Natur und Menschen leuchten lassen

Im Süden Finnlands entsteht die Lyrik der Poetin Dorothea Grünzweig. Ihre Naturbeschreibungen greifen romantische Weltbilder wieder auf. Dass dabei auch die Sprache des Pietismus auftaucht, ist kein Widerspruch, meint der EKD-Kulturbeauftragte Johann Hinrich Claussen, der die Dichterin getroffen hat.
Es sind schlechte Zeiten für die Poesie. Als ich im Frühsommer für meinen Podcast ein Gespräch mit der Lyrikerin Dorothea Grünzweig führte, berichtete sie mir, dass sie seit dem russischen Angriff auf die Ukraine nichts mehr in ihr Notiz- und lyrisches Skizzenbuch geschrieben habe, von abgeschlossenen Gedichten ganz zu schweigen. Aber es sind Zeiten, in denen der lyrische Blick auf die Welt besonders gebraucht wird. So schilderte die seit langem in Finnland lebende Grünzweig, wie sie vom hohen Norden aus auf den Krieg in Osteuropa schaue. Wie bestürzt sie über die anfängliche Panik der doch sonst so ruhigen, handfesten Finnen war. Und sie machte mich auf die Frage aufmerksam, welche Auswirkungen diese Menschenkatastrophe für die Natur, die Pflanzen und Tiere, haben werde. Man plane in Finnland, die lange, lange Grenze nach Russland mit einem Zaun zu sichern. Was würde das für all die Tiere bedeuten, deren Natur das Wandern von Ost nach West und West nach Ost sei? Ich stutzte, denn auf diesen gar nicht unbedeutenden Punkt war ich selbst nicht gekommen, hatte auch in den Medien nichts darüber gelesen und war dankbar, dass es Naturlyrikerinnen wie Dorothea Grünzweig gibt, die auf leichthin Übersehenes hinweisen.In Deutschland haben viele Leserinnen und Leser die Entdeckung dieser Ausgewanderten noch vor sich. Es lohnt sich sehr, aus mehreren Gründen. Zum einen verschaffen Grünzweigs Gedichte wunderbare Lese-Naturerlebnisse. In einem Gedicht hat sie einmal bekannt: „zur stadtschreiberin eigne ich mich nicht zur wald-/und feldschreiberin wohl zur see- und flussschreiberin“. Wieder und wieder macht sie sich auf, um die finnischen Wälder zu durchwandern, über die Seen zu paddeln, sie zu durchschwimmen, dabei Eindrücke und Worte sammelnd. Die feine, aber auch körperliche Wahrnehmung fließt langsam in Verse, die die Natur nicht bloß beschreiben, sondern ganz im Novalis‘schen Sinne „die Welt romantisieren“. Für mich, der ich noch nie in Finnland war, leuchten ihre Mitsommer-Gedichte besonders hell, aber auch ihre Schnee-Gedichte. Wie zum Beispiel „mein gestern nacht“ (2014):
mein gestern nacht
der erste schnee kam er kommt oft bei nacht und
wird zur morgengabe für die schon nahe hohe winterzeit
doch konnte ich ihn nur als ausschnitt sehen trug um
den hals wieder den angstkragen ein abschirmtrichter
blickzerstückler mit dem ich anecke oft mich verheddere
erst als der kragen von mir abfiel sah ich den schnee
in seinem reichtum seiner herben herrlichkeit
die flocken die im fallen fordern fürchtet euch nicht
und sah die lichtverzückte landschaft mich inmitten
das helle feldzerschmelzende sich über alle
grenzen werfende genesungsweiß
Es ist kein Zufall, dass das Weihnachtsevangelium in dieses Wintergedicht – allerdings als eine meteorologische Forderung – hereinschneit. Denn wie kaum eine andere Gegenwartsautorin ist Grünzweig auch religiös sprachfähig. Genauer gesagt, verbindet sie mehrere Sprachen miteinander. Da ist zunächst die „Allerweltssprache“, wie sie es in einem Essay genannt hat, „eine Sprache der Ebene – vielfältig, würzig, Übermut auslösend und fasslich“. Hinzu kommt „die heilige Sprache“, mit der sie als Kind einer frommen evangelischen Familie in Württemberg (weshalb man bei ihr manchmal auch schwäbischen Ausdrücken begegnet) aufgewachsen ist: die Sprache der Bibel, der Choräle, des Gottesdienstes, der pietistischen Gebetspraxis. Auch wenn diese Sprache patriarchal geprägt war – gesprochen wurde sie vor allem vom Vater und von den „Brüdern“ im „Großen Saal“–, löste sie bei ihr nicht bloß Abwehr aus, sondern wurde ihr zu einer Tür zum eigenen Sprechen und Schreiben. Und da ist schließlich die Sprache ihrer neuen Heimat, die sie oft einfließen lässt: das für mich so klangvolle wie unverständliche Finnisch. Alle drei Sprachen verbinden sich in Grünzweigs Gedichten zu einer in sich reichen, spannungsvollen, vielschichtigen Poesie, die Natürliches und Menschliches zum Leuchten bringt, dabei den Hohen Ton nicht scheut, ohne jedoch das Kleine, Schmerzliche oder Dunkle auszublenden.
Ich vermute, dass der weite Weg bis nach Finnland Dorothea Grünzweig dabei geholfen haben mag, ihre eigene lyrische Stimme zu finden und auf eine ganz eigenständige Weise auch christliche Motive in ihren Gedichten willkommen zu heißen. Als Nicht-Württemberger musste ich erst lernen, dass ihr Nachname bei kirchennahen Schwaben sehr unterschiedliche, zum Teil heftige Reaktionen auslösen kann. Ihr Vater war Fritz Grünzweig (1914 bis 1989), der langjährige Geistliche Vorsteher der Evangelischen Brüdergemeinde in Korntal. Für die pietistische Richtung der Landeskirche – und darüber hinaus – war er ein hochrespektierter Vorsprecher, für die eher Liberalen das genaue Gegenteil dessen. Kontrovers wurde zudem über ihn diskutiert, als in den vergangenen Jahren damit begonnen wurde, Fälle sexualisierter Gewalt im Kinderheim von Korntal aufzuarbeiten.Die Auseinandersetzung mit ihrem Vater und dem von ihm repräsentierten evangelischen Christentum ist eine Linie, die einige Gedichte von Dorothea Grünzweig durchzieht. Man könnte sie in die lange Tradition dichtender Pastorensöhne und Pastorentöchter einzeichnen, die für die deutsche Literaturgeschichte so prägend ist, wenn man ihr dadurch nur nicht das Eigene nähme und sie nur zu einem Fallbeispiel machte. Besonders bewegt und angeregt hat mich ein Gedicht, das Dorothea Grünzweig fast dreißig Jahre nach dem Tod ihres Vaters veröffentlicht hat. Es heißt: „plötzlich alles da“ (2017).
plötzlich alles da
gestern abend oder war es schon vor jahren fanden wir
vaters abgegriffene bibel mit ihren zerlesenen seiten
im weinrot des heiligen abendmahls und erinnerungen
schossen auf aus geschwisterlicher erster hand
unter seinen flügeln ruhen vater war uns kindern nicht
nur mensch war gott und gottes sohn schönster herr
Jesu herrscher von uns allen das den vater ausströmende
lieblingslied entsinnen wir mit angeschlagenen stimmen
unter seinen flügeln ruhen wir noch immer stemmen uns
noch immer gegen ihn treten ihm erwachsen gegenüber
vater der gehorsam forderte doch der liebe alles überließ
und der mutterkraft der religion stand als cherub vor
dem paradies und er sprach hier wohnt niemand als
jesus allein wers jedoch von herzen wünscht der wird
nach prüfung eingelassen und wir kinder tollten hinein
das sind die bilder sind die träume plötzlich wieder alles da
später kommt regen auf fällt durch das offene fenster des
erinnerungszimmers wo wir uns trafen unser gesichtsfeld
ist nass geworden und fängt ganz haltlos haltlos an zu blühen
Unbestimmt, wann die Erinnerung an ihren Vater sie überkommt. Wichtiger, was das Gedenken auslöst: seine Bibel. Und die Dichterin ist nicht allein. Man meint, die Geschwister vor sich zu sehen: Sie reichen sich die väterliche Bibel weiter, teilen bei einem Glas Wein ihre Erinnerungen. Plötzlich ist der langverstorbene Vater wieder da und mit ihm das Urproblem des evangelischen Pfarrhauses: die Ununterscheidbarkeit von Person und Amt des Vaters – „der Mann auf der Kanzel“ (Ruth Rehmann) als Herrgott. Doch hier schreibt niemand gegen eine „Gottesvergiftung“ (Tilmann Moser) an. Vielmehr wird fein unterschieden und balanciert: das Überwältigende und das Liebevolle. Ein ebenso schweres wie reiches Erbe scheint auf, aus dem aber etwas Eigenes werden kann.
Vater und Mutter
Doch so reizvoll ich als Theologe es finden mag, in Grünzweigs Werk dieser pietistischen Vaterspur nachzugehen, will ich der Versuchung widerstehen, es darauf einzuengen. Festhalten will ich an dieser Stelle nur, dass mir Grünzweigs Gedichte darum auch theologisch – oder, wenn man so will, kirchenkulturpolitisch – so bedeutsam sind, weil sie bezeugen, dass die ursprüngliche Nähe von Pietismus und Romantik – zumindest für sie selbst – noch eine lebendige Sprach-, Denk- und Glaubensquelle sein kann. Das ist deshalb so wichtig, weil seit Längerem der Fundamentalismus alles daransetzt, den Pietismus zu entzaubern.
Doch stellt man dies einmal beiseite, kann und sollte man diese Gedichte auch ganz un-theologisch lesen, nämlich als Verse über starke Kindheitsprägungen, den Verlust von und die Erinnerung an Eltern, von denen man sich längst gelöst hat, die nicht mehr da sind und denen man doch im Wesentlichen verbunden bleibt. Das ist eine universale, existentielle Erfahrung. Davon zeugen besonders die Gedichte, in denen Dorothea Grünzweig über ihre alte Mutter schreibt, die Sorge um sie, ihre Gedankenverlorenheit, die Verwandlung der „Henne“ zum „Biberle“ – schwäbisch für „Kücken“. So in „was jetzt genau zu tun ist“ (2020).
was jetzt genau zu tun ist
beim letzten mal war sie ein biberle brachte kaum
wörter zustande stotterte gackste wir sprachen mit reim
ich gewitter sie was bitter ich spazieren sie was frieren
ruhe truhe wir kämpften uns durchs dickicht des telefonats
mutter klagte es sei eine so schwere zeit all das ungereimte
mache ihr angst und ob wir schon die ämter eingeschaltet
hätten sie habe schachtelweise karten erhalten aber die eine
die rettende fehle weinen das an den knochen schabt weil
keine hoffnungspölsterchen nein kein hinabschluchzen darf
sein ins grab das will ich abwenden und ihr einen trostvers
zuwerfen sie greift das seil lässt es wieder baumeln jetzt
hüpft es mir aus der hand jetzt gleitet es mir aus den augen
jetzt muss ich schlimmstes verhindern einen vorsatz fassen
aus not bis zur dahingabe mutter beherzigen sie wie sie
wurde aufs höchste beherzigen
mutter ach mutter mein kind
Dass wieder bessere Zeiten kommen mögen für Menschen, Tiere und die Poesie, das wünsche ich Dorothea Grünzweig zu ihrem 70. Geburtstag an diesem ersten Weihnachtstag.
Johann Hinrich Claussen
Johann Hinrich Claussen ist seit 2016 Kulturbeauftragter der EKD. Zuvor war er Propst und Hauptpastor in Hamburg.