„Willkommen in der Zukunft“

Gespräch mit Erzbischof Urmas Viilma, Oberhaupt der Estnischen Evangelisch-Lutherischen Kirche, über das Leben in einer stark säkularisierten Gesellschaft.
Wandgemälde in der Kapelle von Erzbischof Urmas Viilma, Oberhaupt der Estnischen Evangelisch-Lutherischen Kirche, in Tallinn.
Foto: Philipp Gessler
Wandgemälde in der Kapelle von Erzbischof Urmas Viilma, Oberhaupt der Estnischen Evangelisch-Lutherischen Kirche, in Tallinn.

zeitzeichen: Erzbischof Viilma, Estland ist stark säkularisiert. Ist es trotzdem ein noch lutherisch geprägter Staat?

URMAS VIILMA: Ja, ich denke schon. Kulturell sind wir Skandinavien sehr verbunden. In diesem Sinne, also kulturell, sind wir Lutheraner. Wir stehen dem  kandinavischen Staatskirchenkonzept näher als dem mitteleuropäischen  vangelischen Kirchenkonzept.

Das heißt?

URMAS VIILMA: Von etwa Ende des 16. bis Ende des 18. Jahrhunderts war das Land fast ausschließlich lutherisch, weil unter schwedischer Herrschaft der Staatsglaube  lutherisch war. Vor dem Zweiten Weltkrieg waren mehr als achtzig Prozent der Esten Lutheraner. Wir hatten eine staats­kirchliche Situation.

Auch rechtlich?

URMAS VIILMA: Ja, unter der zaristischen Herrschaft vor 1918 war die lutherische  Kirche Estlands neben der russisch-orthodoxen Kirche eine von zwei Staatskirchen.

Derzeit sind aber nur noch 14,8 Prozent der Esten lutherisch. Das ist ein deutlicher Rückgang gegenüber früher.

URMAS VIILMA: Ja, im Vergleich zu anderen europäischen Ländern ist Estland etwas ganz Besonderes. Bei der letzten Volkszählung war nur ein Drittel der Esten Christen.

Warum ist das so?

URMAS VIILMA: Weil diese Statistik nicht die wahre Situation in Estland zeigt. Die lutherische Kirche Estlands war eine der ersten der Welt, die sich 1917 zu einer unabhängigen und freien Kirche erklärte. Frei bedeutet: frei von weltlicher Macht.

Frei vom Staat – das ist positiv.

URMAS VIILMA: Sicher, frei von den deutschen Grafen, die auch über die Gemeinden auf dem Land herrschten. Nach der Unabhängigkeitserklärung erhob der Staat keine Kirchensteuern mehr und zählte die Mitglieder nicht mehr. In Skandinavien erhebt der Staat nach wie vor die Kirchensteuer, ganz ähnlich wie in Deutsch­land.

Ja, aber das ist nicht unumstritten.

URMAS VIILMA: Wir haben nur freiwillige Spenden an die Kirche. Und in einem Jahr spenden sie, im anderen Jahr nicht. Als Kirchenmitglieder gelten jedoch nur Spender. Wer ein Jahr lang nicht spendet, wird automatisch nicht mehr als Kirchenmitglied gezählt.

Das ist also eine statistische Schwäche für Ihre Kirche?

URMAS VIILMA: Wenn wir den Kirchenbesuch in Skandinavien und hier in Estland vergleichen, sind sie ziemlich ähnlich. In Skandinavien zählt man alle Gläubigen, die in einer Gemeinde leben, hier zählen wir die Spender. Wir sollten lieber zählen, wie viele Menschen zu den Weihnachts­gottesdiensten gehen.

Ja, aber diese Zahlen sind überall hoch.

URMAS VIILMA: Richtig, aber das zeigt die kulturelle Kraft des hiesigen Luthertums. Die Leute sagen: „Das ist meine Kirche. Aber ich habe seit Jahren nicht mehr gespendet.“

Dennoch, es bleibt dabei: Die Säkularisierung ist in Estland sehr weit fortgeschritten.

URMAS VIILMA: Ja, das stimmt. Dies liegt auch daran, dass es an den öffentlichen Schulen Estlands keinen Religionsunterricht gibt. Im Grunde hat sich das Schulsystem trotz der kurzen deutschen Besatzung 1940 und dann ab 1944 unter der zweiten russisch-sowjetischen Besatzung nicht verändert – auch nicht nach der Unabhängigkeit 1991. Es gab null Religionsunterricht.

Hat Ihre Kirche nicht dafür gekämpft?

URMAS VIILMA: Doch, wir haben gekämpft! Wir haben uns für einen interreligiösen, interkonfessionellen Religionsunterricht eingesetzt. Erfolglos. Von den etwa 500 Schulen in Estland gibt es nur etwa sechzig mit irgendeiner Art von Religionsunterricht, weil der Schulleiter dies erlaubt. Das bedeutet, dass die zweite Generation in Estland jetzt ohne religiöses Wissen aufwächst – und wir reden noch nicht einmal über den Glauben, nur über das religiöse Wissen.

Also, auch Adam und Eva sind unbekannt?

URMAS VIILMA: Genau. Und diese Menschen sind dann die entscheidenden Personen – in welchem Bereich auch immer – in der Gesellschaft. Religiöser Analphabetismus ist weit verbreitet und wird unsere Zukunft prägen. Wenn ich Besuch aus Skandinavien oder Deutschland empfange und es um Säkularisierung geht, sage ich: Willkommen in der Zukunft auch in Ihren Ländern!

Das ist möglich.

URMAS VIILMA: Ja. Andererseits sind wir in diesem Land religiös völlig frei, was positiv ist. Das garantiert unsere Verfassung.

Und es gibt keinen gesellschaftlichen Druck, doch in die Kirche zu gehen?

URMAS VIILMA: Nein. Aber wir gelten immer noch als nationale Kirche, nicht wegen der Mitgliederzahlen, sondern wegen unserer Verant­wortung gegenüber allen Menschen, ob gläubig oder nicht. Allein schon wegen des kommunalen Netzes im ganzen Land. Deshalb müssen wir immer allen dienen, nicht nur den Mitgliedern unserer Kirche. Ich bin seit gut sieben Jahren Erzbischof und auf Lebenszeit gewählt. Wenn die Zahlen weiter zurückgehen wie bisher, werde ich der letzte Lutheraner in Estland sein.

Das muss ein komisches Gefühl sein.

URMAS VIILMA: Ja, wenn ich nur auf die Zahlen schauen würde. Aber ein Faktor wird vergessen: der Heilige Geist und Gott. Was gibt uns Zuversicht? Dass wir die Menschen bereits erreichen.

Und wie hören Ihnen die Leute zu?

URMAS VIILMA: Das hängt natürlich vom Pfarrer ab, wie offen er oder sie ist – und wie sozial engagiert in der Gemeinde. In einigen kleineren Orten steigt die Mitgliederzahl unserer Gemeinden wieder an. Wenn ich mich nur auf die Statistiken konzentrieren würde, wäre ich schon lange ausgelaugt.

In Lettland wurde die Frauenordination in der lutherischen Kirche durch eine Änderung der Kirchenverfassung rück­gängig gemacht. Wird die Frauen­ordi­na­tion hier in Estland voll akzeptiert?

URMAS VIILMA: Es gibt ein paar Pastoren, die gegen die Frauen­ordination sind, aber hier in Estland gibt es keine große Diskussion darüber. Dafür gibt es keine Mehrheit. Bei einer unserer letzten Synoden stand das nicht einmal auf der Tagesordnung.

Etwa ein Drittel der estnischen Bevölkerung ist russischsprachig. Es gibt eine moskautreue orthodoxe Kirche und eine mehr oder weniger unabhängige orthodoxe Kirche. Ist das Verhältnis zu diesen orthodoxen Kirchen problematisch?

URMAS VIILMA: Die ökumenische Situation hier in Estland ist sehr gut. Der Estnische Kirchenrat existiert seit 1989 und besteht aus zehn Kirchen. Wir treffen uns einmal im Monat, außer im Sommer. Wir sind alle in der Minderheitsposition und zusammen nur ein Drittel der Bevölkerung. Wir müssen vereint sein und mit einer Stimme sprechen, um Partner des Staates zu sein. Und das hat bisher sehr gut funktioniert. Die beiden estnisch-orthodoxen Kirchen können sich hier auf neutralem Boden treffen.

Das ist eine Chance.

URMAS VIILMA: Ja, es ist wie beim Weltkirchenrat, wo sich die orthodoxen Kirchen treffen können, auch wenn sie sich im Schisma befinden. Aber es ist nicht einfach. Im Herbst hat der Moskauer Patriarch in einer seltsamen Predigt sogar erklärt, dass für Russlands Soldaten alle Sünden auf dem Schlachtfeld in der Ukraine vergeben sind – wie im Ersten Kreuzzug.

Hat der Ukraine-Krieg das Verhältnis zwischen Esten und der russischsprachigen Minderheit im Land verändert?

URMAS VIILMA: Nach der Unabhängig­keit 1991 war das gesellschaftliche Klima ziemlich ruhig. Aber jetzt sagt ein Drittel der russischsprachigen Bevölkerung Estlands, dass sie Putins Krieg unterstützt. Viele sowjetische Sieges- und Besatzungsdenkmäler, die seit der Unabhängigkeit vor dreißig Jahren nicht mehr in Frage gestellt wurden, werden derzeit in Estland abgerissen. Dies zeigt, dass die Esten insgesamt keine Wut auf die Russen empfinden. Wir waren 700 Jahre lang kolonialisiert und hatten nur etwa 100 Jahre Unabhängigkeit. Aber wir sind es gewohnt, uns mit unserer Geschichte zu versöhnen.

Dennoch scheinen die Spannungen zuzunehmen.

URMAS VIILMA: Als einige Russen hier jeden 9. Mai den Tag des Sieges feierten, konnten wir nicht feiern, weil es für uns nur die Fortsetzung der Besatzung war.

Würden Sie die estnische Gesellschaft als traumatisiert bezeichnen, weil fast jede estnische Familie zu Sowjetzeiten Verwandte hatte, die in Gulag-Lager in der Sowjetunion verschleppt oder sogar getötet wurden?

URMAS VIILMA: Wir sind ein kleines Land. Es gibt etwa 1,3 Millionen estnische Staatsbürger, aber nur 900 000 Menschen sind kulturell estnisch. Etwa 70 000 von ihnen wurden zu Sowjet­zeiten unterdrückt und 20 000 Esten nach Sibirien deportiert.

Sie können also in fast jeder Familie Geschichten über Unterdrückung erzählen?

URMAS VIILMA: Ja, das stimmt. Auch in meiner eigenen Familie. Auch aus diesem Grund wäre eine kommunistische Partei für Estland so etwas wie eine Nazi-Partei in Westeuropa. Was uns damals widerfahren ist, sehen wir heute in den russisch besetzten Gebieten der Ukraine.

Zurück zur Kirche in Estland und ihrer Freiheit: Sind Staat und Kirche wirklich komplett getrennt?

URMAS VIILMA: Die Kirche kümmert sich zum Beispiel um die Seelsorge in der Armee oder in den Gefängnissen, und der Staat hat die gleiche Verantwortung für alle Religionsgemeinschaften. Aber die lutherische Kirche besitzt etwa 40 Prozent aller historischen Artefakte des Landes, nicht nur die Kirchen, sondern auch die alten Gemälde und alles andere. Der Staat trägt eine materielle Verantwortung für deren Erhalt.

Der Staat hat also Einfluss auf die Kirche?

URMAS VIILMA: Nein, wir haben das große Glück, keine Staatskirche zu sein. Wir wollen keine Haustiere des Staates sein. In Finnland und Schweden beeinflussen politische Parteien die Zusammensetzung der Synoden, obwohl es in beiden Ländern keine Staatskirche mehr gibt. Das könnte ich mir hierzulande nie vorstellen! Denn worauf werden die Synodenmitglieder in diesen Ländern bei schwierigen Entscheidungen zuerst schauen: in die Bibel oder ihr Parteiprogramm?

Die estnische Kirche ist völlig frei – mit allen guten und allen schlechten Folgen, die das haben kann.

URMAS VIILMA: Ja, wir sind eine arme Kirche trotz des Reichtums vieler schöner alter Kirchengebäude, die wir besitzen. Wir sind wie der englische Lord, der in einer Ecke seines Schlosses wohnt und den Rest des Schlosses nicht heizen kann, weil er nicht genug Geld hat – nicht einmal genug, um das kaputte Dach zu reparieren. Sie können Pastoren nicht mit alten Gemälden bezahlen.

Haben Sie persönlich das gleiche Problem?

URMAS VIILMA: Ja. Als ich vor 30 Jahren als Pastor anfing, sagte mein pastoraler Mentor zu mir: „Du zahlst für dich selbst.“ Das bedeutet, dass Sie als Pfarrer von den Spenden der Kirche leben, der Sie dienen. Wer sich in seinem Pfarrhaus versteckt, hat kein Einkommen.

Das ist nicht leicht …

URMAS VIILMA: Ja, aber die meisten Gemeinden haben andere Einkünfte, Mietwohnungen oder etwas Forstwirtschaft. Die Spenden der Kirchenmitglieder sind dann in erster Linie Nebeneinnahmen für die Pfarrer. Andererseits hatten wir noch nie so viele Pastoren wie jetzt. Interessant ist auch, dass die meisten Pastoren älter sind als ich und vorher einen weltlichen Beruf hatten. Sie müssen auch keine Familie mehr gründen, haben oft eine Wohnung, und die Kinder sind aus dem Haus. Dies könnte auch die Zukunft der Kirchen in ganz Europa sein.

Halten Sie das für möglich?

URMAS VIILMA: Ja, ich denke schon. Wir sind wie ein kleines Labor, in dem Sie sehen können, wie es sein wird. (lacht)

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