es darum, bei denen, die viel haben und eine Entscheidung zur Nachhaltigkeit treffen können, das Bewusstsein dafür zu wecken.

Nun sprechen sie selber vom „Predigen“.

JOHN VON DÜFFEL: Ich würde es eher als eine Einladung zum Mitdenken beschreiben und nicht als eine Art Fremdbestimmung oder Vorschrift. An eine – wie beim Predigen – von oben nach unten gereichte Erkenntnis glaube ich nicht. Man kann erst mal nur eine Frage stellen und dann beschreiben, wie man selber auf dem Weg der Fragen weitergegangen ist. Vielleicht biegen andere Menschen ganz anders ab. Es ist, wenn man Predigen und Suchen als Begriffe miteinander vereinigen kann, eine Predigt der Suche.

Das Interview führte Kathrin Jütte am 25. April 2023 in Potsdam.

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Foto: Katja von Düffel

John von Düffel

John von Düffel (Jahrgang 1966) ist Autor, Dramaturg und Professor für Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin.

Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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