Gegen die Decken aus Panzerglas
Einerseits geht es östlich der Elbe klar bergauf: Große neue Firmen wie Tesla siedeln sich an, die Arbeitslosigkeit ist gesunken. Andererseits haben die DDR und die Transformationszeit der 1990er-Jahre tiefe Spuren hinterlassen. Vom hemdsärmeligen, kreativen und engagierten Osten schwärmt der SPD-Politiker und Staatsminister Carsten Schneider, der seit 2021 Beauftragter der Bundesregierung für Ostdeutschland ist.
Auch fast 33 Jahre nach der Deutschen Einheit gibt es noch immer tiefgreifende Unterschiede zwischen Ost und West. Nach der Friedlichen Revolution im Herbst 1989 veränderte sich das Leben für die Ostdeutschen vollständig und allumfassend – was in seinem Ausmaß und seiner Bedeutung im Westen kaum wahrgenommen wurde. Für zu viele Westdeutsche ist der Osten ein unbekannter Raum geblieben, der vor allem mit Klischees und Stereotypen besetzt ist: Coronaleugner, Putinversteher, seltsame Dialekte. Dazu passt, dass 22 Prozent aller Westdeutschen noch nie in Ostdeutschland waren, 11 Prozent erst einmal. Auch das fehlende Interesse sorgt dafür, dass die Vorurteile gegenüber den nicht mehr ganz so neuen Bundesländern und den Ostdeutschen noch immer existieren.
In Wirklichkeit ist Ostdeutschland vielschichtig und heterogen. Einerseits ist der Osten im Aufwind: Neue Firmen wie Tesla und CATL siedeln sich an, und bereits etablierte Unternehmen expandieren. Die Arbeitslosigkeit ist gesunken. Und vielerorts kann die Infrastruktur mittlerweile mit anderen Wachstumsregionen mithalten, auch dank Milliardeninvestitionen des Bundes. Andererseits haben die DDR und die Transformationszeit der 1990er-Jahre tiefe Spuren hinterlassen, die (Ost-)Deutschland auch heute noch vor große Herausforderungen stellen: Beispielsweise treffen die stark steigenden Preise besonders viele Haushalte und Unternehmen in Ostdeutschland. Im Osten sind die Einkommen noch immer deutlich niedriger als in Westdeutschland. Ostdeutsche verdienen durchschnittlich rund 619 Euro weniger pro Monat als ihre westdeutschen Kolleginnen und Kollegen. In einigen Branchen sind es sogar bis zu 1000 Euro. Die Bürgerinnen und Bürger verfügen über weniger Rücklagen und kaum Vermögen. Zudem sind viele ostdeutsche Regionen nach wie vor strukturschwach und leiden unter einer ungünstigen demografischen Entwicklung.
Diese Ungerechtigkeiten sind ein zentraler Grund, warum viele Ostdeutsche mit der existierenden Demokratie in Deutschland unzufrieden sind und weniger Vertrauen in die staatlichen Institutionen haben als Westdeutsche. Die soziale Frage gehört hier ins Zentrum der Debatten um das Verhältnis zwischen Ost und West. Daher ist es nur folgerichtig, dass die Bundesregierung die sozialen, wirtschaftlichen, demografischen und gesellschaftspolitischen Unterschiede zur „Chefsache“ gemacht und das Amt des Ostbeauftragten im Bundeskanzleramt angesiedelt hat.
Ein wichtiges Anliegen in dieser Legislaturperiode ist es, die Transformation zu gestalten, Ostdeutschland wirtschaftlich weiter zu stärken und Innovationen zu fördern. Im Koalitionsvertrag heißt es: „Insbesondere die Erfahrungen der Ostdeutschen wollen wir für die anstehenden Transformationsprozesse in ganz Deutschland nutzen.“ Das ist genau der richtige Weg. Der Osten und die Ostdeutschen können auf dem Weg in die klimaneutrale Wirtschaft Vorreiter für ganz Deutschland werden. Ostdeutschland ist inzwischen in vieler Hinsicht eine der attraktivsten Wirtschaftsregionen Europas. Die Ansiedlungserfolge der jüngeren Vergangenheit, wie zum Beispiel Infineon in Dresden, belegen es. Welche Erfolgsfaktoren sprechen für den Osten? Die Region profitiert von den vielen verfügbaren Flächen, auf denen Fabriken gebaut werden können, und von einer alten Industrie-Tradition. Aus vielen Gesprächen weiß ich, dass bei den Standortentscheidungen der Unternehmen auch die hochmotivierte und technologiefreundliche Bevölkerung eine wichtige Rolle spielt, ebenso wie der unbedingte Wille der ostdeutschen Politik, investitionswillige Firmen pragmatisch zu unterstützen. Die ostdeutsche Wirtschaft steht aber auch vor spezifischen Herausforderungen. Denn: Die multiplen Krisen der Gegenwart – etwa die Energie- und Gaskrise, die Inflation und der Mangel an Arbeits- und Fachkräften – treffen diesen Teil des Landes besonders.
Vorreiter in Schlüsseltechnologien
Dies erfordert maßgeschneiderte Antworten. Innovation: Durch Ansiedlungen großer Unternehmen im Automobilbereich und Zukunftsinvestitionen in der Chip-Herstellung wird Ostdeutschland immer mehr zum Vorreiter in Schlüsseltechnologien. Ansiedlungen im Bereich der Forschung geben neue Zukunftsperspektiven. Ich freue mich über die jüngste Entscheidung des Bundes, zwei neue Großforschungseinrichtungen im Osten anzusiedeln: das Zentrum für die Transformation der Chemie in Delitzsch und das Zentrum für Astrophysik in Görlitz. Damit investieren wir in diesen beiden Regionen 1,2 Milliarden Euro.
Arbeits- und Fachkräfte: In keiner anderen Region werden in den kommenden Jahren mehr Beschäftigte in den Ruhestand gehen als in Ostdeutschland. Wissenschaftliche Prognosen besagen, dass deutschlandweit in den nächsten drei Jahren rund 200 000 Fachkräfte den Arbeitsmarkt verlassen werden. Dies wird insbesondere in den ländlichen Regionen in Ostdeutschland spürbar werden. Es fehlen vor allem Kindergärtner, Lehrerinnen, IT-Expertinnen, Pflegepersonal, Servicekräfte für das Hotel- und Gaststättengewerbe, aber auch Expertinnen und Experten in technischen Berufen wie der Energie- und Klimatechnik und im Sanitärbereich. Die Bundesregierung verfolgt eine mehrschichtige Lösungsstrategie: mehr Aus- und Weiterbildung, die Aktivierung der so genannten stillen Reserve (unter anderem erwerbslose Menschen und Frauen) und bessere Voraussetzungen für Zuwanderung.
Energiewende: Ostdeutschland ist nicht nur eine traditionelle Energieregion, sondern auch Vorreiter bei den erneuerbaren Energien und kann künftig bei der Versorgung des Landes mit grüner Energie und Zukunftstechnologien eine zentrale Rolle spielen. Die Region bietet hervorragende Rahmenbedingungen und Unternehmen in den Bereichen Energieerzeugung und Energieinfrastruktur. Die Beendigung der Kohleverstromung wird einen wichtigen Beitrag leisten, damit Deutschland seine Klimaschutzziele erreichen kann. Gleichzeitig wird dies in der Lausitz und im Mitteldeutschen Revier erhebliche wirtschaftliche Auswirkungen haben. Mit den Maßnahmen zur Strukturstärkung schaffen Bund und Länder die Grundlage dafür, dass sich die Braunkohlereviere positiv entwickeln können. Dafür fließen in den kommenden Jahren rund 25 Milliarden Euro in die ostdeutschen Kohleregionen. Ziel ist es nicht nur, die Folgen des Strukturwandels abzumildern, sondern das Ende der Kohleverstromung zu einer Chance für die Braunkohlereviere zu machen.
Wir werden die Transformation in den verschiedenen gesellschaftlichen Sektoren nutzen, um auch bei der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse weiter voranzukommen. Hier müssen wir in den nächsten Jahren weitere substanzielle Schritte gehen. Es bleibt eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe von Bund und Ländern. Diese Vorhaben und Weichenstellungen können wir nur dann zielgerichtet in die Tat umsetzen, wenn auch Ostdeutsche mit am Tisch sitzen und bei Entscheidungen mitreden und mitgestalten können. Hier liegt jedoch noch ein weiter Weg vor uns. Der Anteil von Ostdeutschen an bundesdeutschen Top-Elitepositionen beträgt nur 3,5 Prozent. Gerade mal eine ostdeutsche Richterin arbeitet am Bundesverfassungsgericht – die erste und einzige seit 1990. Nur zwei von 247 DAX-Vorständen stammen aus dem Osten. Und nur zwei der 100 größten Hochschulen im Land werden von einem Ostdeutschen geleitet. Und das, obwohl etwa 20 Prozent der Bevölkerung im Osten (inklusive Ostberlin) geboren sind.
Auch in den Führungspositionen der Bundesverwaltung sind Ostdeutsche mit 13,5 Prozent unterdurchschnittlich vertreten. Entsprechende Daten hat die Bundesregierung nun erstmals erhoben. Wird Berlin herausgerechnet, liegt der Anteil der im Osten geborenen Führungskräfte nur bei 7,4 Prozent. Je höher die Führungspositionen sind, desto weniger Ostdeutsche sind darin zu finden. Von 184 Abteilungsleitungen in der Bundesverwaltung stammen 8,7 Prozent aus Ostdeutschland, ohne Berlin sind es sogar nur 2,7 Prozent. Diese Zahlen müssen uns aufrütteln. Sie zeigen, dass viele hochqualifizierte Ostdeutsche in ihren Karrieren noch immer an Decken aus Panzerglas stoßen. Und das nicht nur in Justiz, Wirtschaft und Wissenschaft, sondern auch in Verwaltung, Kultur oder Medien. Dafür gibt es viele Gründe. Während Vorurteile gegenüber Ostdeutschen noch immer weit verbreitet sind, dominieren westdeutsche Netzwerke bis heute. Fest steht: Wir müssen den Anteil von Ostdeutschen in den Führungspositionen der Bundesverwaltung steigern. Das Bundeskabinett hat dazu am 25. Januar ein Konzept beschlossen: Wir richten ein jährliches Monitoring ein. Alle Bundesministerien sind gefordert, ihre Personalverantwortlichen zu sensibilisieren und Ostdeutsche zu ermutigen, sich auf Leitungspositionen zu bewerben. So sind Mentoring-Programme und die Unterstützung von Ost-Netzwerken geplant. Zudem werden wir eine Diversity-Strategie entwickeln, die weitere Dimensionen von Vielfalt aufgreifen soll. Das Ziel der Bundesregierung: Wir werden mehr Ostdeutsche in Führungspositionen bringen.
Ein weiteres zentrales Vorhaben der Bundesregierung ist das Zukunftszentrum Deutsche Einheit und Europäische Transformation, das wir bis 2028 in Halle (Saale) errichten werden. Damit wollen wir das Wissen und die Erfahrungen um Transformationsprozesse sammeln und nutzbar machen. Am 14. Februar 2023 hat eine unabhängige Jury die Entscheidung für den Standort gefällt. Jetzt beginnt die eigentliche Arbeit am und mit dem Standort Halle. Mit dem Zukunftszentrum werden wir kein weiteres Museum einrichten. Wir werden einen dynamischen, lebendigen und öffentlichen Ort schaffen, der ein Signal des Aufbruchs sendet – nach Ost und West! Das Zukunftszentrum ist mehr als ein Symbol, es soll ein Arbeitsort und ein Denkraum werden, aber auch ein Ort zum Fühlen und Erleben. Die Friedliche Revolution, die Deutsche Einheit und die anschließende Umbruchszeit prägen nicht nur die Ostdeutschen, sondern auch die Menschen in Mittel- und Osteuropa bis heute. Die Transformation hat sich tief in die Ostdeutschen eingeschrieben und hinterlässt bis heute Spuren – in unseren Biografien, in unseren Entscheidungen und Urteilen. Die Zeit nach 1989 hat uns mit einer enormen Vielfalt an Erfahrungen ausgestattet. Mit dem Zukunftszentrum wollen wir diese Erfahrungen heute für Gegenwart und Zukunft fruchtbar machen: Wissen generieren, Diskussionen anstoßen, Öffentlichkeit schaffen. Wir wollen die Chancen nutzen, die in der Veränderung liegen. Das Zukunftszentrum wird aus drei Säulen bestehen: Wissenschaft, Dialog und Kultur. Dabei streben wir mit dem Zukunftszentrum eine exzellente internationale Vernetzung und Verflechtung an – nicht nur auf Ebene der Wissenschaft, sondern auch in der Kultur und Zivilgesellschaft.
Thematisch im Mittelpunkt stehen für mich dabei sowohl die deutsche als auch eine europäische – insbesondere eine osteuropäische – Perspektive. Wenn wir uns mit der Friedlichen Revolution und der damit einhergehenden Transformation in den Nachwendejahren beschäftigen, dürfen wir nicht vergessen, wie eng die Ereignisse im Endstadium der DDR auch mit den Entwicklungen in den anderen mittel- und osteuropäischen Staaten verknüpft sind. Auch zwischen den Erfahrungen Ostdeutschlands und jenen der mittel- und osteuropäischen Staaten während der Transformationszeit gibt es viele Gemeinsamkeiten. Beide mussten tiefgreifende Systemwechsel vollziehen. Doch es gibt auch Unterschiede. Die DDR ist der BRD beigetreten, während in Ost- und Mitteleuropa neue staatliche Strukturen aus den Gesellschaften heraus erwachsen sind.
Ein ungebrochener Gestaltungswillen
Aus diesem Erfahrungsschatz einer tiefgreifenden Transformation müssen wir noch viel mehr schöpfen. Das vorhandene Wissen und Potenzial können wir für die Zukunft nutzen. Und das geschieht natürlich auch schon längst. Um dies zu verdeutlichen, habe ich im Oktober 2022 erstmals einen „Bericht des Ostbeauftragten“ vorgelegt. Er erscheint im Wechsel mit dem Bericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit, präsentiert ausgewählte thematische Schwerpunkte und lässt dabei auch individuelle Blickwinkel zu. Für diesen Bericht habe ich Gastautorinnen und -autoren eingeladen, ihren jeweils eigenen Blick auf den Stand der Einheit und auf Ostdeutschland zu schildern. Diese Texte sind nach vorn gerichtet und machen Mut. Sie zeigen unter anderem die Bedeutung des ehrenamtlichen Engagements, die Stärke der Kultur – und den ungebrochenen Gestaltungswillen der Menschen im Osten. Die Bürgerinnen und Bürger nehmen ihre Zukunft selbst in die Hand. Exemplarisch beschreibt Andreas Willisch eine Initiative aus Görlitz: Am Rande der Stadt hatten junge Menschen ein leerstehendes Kühlhaus entdeckt. Vor zehn Jahren war das. Heute ist das „Kühlhaus Görlitz“ ein soziokulturelles Zentrum, wo Kunst und Kultur, Arbeit und Bildung stattfinden. Manchmal reichen schon wenige Engagierte, um eine kühne Idee in ein innovatives Projekt zu verwandeln.
Auch das ist der Osten: hemdsärmelig, kreativ, engagiert. Ich würde mich freuen, wenn die Westdeutschen, die noch nie in Ostdeutschland waren, sich von dieser Vielfalt ein eigenes Bild machen würden. Fühlen Sie sich herzlich eingeladen.
Weitere Informationen unter: www.ostbeauftragter.de/ostb-de/ostdeutschland-ein-neuer-blick
Carsten Schneider
Carsten Schneider ist SPD-Politiker und Staatsminister.