Strukturschwäche und Glaubensstärke

Die Kirchen im Osten schrumpfen, haben aber eine breite gesellschaftliche Verantwortung
Im einstigen Kernland des Protestantismus: die Elbwiesen in Wittenberg.
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Im einstigen Kernland des Protestantismus: die Elbwiesen in Wittenberg.

Den Kirchen in den neuen Bundesländern stellt sich drängender als im Westen die  Frage, wie sich Christentum unter den Vorzeichen einer zusehends dechristianisierten, pluralistischen Gesellschaft denken lässt. Dennoch bietet sich ihnen im öffentlichen Raum Ostdeutschlands viel Spielraum, meint in einem persönlich gehaltenen Beitrag der Theologe Roland Löffler, der die Sächsische Landeszentrale für politische Bildung in Dresden leitet.

Kurz vor Weihnachten 2022 verschickte das Theologisch-Pädagogische Institut Moritzburg – eine angesehene Bildungseinrichtung der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens – eine Grußkarte. In der Mitte des grafisch anspruchsvoll gestalteten Kartons fand sich eine aus der Vogelperspektive aufgenommene Tanne, darüber als Leitspruch: „Wir freuen uns auf den Weihnachtsbaum …“ Dem schloss sich eine Reihe von Erklärungen an, etwa „… weil sein Grün Ruhe schenkt“, „… weil er viele Lichter trägt“, „… weil er die Mitte des Lebens zeigt“ und schließlich: „… weil er Erde und Himmel verbindet.“ Bei aller Sympathie für Ästhetik und schwellarme Annäherung an eine religiös unmusikalische ostdeutsche Gesellschaft, fragt sich selbst der geneigte Leser, ob eine derart diätische Annäherung an das Christfest ein angemessener Beitrag des Protestantismus zur gesellschaftlichen Sinnstiftung ist.

Ohne Zweifel haben es die Landeskirchen und Diözesen in den neuen Bundesländern nicht leicht, mit theologischen, sozialen und ethischen Thesen Gehör zu finden. Ihnen stellt sich schärfer als im Westen die Frage, wie sich Christentum unter den Vorzeichen einer zusehends dechristianisierten, pluralistischen Gesellschaft denken lässt, wie Glaube gelebt und bekannt, wie sozialer Zusammenhalt gestaltet, Vertrauen in gesellschaftliche Großeinrichtungen wiederhergestellt werden kann. Dies alles zum Nutzen einer oftmals kritisch beäugten Demokratie. Die Kirchen sind mit dieser Frage nicht allein: Parteien, Gewerkschaften, Verbände und Medien werden in Ostdeutschland misstrauisch beobachtet.

Zugleich übernehmen die Kirchen breite gesellschaftliche Verantwortung, gehören zu den wenigen Großorganisationen mit flächendeckenden Strukturen: Das gilt für die Gemeindearbeit, diakonische Einrichtungen, Stiftungen, Schulen, Ehrenamtsarbeit und Akademien sowie für kulturell-musikalische Angebote. Auf all diesen Feldern unterscheiden sich die ostdeutschen Kirchen wenig von ihren westdeutschen Pendants. Allein: Der Instrumentenkasten fußt aufgrund einer deutlich geringeren Zahl an Gläubigen auf schwächeren Strukturen und Ressourcen.

Das war nicht immer so. Historisch besitzt der östliche Teil Deutschlands tiefe religiöse Wurzeln: Man denke an die mittelalterlichen Dome in Magdeburg oder Stralsund, an die Wittenberger Reformation, an Halle und Herrnhut als Impulsgeber des Pietismus und der Missionsbewegung, an Johann Sebastian Bachs Leipzig und nicht zuletzt an die katalytische Rolle der Kirchen für die DDR-Bürgerbewegung und die Friedliche Revolution 1989/90. Und doch: Die Lasten der von der SED-Regierung zwangsverordneten Säkularisierung tragen die Kirchen bis heute. Das schlägt sich in nackten Zahlen nieder: In Gesamtdeutschland gehören nach den Statistiken von 2022 rund 22 Prozent der Bevölkerung der katholischen Kirche und 19 Prozent dem Protestantismus an. Hinzu treten etwa zwei Millionen orthodoxe Christen sowie fünf Millionen Muslime sowie Angehörige weiterer Religionsgemeinschaften. Rund 40 Prozent der Deutschen sind konfessionslos, die Mehrheit im Osten und in den Stadtstaaten.

In ihren Gründungsjahren zählte die DDR 92 Prozent Christen, mehrheitlich Protestanten. Die Kirchen waren jedoch für das SED-Regime eine feindliche, zu bekämpfende Größe. Mit der Einführung der Jugendweihe 1955 entstand ein gesellschaftlicher Druck zugunsten eines Bekenntnisses zum dialektischen Materialismus, das entscheidende Bedeutung für den Bildungsweg der Jugendlichen haben sollte. Schon 1959 tauschten die evangelische Konfirmation und die Jugendweihe ihre gesellschaftlichen Rollen. Hatten sich bis dato weit über 80 Prozent der jungen Menschen konfirmieren lassen, waren es 1959 nur noch etwas mehr als 40 Prozent. Die Konfirmation wurde dagegen zum widerständigen Symbol.

Empirische Präsenz

In den folgenden Jahrzehnten nahmen die Zahlen der Konfirmation – ebenso der Taufen und Kirchenmitgliedschaft – ab: 1989/1990 gehörten beispielsweise in Sachsen noch 1,5 Millionen Menschen den Kirchen an, 2,8 Millionen weniger als 1949. 2022 binden die Großkirchen knapp 800 000 Menschen bei rund vier Millionen Einwohnern im Freistaat. Es lässt sich trefflich streiten, wie wichtig Kopfzahlen für die gesellschaftliche Rolle einer Organisation sind. Fakt ist, wie man im Osten gerne sagt, dass die empirische Präsenz von Christinnen und Christen durchaus Folgen für das Vertrauen in die Kirchen als gesellschaftliche Institutionen hat. Die Zahlen des Sachsen-Monitors 2021/2022, ein regelmäßiges Befragungsinstrument der Staatsregierung, sind hier ernüchternd: Nur 24 Prozent der Befragten zeigten ein großes oder sehr großes Vertrauen in die Kirchen, 62 Prozent weniger bis kein Vertrauen. Damit lagen die Kirchen etwa auf dem Niveau mit den Medien (26 Prozent Vertrauen) und den Parteien (22 Prozent), aber weit hinter der Polizei (71 Prozent), den Wissenschaften (70 Prozent), den Arbeitgebern (55 Prozent) und Gewerkschaften (50 Prozent). Der Thüringen- und der Sachsen-Anhalt-Monitor bieten ähnliche Werte des Institutionenvertrauens. Allerdings fehlen in diesen Befragungen die Kirchen vollends – ein beklagenswerter Mangel.

Organisatorisch hat der Schrumpfungsprozess die kirchlichen Strukturen bereits bedeutsam verändert. Außer Anhalt und Sachsen haben sich alle evangelischen Landeskirchen zu größeren Verbünden zusammengeschlossen; Gemeinden werden fusioniert, Sonderpfarrämter gestrichen. Aktuell gibt es noch fünf Landeskirchen: Anhalt, die Mitteldeutsche Landeskirche, Sachsen, Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, die Nordkirche. Kurhessen-Waldeck ist mit dem Kirchenkreis Schmalkalden in Thüringen vertreten. Im Falle der Nordkirche entstand eine Landeskirche, die west- und ostdeutsche Landesteile verband. Diesen Schritt hat es in anderen Regionen Deutschlands bisher nicht gegeben – weder im Bereich des Protestantismus noch der Bundesländer. Der Osten ist auf diesem Gebiet zweifelsfrei ein Trendsetter für Entwicklungen.

Unter den rund 40 konfessionellen Hochschuleinrichtungen in Deutschland liegt nur eine Handvoll jenseits der Elbe: Evangelische Hochschulen oder Kirchenmusikhochschulen gibt es in Halle, Dresden, Berlin, eine Katholische Hochschule für Sozialwesen in Berlin, zudem zwei freikirchliche Hochschulen im brandenburgischen Elstal (Baptisten) und im sachsen-anhaltinischen Friedensau (Sieben-Tags-Adventisten). Neben dem antikirchlichen DDR-Erbe sind die Kirchen im Osten mittlerweile von einem dramatischen demografischen Wandel gekennzeichnet. Grund dafür ist die Abwanderung junger Frauen in den 1990er-Jahren. Die Rückwanderung der vergangenen zehn Jahre und die wachsende Geburtenrate können diesen Trend nicht umdrehen. Unter den 30 demografisch ältesten Landkreisen Deutschlands liegen 29 im Osten der Republik. Die demografischen Veränderungen setzen auch die Kirchen unter erheblichen Druck.

Dennoch gibt es im Osten auch erfolgreiche Entwicklungen zu verzeichnen. Die alternde Gesellschaft braucht soziale Dienstleistungen. Deshalb werden die Angebote von Diakonie, Caritas, von Johanniter- und katholischen Orden stark nachgefragt. Ein Träger wie der Pommersche Diakonieverein in Greifswald gehört zu den größten Arbeitgebern in Vorpommern – und ist dennoch außerhalb dieser Region kaum bekannt. Im gesamten Osten haben die Regierungen bereits vor Jahren Demografie-Konzepte entwickelt, die etwa für den Ausbau von Alten- und Pflegeheimen sorgten. Deshalb ist die Pflegeheimdichte pro Kopf in Sachsen höher als in Bayern. Auf diesem Markt reüssieren auch kirchliche Anbieter.

Auf der anderen Seite der Generationenleiter sprechen die Kirchen im Bereich des gesamtdeutsch wachsenden privaten Schulwesens und der Kindertagesstätten die jüngeren Generationen an. Die im Osten geringere staatliche Refinanzierung und das Schulgeld halten Eltern nicht davon ab, ihre Kinder dort anzumelden. Das führt zu einer Blüte auch der christlich geprägten Schulen. In Sachsen etwa verdoppelte sich die Zahl der Schulen in freier Trägerschaft binnen zwanzig Jahren auf 412 im Schuljahr 2021/2022 – bei insgesamt 1803 Schulen. Blickt man auf die Zeit seit 1990/91 zurück, hat sich die Zahl sogar verzehnfacht. Die Evangelische Schulstiftung Sachsen vertritt 63 Schulen. Hinzu treten freie christliche Schulvereine. Das Bistum Dresden-Meißen hat vier katholische Schulen gegründet, denen sich sechs weitere Schulen in Trägerschaft von Orden oder der Caritas zur Seite stellen. Die evangelischen Schulstiftungen in Mitteldeutschland betreuen 32 Schulen und kooperieren mit weiteren zwölf protestantischen Bildungseinrichtungen; 24 Schulen unterhält das Erzbistum Berlin. Kirchliche Schulen werden für ihre individuelle Betreuung und als Vorreiter der Inklusion geschätzt.

Blickt man auf die intensiv diskutierte Frage der westdeutschen Führungskräfte in ostdeutschen Spitzenpositionen, so finden sich unter den sechs katholischen Bischöfen mit Wolfgang Ipolt (Görlitz) und Gerhard Feige (Magdeburg) zwei Ostdeutsche. Im Protestantismus sind der sächsische Bischof Tobias Bilz und der mitteldeutsche Landesbischof Friedrich Kramer Landeskinder, während die anderen leitenden Geistlichen aus Westdeutschland kommen. In Westdeutschland gibt es in keiner der beiden Großkirchen einen oder eine Ostdeutsche in einer bischöflichen Funktion. Damit unterscheiden sich die Kirchen nicht von den Trends in Politik, Verwaltung, Universitäten. So wie die Konzernzentralen der DAX-Unternehmen ausschließlich im Westen sitzen und damit dort die wegweisenden Strategien entwickelt werden, gibt es auch kirchlicherseits keinen Hauptsitz einer bedeutenden Organisation im Osten. Caritas, Misereor, Renovabis, die Deutsche Bischofskonferenz haben ihre Verbandssitze im Westen. Der Bundesverband der Diakonie samt Diakonie-Katastrophenhilfe und „Brot für die Welt“ residieren immerhin in Berlin-Mitte, wenn man das als Ostdeutschland verstehen will, das EKD-Kirchenamt in Hannover. Auch alle kirchlichen Banken haben ihren Sitz in Westdeutschland. Das hat Auswirkungen auf die Bedeutung des Ostens als Nicht-Ort von Entscheidungen, aber auch für die Karrierewege talentierter, ehrgeiziger junger Menschen. Sie gehen weiterhin gen Westen.

Betrachtet man die kirchlichen Akademien als Plattform des Gesprächs mit der Gesellschaft und als Think-Tanks für neue Entwicklungen, so sind die Kirchen hier klein, aber fein und flächendeckend aufgestellt: Katholische und evangelische Akademie gibt es in Sachsen, in Neudietendorf, in Wittenberg, Berlin, Halle und Erfurt. Auf der Führungsebene finden sich vier Ostdeutsche. Auch im Bereich der Akademien findet sich in den alten Bundesländern keine Leitungspersönlichkeit mit ostdeutscher Biografie. In den vergangenen 30 Jahren waren die Akademien – als einer der wenigen sichtbaren und langfristig finanzierten Orte der politischen Bildung und der Debattenkultur in Ostdeutschland – durchaus Sprungbretter für größere Karrieren. Genannt seien etwa die Namen Friedrich Schorlemmer, Stephan Dorgerloh, Friedrich Kramer und Ulrike Poppe. Aber die Zeit der großen alten, widerständigen Männer und Frauen der späten DDR geht – etwa mit dem Bürgerrechtler Stephan Bickhardt in Dresden – langsam zu Ende. Eine neue Generation wächst heran, die auf ihre Weise versuchen muss, gesellschaftliche Themen und die Akademien als wichtige Orte von politischer Meinungs- und Entscheidungsfindung in den neuen Ländern zu festigen. Der Dresdner Katholik Thomas Arnold steht für diesen Generationswechsel.

Selten debattenprägende Impulse

Auffällig ist auch: Von den Bischöfen beider Großkirchen waren in den vergangenen Jahren eher selten debattenprägende Impulse zu vernehmen. Das mag an den zahlreichen Strukturreformen liegen, an innerkirchlichen Konflikten, an persönlichen Präferenzen, an einer polarisierenden Medienlandschaft sowie an mitunter sehr kleinen Pressestäben. Vielleicht dringen sie auch mit ihren abgewogenen Stellungnahmen nicht durch. Aktuell dürfte der Friedensbeauftragte der EKD und mitteldeutsche Landesbischof Kramer die größte mediale Breitenwirkung erzielen, da er sich im Ukraine-Krieg sehr schnell und deutlich gegen Waffenlieferungen ausgesprochen hat. Mit dieser Haltung mag Kramer die gesamtdeutsche Öffentlichkeit irritieren. Im Osten steht er für die Mehrheitsmeinung. Der ARD-Deutschland-Trend vom Januar 2023 zeigte, dass rund 60 Prozent der Bevölkerung zwischen Schwerin und Görlitz keine schweren Waffen an die Ukraine liefern würden. Gegenüber der AfD gehen beide Großkirchen deutlich auf Distanz. Auf Gemeindeebene sehen die Debatten anders aus. Gerade in konservativen Kreisen und Regionen sympathisieren auch Christinnen und Christen mit den Rechtspopulisten, werden Migration oder die Segnung homosexueller Paare kritisch betrachtet.

Die öffentliche Debatte ist trotzdem ein Spielfeld, das die Kirchen gegenwärtig etwas verschenken. Viele Menschen suchen in der Post-Transformationsgesellschaft nach Orientierung. Menschen, die für eine klare Analyse oder deutliche Thesen stehen oder Lager verbinden sind im Osten eine ebenso rare Spezies wie öffentliche Intellektuelle aus Wissenschaft, Presse und Think-Tanks. Auch wortmächtige Stimmen aus Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden sind Mangelware. Impulse jenseits der Politik wären dringend notwendig, um die manchmal schwerfälligen öffentlichen Debatten zu befruchten. Sonst gewinnen linke und rechte Gruppen mit starken Zuspitzungen schnell ein mediales Podium.

Trotz bleibender Schrumpfung böte sich den Kirchen im öffentlichen Raum also viel Spielraum, um soziale und ethische Grundfragen zu beleuchten, auf die bleibende Bedeutung des Glaubens auch in einem säkularen Umfeld zu verweisen. Protestantismus und Katholizismus haben nämlich im Osten mehr zu bieten als die Erinnerungen an den Weihnachtsbaum.

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