Liebe Leserinnen und Leser, als dankbare neue Mitherausgeberin möchte ich Sie begrüßen: mit einem Gefahrenzeichen.

Verkehrsschild "Verengte Fahrbahn" Foto: Wikipedia
Keine Sorge, ich werde hier keine Rechtskolumne einführen. Obwohl: Das Recht hat ja doch auch mit Gerechtigkeit zu tun und ist damit der höheren Gerechtigkeit jedenfalls nicht unverwandt! So ist es mit dem Gefahrenzeichen 120 nach Anlage 1 zu § 40 Absatz 6 und 7 Straßenverkehrsordnung (StVO). Klingt schrecklich, ist aber sehr lehrreich – und hat durchaus etwas mit dem Thema dieses Hefts zu tun.
Der Bundesgerichtshof (BGH) hatte einen Fall zu entscheiden, in dem nach eben einem solchen Schild mitten in der Engstelle ein LKW und ein PKW kollidiert waren; beide waren in derselben Fahrtrichtung unterwegs und es gab eben keinen Vorrang eines der beiden Fahrstreifen. Die rechts fahrende PKW-Fahrerin machte geltend, an der Engstelle habe sie sich nicht (mehr) anders verhalten können (sie konnte sich in der Tat nicht in Luft auflösen) und so sei der Unfall für sie unvermeidbar gewesen. Der LKW-Fahrer machte geltend, er habe das rechts neben ihm fahrende Fahrzeug nicht sehen können (da das andere Fahrzeug in seinem toten Winkel gewesen war). Die PKW-Fahrerin wollte nun nicht – wie es die Vorinstanzen für richtig gehalten hatten – die Hälfte des Schadens bezahlen.
Der BGH hat den Fall mit einer sehr schlichten Grundnorm der Straßenverkehrsordnung gelöst: Es gilt an einer solchen Stelle der beidseitigen Fahrbahnverengung das Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme (§ 1 StVO) – und ergänzend: Ein Idealfahrer wäre schon gar nicht in diese Situation gekommen, da er oder sie vorher reagiert hätte. Wie wahr!
Mich hat das Wort „Idealfahrer“ elektrisiert. Das ist die Beschreibung für einen Typus, von dem wir wissen, dass es ihn nicht wirklich gibt. Aber wir können arbeiten mit einer solchen Figur, weil wir einige Grundwahrheiten dort ganz gut verankern können: Ein Idealfahrer wäre nicht einfach drauflosgefahren. Er oder sie hätte den anderen in den Blick (!) genommen und hätte sich auch dessen Position vor Augen geführt. Und hätte dann daran denken müssen, ob der andere ihn vielleicht nicht wahrnehmen kann. Und dann wäre es nicht nur ein Gebot der Rücksichtnahme, sondern ein Gebot der Vernunft gewesen, ein wenig nachzugeben, ein bisschen zu verlangsamen, in Kontakt zu treten oder den anderen einfach vorbeifahren zu lassen.
Das Gefahrenzeichen der beidseitigen Fahrbahnverengung ist evident in diesen Zeiten der globalen Krisen: Wir alle sitzen im selben Boot der begrenzten Ressourcen, wir alle leben auf der einen Welt, die ächzt unter unserem Raubbau, wir alle können es kommen sehen. Armut und Hunger weltweit sind lösbare Probleme. Was uns fehlt, ist der Weitblick des Idealfahrers. Es ist in unser aller Interesse, zu teilen und den Blick zu weiten für die Armut unserer Zeit. Der Crash im realen und übertragenen Sinne nützt am Ende auch denen nichts, die ihren Wohlstand und ihre Privilegien rücksichtslos verteidigen. Lassen Sie uns gemeinsam – als Weltbürgerinnen und Weltbürger – über den Weitblick des Idealfahrers nachdenken. Gerechter wäre das allemal!
Bettina Limperg
Bettina Limperg (*1961) ist seit 2014 Präsidentin des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe. 2021 war evangelische Präsidentin des 3. Ökumenischen Kirchentages in Frankfurt/Main und seit 2023 ist sie Herausgeberin von zeitzeichen.