Ein Sessel in Tübingen
Unser Onlinekolumnist Christoph Markschies lässt sich wenige Stunden vor dem Jahreswechsel durch das Bildnis eines Ledersessels in der der Tübinger Theologiebuchhandlung inspirieren, die Gedanken schweifen zu lassen. Schweifen wir mit ihm, es lohnt sich …
Zum Jahreswechsel gehört der Rückblick auf ein Jahr, dem nur noch wenige Stunden bevorstehen. Im Fernsehen, in den Zeitungen, in Social Media: Jahresrückblicke. Und seit vielen Jahren gibt es einen Jahresrückblick auch bei meiner Frau und mir selbst, in besonderer Form: Wir gehen zusammen am Altjahresabend unsere Kalender durch, erinnern uns an schöne und weniger schöne Dinge, an gelungene und misslungene Aktivitäten. Abwechselnd lesen wir uns die Termine vor und erzählen, was uns zu dem Ereignis aus dem Rückblick bemerkenswert erscheint.
Gelegentlich war so viel passiert oder zu kommentieren, dass wir für den großen Moment um Mitternacht kurz unterbrachen, miteinander auf ein glückliches und gesundes Neues Jahr anstießen und dann im neuen Jahr wieder einen Anlauf mit den Terminen vom Sommer des abgelaufenen Jahres nahmen. Inzwischen beginnen wir gern auch früher. Denn es dauert, sich gründlich an ein Jahr zu erinnern.
Am Ende dieses zweiten Pandemie-Jahres 2021 begann das Erinnern früher und anders als sonst. Und das lag an Social Media. Eine Kollegin aus Tübinger Assistententagen hatte auf Facebook und Twitter ein Detailbild aus einer Buchhandlung gepostet. Neugierig vergrößerte ich das Bild auf dem Handy: Einfache helle Holzregale aus der theologischen Abteilung einer Tübinger Buchhandlung, manche Titel darunter, die ich über das Jahr gekauft oder geschenkt bekommen habe, eine großartige Lessing-Monographie eines jungen Münchener Wissenschaftlers, eine schon etwas ältere, aber äußerst schwungvoll geschriebene Kulturgeschichte des Christentums aus der Feder eines Münchener Kollegen, eine im Rahmen einer berühmten englischen Vorlesungsreihe im Gespräch mit der Philosophie und den Naturwissenschaften entwickelte Anthropologie eines Heidelberger Kollegen – glückliche Erinnerungen an das Lesejahr 2021: Die Pandemie hinderte Menschen meiner Profession am Reisen zu Tagungen und Kongressen, aber verschaffte einem Zeit, zu Hause in Ruhe zu lesen.
Details nie aufgefallen
Auf dem Bild aus der theologischen Abteilung der Tübinger Buchhandlung sind aber nicht nur Neuerscheinungen und Klassiker zu sehen, sondern im Vordergrund auch ein niedriger Tisch, zwei Stühle und ein Sessel. Den Sessel kenne ich gut. Ich habe während meiner Tübinger Zeit als Student und Assistent immer wieder einmal darin gesessen und mich lesend so sehr auf die Bücher konzentriert, die auf dem kleinen Tisch davor lagen und in den Regalen darum herum standen, dass mir nie Details des Sessels aufgefallen sind. Zwar erinnere ich mich noch gut an das abgeschabte helle Leder, mit dem er nach wie vor bezogen ist, aber habe jetzt erst auf dem Foto die gedrechselten Details an der Lehne und an den Tischbeinen wahrgenommen. Eher stilvoller Neobarock als neue Sachlichkeit.
Zu meinen Studenten- und Assistententagen standen Tisch und Sessel in der Buchhandlung Gastl, die sich in einem Eckhaus gegenüber vom Chor der Stiftskirche befand. Pfleghofstraße 1, um genau zu sein. Die Buchhandlung nahm zunächst fast das ganze Haus ein, zur Theologieabteilung mit Sessel und Tisch gelangte man über eine enge Stiege und in der Etage darüber existierte anfangs noch ein sehr kleines Antiquariat, das mit den großen Tübinger Geschäften nicht konkurrieren konnte und wollte. Die berühmte, 1999 gestorbene Buchhändlerin Julie Gastl habe ich selbst nicht mehr in ihrem Geschäft getroffen, ebenso wenig wie Ernst Bloch oder Hans Mayer.
Von Frau Gastl, die 1949 mit ihren eigenen Büchern ihr Geschäft begann und stets Wert darauf legte, als Fräulein Gastl angesprochen zu werden, erzählte meine Schwiegermutter, so dass ich wusste, wer vor mir stand, als ich sie erstmals bei Eberhard Jüngel in Person traf. Und von Bloch und Mayer erzählten meine eigenen Eltern, die in ihrem berühmten Leipziger Hörsaal gesessen hatten. Sitzen konnte man im nämlichen Sessel eigentlich kaum, weil zwar nicht mehr Gastl, Bloch oder Mayer vorbeikamen, aber man in dem kleinen Theologieraum immer wieder die eigenen akademischen Lehrer traf und natürlich die Mitstudierenden.
Damals nur eine Professorin
Ich schreibe bewusst „Lehrer“ – an der Theologischen Fakultät gab es damals nur eine Professorin, die meine Chefin in Assistententagen war und wenig Vergnügen an solchen Stehkonventen bei Gastl hatte. Wenn sich das kleine Eckzimmer mit der theologischen Abteilung füllte, erhob ich mich natürlich aus dem Sessel, legte die zur Einsicht bereitgelegten Neuerscheinungen beiseite und begann ein Gespräch über diese Bücher und was sich sonst als Gesprächsthema anbot.
Wenn ich die Buchauslagen auf dem Foto von 2021 mit den Büchern vergleiche, die meiner Erinnerung nach in dem Eckzimmer auslagen, dann fallen selbstverständlich viele Unterschiede auf. Zunächst einmal ist die Buchauslage viel kleiner als vor dreißig Jahren. Gastl in Tübingen ist es da auch nicht anders gegangen als Herder in Rom: Von den drei Etagen fielen erst die oberste mit dem Antiquariat, dann die zweite und schließlich die dritte fort, beide Buchhandlungen verkleinerten erst radikal ihre Verkaufsfläche und gaben dann ihr angestammtes Geschäft zugunsten kleinerer und preiswerterer Räumlichkeiten auf.
Die Art, in der im Theologiestudium Information konsumiert und verarbeitet wird, hat sich verändert und das Leseverhalten des gebildeten Publikums auch. Heute fand sich nicht nur das Bild aus der Buchhandlung mit Sessel auf Twitter, sondern ein sehr geistreiches Gespräch zwischen jungen Theologinnen und Theologen über Inhalte theologischer Bibliotheken. Das hätte man vor dreißig Jahren wahrscheinlich bei Gastl geführt.
Natürlich liegen, soweit ich das erkennen kann, auch 2021 in der Auslage der Buchhandlung Gastl in Tübingen, die in diesem Jahr durch eine genossenschaftliche Initiative vor dem Konkurs gerettet wurde, noch Bücher der Verlage Herder, Mohr-Siebeck und Vandenhoeck. Aber die Auslage hat sich erkennbar pluralisiert. Im Vordergrund erkennt man auf dem Tisch ein Buch des französischen Dekonstruktivisten Jean Luc Nancy – und solche Bücher hätten vor dreißig Jahren nicht im theologischen Eckzimmer bei Gastl gelegen.
Sehr deutsche Universitätstheologie
Natürlich hätte man auch zu Beginn der 1990er-Jahre schon Publikationen entsprechender französischer Philosophen auslegen können, neben den Originalveröffentlichungen auch die Übersetzungen, mit denen einige kleinere Verlage in den Markt drängten. Aber damals war die deutsche Universitätstheologie noch sehr deutsch und sehr in Schulen parzelliert, die wenig Neugier auf das in ihren Augen allzu anarchische Denken vom Pariser Boulevard Saint Germain hatten. Ob Nancy auf dem kleinen neobarocken Tisch vor dem Sessel liegt, weil er im zu Ende gehenden Jahr gestorben ist? Oder soll er inzwischen von Tübinger Theologiestudierenden gelesen werden?
Mir geht es, während ich diese Zeilen schreibe, so, als ob ich noch einmal im Sessel in der Tübinger Buchhandlung sitze. Und immer wieder stehe ich in Gedanken auf, weil Menschen vorbeikommen, die nicht nur das zuende gehende Jahr 2021 geprägt haben, sondern auch die Jahre zuvor. Von manchen musste ich in den vergangenen Jahren Abschied nehmen und sie leben nur noch in der Erinnerung.
Zuletzt sind die Systematiker Eberhard Jüngel und der praktische Theologe Dietrich Rössler gegangen. Mit Jüngel konnte man geistreich über Mörike-Gedichte parlieren und mit Rössler, der zugleich Arzt war, über Homer. Aber wenn ich an solche Tübinger Gespräche in der Theologieabteilung von Gastl und anderswo denke, befällt mich weder Melancholie noch Enttäuschung. Im Gegenteil: Die Erinnerung macht mich dankbar. Und lässt mich für 2022 hoffen.
Besser später als nie!
Ich bin nicht enttäuscht darüber, dass ich Nancy nicht als Tübinger Student und Assistent kennengelernt habe, sondern erst Jahre später. Auch im neuen Jahr wird es Menschen und Veröffentlichungen zu entdecken geben, die ich schon längst hätte kennenlernen sollen. Besser später als nie. Und ich bin auch nicht melancholisch darüber, dass meine einstigen Gesprächspartner für Mörike und Homer nicht mehr zur Verfügung stehen. Eine außerordentlich spannende junge Generation wächst in meinem Fach heran, die nicht mehr in den Schützengräben ihrer akademischen Lehrer liegt, sondern munter und gemeinsam etwas Neues denkt, beispielsweise zu digitaler Theologie.
Ob ich im nächsten Jahr wieder einmal in dem Tübinger Ledersessel sitzen werde? Ob die Pandemie so abklingt, dass entsprechende Reisen von Berlin aus wieder leichter möglich sind? Oder ob ich mir weiter nur vorstelle, im Sessel zu sitzen? Wie auch immer: Es soll ein glückliches und gesundes Neues Jahr werden, voller Anregungen zu Mörike und Homer, zu digitaler Theologie, zu Konstruktion und Dekonstruktion und manchem Anderen, von dem wir heute noch gar nichts ahnen!
Christoph Markschies
Christoph Markschies ist Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Er lebt in Berlin.