Verzicht mit Ziel

Denken an andere statt reiner Gewissenspolitur
Foto: Jens Schulze

Das Elternhaus wird ausgeräumt. Im Keller auf allen Regalen leere Weck­gläser bis zur Decke. Als Kind, so die Erinnerung, nahm das Füllen dieser dunklen Speisekammer den Sommer und Herbst ein. Der Wasserdampf aus dem Einkochtopf vernebelte den Küchenhimmel. Stunden später trugen wir die abgekühlten Gläser mit Erdbeeren, Bohnen, Pflaumen, Mixed Pickles in die Regale. Nachhaltig. Kein Plastik, keine Lieferketten, nur Glas, Gummi­ring und die Früchte aus dem Garten. Die Tage zuvor allerdings hieß es mit allen Familienmitgliedern pflücken, sortieren, säubern und waschen. Das war kein schmerzhafter Verzicht. Es war eine notwendige und sinnvolle Weise, mit den Gütern, die wir hatten, sorgfältig und sparsam umzugehen. Und es war eine Haltung, die für die vorherigen Generationen normal war.

Als meine Großmutter, die in meinem Geburtsjahr 1962 starb, im Dezember 1945 auf der Flucht an ihren Ehemann, der bereits in der britischen Besatzungszone war, einen Brief schreibt, notiert sie: „Hast Du schon einmal darüber nachgedacht, was wir alles verloren haben, dass jedes kleine Bild, jede Decke, jedes Buch, Kissen und alles, alles weg ist?“

Diese Erfahrungen aus einem Krieg, der durch Nazi-Deutschland unendliches Elend über die Welt brachte, war eine Erfahrung von Verlust. Wer heute in einer Überflusswelt verzichtet, übt sich anders ein. Es ist kein Verzichten, das aus Not geboren wird. Dennoch könnte das Ziel vergleichbar sein: eine tiefe Dankbarkeit für all das Gute, was einem im Leben geschenkt worden ist. Danken müsste man können und sich ehrlich freuen über das Einfache und Ursprüngliche. Es beginnt mit dem Leben selbst. Das Leben als Leben ist das erste und kostbarste Geschenk.

Menschen, die dem Horror der Gewalt entronnen sind, verstehen es völlig anders. Der Vater der Familie aus dem Nordirak, die nach ihrer Flucht in unserem Haus wohnt, zeigte mir vor einigen Wochen ein Foto von seinem Haus, welches er mit eigenen Händen in einem Dorf gebaut hatte. Trauer über verlorenen Besitz und Dank für das gerettete Leben vermischten sich. Für alles, was das Leben sichert, wird eine Dankbarkeit gezeigt, die einer mit Waren überfluteten Gesellschaft fremd ist. Das Zimmer, der Stuhl, das Bett. Das Essen, die Kleidung, die Wärme.

In der letzten Zeile des Gedichts „Beschwörung“ von Marie Luise Kaschnitz über die Flucht am Ende des II. Weltkriegs heißt es: „Nur das elende herrliche Leben war in uns allen.“ Kein Komma trennt elend und herrlich.Dank braucht kein Übermaß. Keine Sättigung bringt ihn hervor. Mein erster Dank liegt darunter, im Leben selbst und in der Freude daran. Vieles andere ist entbehrlich. Es rührt nicht an die Tiefe. Manchen jedoch könnte es zum Leben helfen, zu ihrem Dank und zur Freude.

Viel wäre gewonnen, wenn unser Verzicht nicht nur die persönliche Resilienz stärkt und Gewissenspolitur bleibt, sondern tatsächlich den Elenden dient! 

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Foto: Jens Schulze

Ralf Meister

Ralf Meister ist Landesbischof in Hannover, Leitender Bischof der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) und Herausgeber von zeitzeichen.


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