Warum Bert Brecht Recht hatte

Die einen sind arm, weil die anderen reich sind
In Untersuchungen sind die Superreichen nicht ausreichend repräsentiert. Ihre Vermögen sind wahrscheinlich größer, als es den Anschein hat.
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In Untersuchungen sind die Superreichen nicht ausreichend repräsentiert. Ihre Vermögen sind wahrscheinlich größer, als es den Anschein hat.

Die Armen erwirtschaften durch Arbeit, Mietzahlungen und Konsum den Wohlstand der Reichen. Diese beteiligen sich jedoch nicht angemessen an der Errichtung und dem Unterhalt der öffentlichen Dienstleistungen und Infrastruktur, die gerade für Menschen mit wenig Geld wichtig sind. Eine Analyse der taz-Journalistin Anja Krüger.

Alltag in Deutschland: Senior:innen sammeln Flaschen, weil sie auf das Pfandgeld angewiesen sind, Menschen aller Altersgruppen warten in langen Schlangen an den Lebensmittelausgaben der Tafeln, Kinder gehen nicht zum Geburtstag der Schulkameradin, weil die Eltern kein Geld für ein Geschenk haben, und Hunderttausende sind trotz Arbeit auf den Bezug von Hartz IV angewiesen. Unzählige Haushalte, die bislang gerade so über die Runden gekommen sind, kämpfen mit den explodierenden Energiekosten. Gleichzeitig werden Eigentümer von Discounter-Ketten reicher, schütten Aktiengesellschaften Dividenden in Rekordhöhe aus und verzeichnen Luxusartikelhersteller kräftige Umsatzzuwächse.

Zwischen diesen Phänomenen besteht ein direkter Zusammenhang: Die einen sind arm, weil die anderen reich sind. Denn die Armen erwirtschaften – durch Arbeit, Mietzahlungen und Konsum – den Wohlstand der Reichen. Die wiederum beteiligen sich nicht angemessen an der Errichtung und dem Unterhalt jener öffentlichen Dienstleistungen und Infrastruktur, die gerade für Menschen mit wenig Geld wichtig sind.

Als arm gilt, wer monatlich weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens verdient, das sind rund 1.150 Euro für einen Erwachsenen. Doch Schwellenwerte spiegeln die tatsächliche Lage nur unzureichend wider: Hohe Mieten oder Überschuldung können auch bei Menschen mit mehr Einkommen zu drastischen Problemen führen.

Unmittelbar lebensbedrohlich

Die Folgen von Armut in Bangladesch, Kenia oder dem Sudan sind verheerender als in Berlin oder Stuttgart, weil sie unmittelbar lebensbedrohlich sind. Aber auch in Deutschland kann finanzielle Not für die Betroffenen verheerende Folgen haben. Arme Frauen haben eine um 4,4 Jahre kürzere Lebenserwartung als reiche, bei den Männern sind es sogar 8,6 Jahre, zeigen Analysen des Robert-Koch-Instituts von vor der Corona-Pandemie.

Wer arm ist, leidet unter Ausgrenzung und mangelnder gesellschaftlicher Teilhabe. „Hartzer“ ist das stigmatisierende Etikett für Menschen, die auf staatliche Hilfe angewiesen sind – und die mit der Verachtung weiter Teile der Gesellschaft leben müssen. Wer arm ist, muss einen guten Grund – Krankheit, Scheidung, Schicksalsschlag – aufweisen können, um auf Akzeptanz hoffen zu dürfen. Reiche dagegen genießen Respekt und Anerkennung. Nach Angaben des Verbands „Der Paritätische“ hat die Zahl der Armen im Coronajahr 2021 mit 13,8 Millionen Menschen – das sind 16,6 Prozent der Bevölkerung – einen neuen Höchststand erreicht. Gleichzeitig ist 2021 die Zahl der Millionäre um rund 100 000 gewachsen, kritisiert der Kölner Wissenschaftler Christoph Butterwegge. Deutschland weise eine sozioökonomische Ungleichheit in vorher nie gekanntem Maße auf, stellt er fest. Butterwegge gilt als „Armutsforscher“, sieht sich selbst allerdings als „Armuts- und Reichtumsforscher“ – und weist damit auf die zwingende Verbindung hin. Damit gehört er zu den Ausnahmen im Wissenschaftsbetrieb.

Armutsforscher:innen gibt es etliche, Reichtums­forscher:innen nicht. Die Vermögen der Reichen interessieren Forscher:innen im Allgemeinen wenig. Dieses Terrain ist kaum erforscht. So gibt es keine einheitliche Definition von Reichtum. In amtlichen Statistiken wird oft als reich bezeichnet, wer das Doppelte des Durchschnittseinkommens verdient. Aber: Einkommensreiche sind nicht zwangsläufig vermögend. Reich und über Vermögen verfügen, gehören aber untrennbar zusammen. Zwar gibt es Studien mit Stichproben und Befragungen zur Vermögensverteilung, aber auch sie ergeben nur Näherungswerte. Die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung weist darauf hin, dass bei Untersuchungen die Superreichen nicht ausreichend repräsentiert werden, ihre Vermögen sind wahrscheinlich größer, als es den Anschein hat.

Äußerst geringer Anteil

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts besaß ein Prozent der Bevölkerung rund 50 Prozent des Vermögens, das ist aus der seinerzeit zum ersten Mal eingeführten Vermögenssteuer abzuleiten. Heute scheint es eine etwas größere Spreizung zu geben, wenn einer aktuellen Auswertung der Bundesbank für den Zeitraum 2009 bis 2021 zu glauben ist. „Während die obersten 10 Prozent der Nettovermögensverteilung über den betrachteten Zeitraum mehr als 50 Prozent des gesamten Nettovermögens der Haushalte in Deutschland hielten, entfiel auf die untere Hälfte der Vermögensverteilung mit durchschnittlich 0,6 Prozent ein äußerst geringer Anteil“, heißt es im Monatsbericht für den Juli 2022 der Bundesbank. „So gehört fast das gesamte Immobilienvermögen in etwa je zur Hälfte den oberen 10 Prozent und den nächsten 40 Prozent der Verteilung. Anteilsrechte und Betriebsvermögen befinden sich fast ausschließlich im Besitz der oberen 10 Prozent der Verteilung.“ Auch das Geldvermögen ist ungleich verteilt. Die obersten zehn Prozent besitzen mehr als 40 Prozent, etwa die Hälfte die nächsten 40 Prozent. Nicht einmal zehn Prozent des Geldvermögens verteilt sich auf die ärmere Hälfte der Bürger:innen. Denn viele können keine Rücklagen bilden.

Selbst in Zeiten von Wirtschaftswachstum und konjunkturellem Aufschwung mit enormen Gewinnen für Unternehmen konnten etliche Beschäftigte nicht von ihrer Erwerbstätigkeit leben. Nach Angaben der Nationalen Armutskonferenz stieg der Anteil der „working poor“ zwischen 2004 und 2014 auf 9,6 Prozent der Beschäftigten – aufgrund der immensen Ausdehnung des Niedriglohnbereichs nach der Verabschiedung der Hartz-Reformen.

Vom Anstieg des Mindestlohns auf zwölf Euro ab 1. Oktober 2022 werden mehr als sechs Millionen Beschäftigte profitieren – das zeigt die noch immer gewaltigen Ausmaße des Niedriglohnsektors. Die Anhebung des Mindestlohns ist ein überfälliger Schritt. Sie wird aber nicht reichen, um die anstehenden Belastungen durch Inflation und explodierende Energiekosten abzufedern. Das gilt für die allermeisten Erwerbstätigen, denn sie müssen mit herben Reallohnverlusten klarkommen – während Unternehmen wie selbstverständlich ihre höheren Kosten auf die Preise umlegen und mitunter noch etwas aufschlagen.

Viele, die arm sind, schämen sich dafür. Sie haben die immer wieder zu hörende Behauptung verinnerlicht, dass sie selbst für ihre Lage verantwortlich sind. Dabei ist Armut in der Regel kein selbstgewählter Zustand – Reichtum auch nicht. Ganz entscheidend für die materielle Situation eines Menschen ist die finanzielle Ausstattung der Familie, in die er oder sie geboren wird. Vermögen kann man leicht auf den Kopf hauen, der Armut zu entkommen ist aber schwer.

Hartz-IV-Empfänger:innen müssen ihr gesamtes Einkommen ausgeben – selbst wenn sie es könnten, dürfen sie kaum Rücklagen bilden. Das ist schlecht für sie, aber gut für diejenigen, die das Geld bekommen, das sie ausgeben müssen. Ihr Einkauf steigert die Umsätze der Lebensmittelketten, ihr Energieverbrauch füllt die Kassen von Konzernen. Ihre Mieten fließen an Wohnungsgesellschaften, die an Anteilseigener Dividenden ausschütten.

Mieten sind das drastischste Beispiel dafür, wie Geld aus der immobilienlosen ärmeren Hälfte der Bevölkerung in die reichere fließt. Die Kosten fürs Wohnen sind in den vergangenen Jahren in den meisten Regionen Deutschlands gestiegen, in den Großstädten explodiert. Für Menschen mit wenig Geld ist das eine enorme Belastung. Ein Grund für die steigenden Mieten ist die Vernachlässigung des sozialen Wohnungsbaus. Vor 20 Jahren gab es noch 2,6 Millionen Sozialwohnungen, jetzt sind es etwa 1,1 Millionen. Zwar will die Bundesregierung erreichen, dass jährlich 100 000 Sozialwohnungen neu gebaut werden. Aber erst einmal nimmt die Zahl weiter ab, weil nach einigen Jahren die Sozialbindung ausläuft. Von dem mit Steuermitteln finanzierten Bau von Wohnungen profitieren dann oft private Investoren. Der Staat nimmt viele Milliarden Euro in die Hand, um Armen ein Dach über dem Kopf zu sichern – auch zum Wohl der Wohlhabenden. „Das Geld fließt zum großen Teil an kommerziell agierende Vermieter“, sagt der Stadtsoziologe Andrej Holm.

Ein weiterer Grund für steigende Mieten: Die Reichen haben zu viel Geld. Weil sie nicht wissen, wohin damit, legen sie es bevorzugt in Immobilien an. So werden Wohngebäude zu Spekulationsobjekten, die auch mal länger leer stehen. Ganze Stadtviertel werden luxussaniert und für Menschen mit wenig Geld nicht mehr bewohnbar.

Dass so viel Kapital in Wohnraum fließt, ist Ergebnis eines politischen Prozesses: Seit den 1990er-Jahren wurden nicht nur, aber gerade in Deutschland Steuern auf hohe Einkommen und für Unternehmen gesenkt, die Abgaben auf Kapitalerträge ebenfalls. Die Vermögenssteuer ist ausgesetzt, die Erbschaftssteuer schont Vermögen durch großzügige Freibeträge, vor allem wenn, Unternehmen weitergegeben werden. Dabei geht die Häfte der Schenkungen und Erbschaften an jene, die zu den reichsten zehn Prozent gehören. Von einem „Klassenkampf von oben“ spricht die Soziologin Silke van Dyk von der Universität Jena. „Wir haben ein System, das zwar formal politische Gleichheit garantiert, das aber in höchstem Maße mit einem System der sozialen Ungleichheit verwoben ist“, sagt sie. Das hat Folgen für den politischen Raum: Arme gehen seltener wählen und sind in den Parlamenten so gut wie nicht repräsentiert.

Weil der Staat die Reichen schont, wachsen die Privatvermögen. Gleichzeitig wurden die Spielräume für die öffentliche Hand geringer. Die Folge: Öffentliche Leistungen werden abgebaut. Darauf sind Menschen mit wenig Geld aber angewiesen. Reiche können sich kaufen, was sie brauchen. Müssen Lehrmittel von Eltern bezahlt werden, ficht das Wohlhabende nicht an, auch die Schließung der Bücherei um die Ecke nicht. Für Eltern mit wenig Geld ist das ein Problem. Wenn Reiche mehr Steuern zahlen, haben Arme nichts davon, heißt es oft. Das stimmt nicht, wenn die Einnahmen zur Bekämpfung der Armut verwendet werden: zum Beispiel für eine Kindergrundsicherung, kostenloses Schul­essen, eine tragende Ausbildungsförderung, eine auskömmliche Mindestrente oder Sozialwohnungen.

Immerhin: Die soziale Ungleichheit wird keineswegs einfach hingenommen. Vertreter:innen von Sozialverbänden, Kirchen, Nichtregierungsorganisationen und auch Parteien mahnen immer wieder, etwas dagegen zu unternehmen. An Vorschlägen mangelt es nicht. Aber sie werden im öffentlichen Diskurs mit zwei Narrativen gekontert, die Veränderungen auch für die schwer machen, die sie etwa in der Bundesregierung durchsetzen wollen: der Neid und die Gießkanne.

Neid und Gießkanne

Ob höhere Steuern und Abgaben, die Streichung des Dienstwagenprivilegs oder eine Reform der Erbschaftssteuer – sollen Reiche mehr zahlen, kommt postwendend der Neid-Vorwurf. Das ist eine so simple wie immer wieder erfolgreiche Ebenenverschiebung: Maßnahmen gegen soziale Ungleichgewichte zu einer Frage der Missgunst umzudeuten, entzieht der Forderung die Legitimität und verkehrt die ethischen Vorzeichen. Nicht die Ungerechtigkeit ist damit das Problem, sondern die Haltung der angeblich neidischen Personengruppe. So wird verhindert, dass Reiche etwas abgeben müssen.

Dass Arme etwas bekommen, wird gerne mit dem Argument der „Gießkanne“ abgewehrt: Weil auch Reiche profitieren würden, sollen auch Arme nichts bekommen. Gegen die Forderung nach einer Mindestrente für alle zum Beispiel wird gewohnheitsmäßig vorgebracht, dass davon ja auch die Zahnarztgattin etwas hätte. Der zurzeit diskutierte Gaspreisdeckel wird mit dem Argument zurückgewiesen, er nutze allen. Das ist ein schlimmes Paradox – weil die einen zu viel haben, sollen die anderen nichts bekommen.

Für Umverteilung ist Sozialpolitik nicht das richtige Feld, die muss auf dem Gebiet der Abgaben- und Steuerpolitik erfolgen. Aber weil das nicht passiert, bleibt Bert Brechts Dichtung wahr: „Reicher Mann und armer Mann / standen da und sah’n sich an. / Und der Arme sagte bleich: / Wär’ ich nicht arm, wärst du nicht reich.“

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