Aufarbeitung und Wissenschaft

Zu sexualpädagogischen Diskursen und sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche
Der Leiter der Odenwaldschule Gerold Becker beim Unterricht in den 1970er-Jahren.
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Der Leiter der Odenwaldschule Gerold Becker beim Unterricht in den 1970er-Jahren.

Könnten frühere sexualpädagogische Diskurse für die strukturelle Begünstigung sexualisierter Gewalt im Raum der evangelischen Kirche von Bedeutung gewesen sein? Das erforschen in einer Vorstudie seit Februar 2023 Erziehungswissenschaftlerinnen der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihren Forschungsansatz erläutern Jeannette Windheuser und Vivian Buchholz.

Über die Aufarbeitung des Nationalsozialismus schrieb Theodor W. Adorno 1959, dass sich der Aufarbeitungsgedanke mit der „Tendenz der unbewußten und gar nicht so unbewußten Abwehr von Schuld“ verbinde. Man wolle „von der Vergangenheit loskommen: mit Recht, weil unter ihrem Schatten gar nicht sich leben läßt, und weil des Schreckens kein Ende ist, wenn immer nur wieder Schuld und Gewalt mit Schuld und Gewalt bezahlt werden soll; mit Unrecht, weil die Vergangenheit, der man entrinnen möchte, noch höchst lebendig ist“. Verdächtig kommt es Adorno als Vertreter der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule in dieser Zeit vor, dass „Aufarbeitung der Vergangenheit“ als „Schlagwort“ gebraucht werde, das weniger auf eine ernsthafte Verarbeitung schließen lasse, sondern mit dem Ziel verbunden sei, endlich einen „Schlußstrich“ zu ziehen.

Diese Gedanken Adornos geben Anlass für einige grundlegende Ausgangspunkte unseres Forschungsvorhabens über die mögliche Bedeutung von sexualpädagogischen Diskursen für die strukturelle Begünstigung sexualisierter Gewalt im Raum der evangelischen Kirche. Dabei handelt es sich um die seit Februar 2023 am Arbeitsbereich Erziehungswissenschaft mit den Schwerpunkten Gender und Diversität der Humboldt-Universität zu Berlin angesiedelte sechsmonatige Vorstudie. In ihrem Rahmen soll die historische Quellenlage geprüft und eine Konzeption für die Untersuchung erarbeitet werden, verbunden mit den Aussagen von Zeitzeug:innen und Betroffenen.

Der von Adorno geäußerten Kritik an der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Gewalt liegen zwei Gedanken zugrunde, die auch andere Aufarbeitungsanliegen herausfordern: Erstens geht es ihm um die Gefahr, dass Aufarbeitung zu einem Verdeckungszusammenhang wird, wenn sie nicht an den Strukturen rührt, die das erst ermöglichen, was aufgearbeitet werden soll. Eine so entstellte Aufarbeitung trägt dann dazu bei, dass die Gewalt fortlebt.

Fortlebende Gewalt

Zweitens steht das im Zusammenhang mit Bestrebungen, die darauf zielen, dass es möglich sei, das Aufzuarbeitende durch die Aufarbeitung loswerden zu können, sich davon frei machen zu können. Diese Abspaltung hat selbst eine gewaltvolle Tendenz, insofern sie sich der Frage verschließt, was die Vergangenheit und das vermeintlich Andere der Gewalt mit dem Hier und Jetzt und dem Selbst zu tun haben. Eine solche Position verweigert sich der Verantwortungsübernahme und lässt die Gewaltbetroffenen mit der Verarbeitung erneut alleine.

Den beschriebenen Ambivalenzen hat sich der aktuelle Aufarbeitungsprozess zu sexualisierter Gewalt zu stellen, und das brisante Thema bringt auch für die damit befasste Forschung Herausforderungen mit sich: Institutionen, die Aufarbeitung zu leisten haben, sowie Öffentlichkeit und Betroffene bringen der Forschung im Kontext von Aufarbeitung sexualisierter Gewalt hohe Erwartungen entgegen. Vor diesem Hintergrund möchten wir als Forscherinnen im Folgenden der Frage nachgehen, in welchem Verhältnis Wissenschaft zu verschiedenen Ansprüchen der Aufarbeitung steht.

Neben allgemeinen Überlegungen zum Verhältnis von Wissenschaft und Aufarbeitung gehen wir exemplarisch auf unser eigenes Forschungsprojekt ein, die genannte Vorstudie über sexualisierte Gewalt im Raum der evangelischen Kirche. Zwei Überlegungen sind dafür zentral: die Differenz von Aufarbeitung und Wissenschaft und die wissenschaftliche Ergebnisoffenheit.

Erstens: Aufarbeitung und Wissenschaft sind nicht identisch.

Zu Recht zielt Aufarbeitung darauf, zu Bedingungen beizutragen, unter denen sexualisierte Gewalt nicht mehr ausgeübt werden kann. Dieses erstrebenswerte Ziel sollte jedoch nicht der Allmachtsphantasie aufsitzen, mit Schutz- und Präventionskonzepten ließe sich dieses mit so vielen unbewussten Prozessen verbundene Phänomen gänzlich in den Griff bekommen. Das mögliche Fortleben sexualisierter Gewalt und sie begünstigender Strukturen würde sich dann der Wahrnehmung entziehen. Selbstreflexiv müssen sich Aufarbeitungsprojekte fragen, wie sich Formen sexualisierter Gewalt in Folge ihrer Interventionen auf der Suche nach neuen oder bislang unentdeckten Gelegenheitsräumen wandeln. Die von Adorno problematisierte Tendenz, einen Schlussstrich ziehen zu wollen, gefährdet den Aufarbeitungsprozess zu sexualisierter Gewalt, wenn die Geschehnisse allein in der Vergangenheit gesucht werden oder die Verantwortung für sie an andere abgegeben wird.

Parteiliche Haltung

Dieser letzte Punkt berührt das Verhältnis von Wissenschaft und Aufarbeitung. In der öffentlichen Wahrnehmung und in den Adressierungen von Wissenschaft durch politische Akteure und durch die Institutionen, die sexualisierte Gewalt aufzuarbeiten haben, vermischen sich wiederholt Aufarbeitung und Erforschung sexualisierter Gewalt. Wird jedoch die Aufarbeitung selbst an die Wissenschaft delegiert, geht damit das Missverständnis einher, Wissenschaft habe die Institutionen zu entlasten oder mit der Finanzierung entsprechender Forschungsprojekte durch die Institutionen könne die Aufarbeitung abgeschlossen werden.

Jedoch ist zwischen der Wissenschaft – die den Sachverhalt zu klären hat – und der Aufarbeitung – die politischer, juristischer und ethischer Natur ist – zu unterscheiden. Die Wissenschaft kann über die Sache aufklären, sie kann auch Empfehlungen aussprechen, welche Konsequenzen gezogen werden könnten. Sie kann der verantwortlichen Institution die Aufarbeitung jedoch nicht abnehmen.

Sexualisierte Gewalt begünstigende Strukturen sind unter anderem davon gekennzeichnet, dass in ihnen weggeschaut und Verantwortung abgewehrt wird. Sie sind auch häufig durch Rollendiffusionen geprägt. Deshalb braucht Aufarbeitung für ihr Gelingen ein Bewusstsein aller Beteiligten für die Eigenständigkeit der Forschung gegenüber den aufarbeitenden Institutionen. Wer die Gewalt ermöglichenden Bedingungen nicht fortleben lassen möchte, muss Tendenzen entgegentreten, die geeignet sind, die Verantwortungsübernahme abzuspalten.

Zur Erforschung sexualisierter Gewalt gehört auch die Analyse der Konsequenzen für die Betroffenen. Aus einem wissenschaftlichen Bewusstsein über die möglichen psychischen, körperlichen und darauf basierend oft auch sozialen und ökonomischen Folgen sexualisierter Gewalt kann eine parteiliche Haltung resultieren, die zugleich mit dem Anspruch der Objektivität und mit wissenschaftlichen Standards vermittelt werden muss. Das bedeutet zunächst, die praktische Forschungsarbeit kritisch zu reflektieren, um die Strukturen der Gewalt nicht selbst fortzuführen. Betroffene sind nicht auf Forschungsobjekte zu reduzieren, sondern als Subjekte mit eigenen Erwartungen an die Aufarbeitung ernst zu nehmen. Im Rahmen biografisch-narrativer Zugänge kann die Erfahrung der Betroffenen als empirisches Material in die Forschung einfließen. Über das Wissen um begünstigende Strukturen sexualisierter Gewalt hinaus besitzen Betroffene häufig eine Expertise über Spezifika des institutionellen Kontexts, dessen Strukturen es zu erforschen gilt.

Dennoch gibt es gute Gründe für die Forschung, von der individuellen Erfahrung zu abstrahieren. Um die Forschungsfrage zu beantworten, muss in erster Linie der Sachverhalt geklärt werden. Dieses Anliegen wird gefährdet, wenn das Spannungsfeld zwischen subjektiver und objektiver Betrachtung zugunsten einer der beiden Seiten verschoben wird: Einerseits kann die Betrachtung der subjektiven Erfahrungen alleine die gesellschaftlichen oder institutionellen Strukturen aus dem Blick geraten lassen. Andererseits verzerrt der Fokus auf beispielsweise historische Dokumente alleine die empirische Basis, insofern die Dokumente durch die sexualisierte Gewalt ermöglichenden Denkweisen und Strukturen ihrer Entstehungszeit geprägt sind und keinen Platz für die Perspektive Betroffener lassen.

In der Konsequenz hat auch die Wissenschaft zwischen ihrer eigenen institutionellen Position und der inhaltlichen Forschung zu unterscheiden. Sie ist in der Begegnung mit Betroffenen verantwortlich für den Umgang mit ihnen und deren Einbezug in die Forschung. Sie hat auch ihre eigene Forschungspraxis daraufhin zu befragen, ob darin strukturelle Gewaltmomente wiederholt werden. Sie muss aber um der Aufklärung willen ihre Autonomie gegenüber allen individuellen und institutionellen Ansprüchen verteidigen. Insofern stehen Aufarbeitung und Wissenschaft in einem Verhältnis zueinander, sie sind aber nicht identisch.

Zweitens: Wissenschaft ist ergebnisoffen und verweigert sich unterkomplexen Antworten.

Angestoßen wurde unsere Vorstudie durch Hinweise auf einen Zusammenhang von Aktivitäten Helmut Kentlers und Gerold Beckers mit der sexualisierten Gewalt im Raum der evangelischen Kirche. Bereits 2014 hatten Ursula Enders und Dirk Bange und 2018 Marlene Kowalski den Forschungsbedarf hinsichtlich der Verstrickung evangelischer Institutionen mit diesen Personen und den von ihnen vertretenen (sexual-)pädagogischen Positionen benannt.

Der personelle Bezug von Kentler und Becker zur evangelischen Kirche war unterschiedlichster Art, beispielsweise als Gremienmitglieder, Tagungsleiter, Vortragende oder Betreuer in der Jugend- und Familienarbeit. Der Umfang der Quellenlage und die Befragungsmöglichkeiten von Zeitzeug:innen beziehungsweise Betroffenen dazu sind noch zu prüfen.

Den Blick weiten

Die große Bekanntheit der beiden Namen und die bereits existierende Diskussion um die Bedeutung von Sexualpädagogik und Reformpädagogik für sexualisierte Gewalt können jedoch zu verzerrenden Deutungen des Sachverhalts führen. Aufgabe unserer Recherchen und der Konzeption einer umfänglichen Studie ist es daher, den Blick zu weiten und die richtigen Fragen zu stellen, anstatt vorschnelle Antworten in alltagsweltlichen Vorurteilen zu suchen.

Im Verhältnis zur katholischen Kirche und dem dort existierenden Zölibat gibt es beispielsweise die Vorstellung, dass im evangelischen Raum ein liberaleres Sexualitätsverständnis vorherrsche und die Ehe von Geistlichen gewissermaßen präventiv wirke. Daher liegt auch die Verknüpfung zu solchen sexualpädagogischen Per­spektiven nahe, die für eine Befreiung der Sexualität eintraten. Neben diesen finden sich explizit aber auch konservative und evangelikale Positionen, welche durch ihre Opposition zur Liberalisierung und ihre Negierung von Sexualität andere Arten sexualisierter Gewalt aus dem Fokus nehmen oder implizit begünstigen.

Würden wir in der Forschung ausschließlich den zuerst genannten Vorannahmen folgen, liefen wir Gefahr, autoritäre Verhältnisse und Vorstellungen in der evangelischen Kirche und ihren Kontexten zu übersehen. Wir würden auch den Forschungsstand ignorieren, wonach auch in evangelischen pädagogischen Einrichtungen Sexualität negierende oder abwertende Praktiken vollzogen wurden. Daher sprechen wir in unserem Vorhaben von sexualpädagogischen Diskursen statt von der Sexualpädagogik. Sexualpädagogische Diskurse beziehen sich in unserer Lesart auf den Zusammenhang von Sexualität und Generationenverhältnis. Diese Perspektive weitet den Blick auf solche Phänomene, die nicht direkt als Sexualpädagogik zu erkennen sind, in denen aber das Sexualitäts- und Generationenverhältnis zueinander bestimmt werden. Je nach kontext- und zeitspezifischer Interpretation dieses Verhältnisses können unterschiedliche Folgen für den Schutz vor oder die Begünstigung von sexualisierter Gewalt daraus resultieren.

Solche Fragen zielen auf den Denk- und Möglichkeitsraum, der es Tätern erleichtern oder erschweren kann, ihr Handeln durchzusetzen, zu „legitimieren“ oder der Wahrnehmung zu entziehen. Auch an dieser Stelle sind Vereinseitigungen zu vermeiden: Die Einzelnen – seien sie Täter, Zuschauende oder Eingreifende – sind verantwortlich für ihr konkretes Handeln, jedoch sind es die Strukturen, die ihnen einen Rahmen dafür schaffen können oder sie bremsen könnten. Forschung hat diese Wechselseitigkeit zu erschließen, wenn sie eine Sachkenntnis hervorbringen will, die Grundlage der institutionellen Verantwortungsübernahme sein kann. Kippt die Interpretation auf die eine (personelle) oder andere (strukturelle) Seite allein, kann daraus erneut eine Verantwortungsabwehr folgen. Eine Abwehr von Verantwortung aber können sich weder die Wissenschaft noch die (kirchlichen) Institutionen oder die Gesellschaft insgesamt auf diesem schmerzhaften Feld leisten. 

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Vivian Buchholz

Vivian Buchholz ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Erziehungswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin.

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Jeannette Windheuser

Dr. Jeannette Windheuser ist Professorin für Erziehungswissenschaft an der Humboldt- Universität zu Berlin.


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