Vulnerabilität als Kompetenz

Nika Höfler untersucht in ihrer Dissertation die Wirksamkeit von kirchlicher Krankenhausseelsorge
Nika Höfler
Foto: zeitzeichen

Jede medizinische Profession muss ihre Wirksamkeit nachweisen. Doch wie steht es um die kirchliche Krankenhaus­seelsorge? Nika Höfler (33) hat in ihrer Dissertation erstmalig mit wissen­schaftlichen Methoden empirisch nach­gewiesen, wie Krankenhausseelsorge wirkt.

Beheimatet bin ich in Franken in der bayerischen Landeskirche. Mein Lehrer Pfarrer Alfred Seiferlein hat es in der Schule geschafft, mich für Religion so zu begeistern, dass es mein Lieblingsfach wurde; er wurde später mein Ordinationspate. Nach der Schule habe ich zwar ein Studium der Kunstgeschichte in Würzburg begonnen, aber parallel schon evangelische Theologie studiert. Mit meinem Wechsel nach Neuendettelsau wurde aus mir eine Vollbluttheologin; es folgten Stationen in Tübingen, Leipzig und Halle/Saale, zum Examen ging ich zurück nach Neuendettelsau. Theologie habe ich von Anfang an studiert, um in die Wissenschaft zu gehen und nicht in den Gemeindedienst.

Ich war nie eine Praktikerin, aber immer eine Praktische Theologin, die Verbindung von Theorie und Praxis ist mir sehr wichtig. Beides braucht einander. Über mein Examen mit dem Schwerpunkt Trauer- und Trauertheorien kam ich zur Seelsorge und zu meinem Dissertationsthema, das die Wirksamkeit von Krankenhausseelsorge nachweisen wollte. So bin ich zu meinem Doktorvater Traugott Roser an den Lehrstuhl für Praktische Theologie nach Münster gewechselt. Schließlich befasst man sich drei bis fünf Jahre mit dem Thema. Und ich wollte kein Buch veröffentlichen, das in den Regalen der Bibliotheken in Deutschland verstaubt und das niemand liest, sondern mein Ziel war, etwas Sinnvolles beizutragen, an das andere Leute anknüpfen können.

In dem Münsteraner „Forschungsprojekt Krankenhausseelsorge“, begleitet auch von einem wissenschaftlichen Beirat aus Mitgliedern der beiden Landeskirchen aus Wissenschaft und Praxis, habe ich einen guten Bezug zur Realität gesehen. Denn es ging darum, die Notwendigkeit von Krankenhausseelsorge nach außen hin sichtbar zu machen. Auch mit dem Ziel, dass die Zukunft von Seelsorge allgemein und von Krankenhausseelsorge im Speziellen, in welcher Weise auch immer, langfristig gesichert werden muss. In dem Kooperationsprojekt mit der rheinischen und der westfälischen Landeskirche sollte nachgewiesen werden, wie Seelsorge wirkt. Die Grundannahme war, dass sie wirkt. Ich wollte aber zeigen, was es ist, das wirkt, wie man damit umgeht und was es für die Zukunft der Kranken­hausseelsorge, wie sie heute aufgestellt und organisiert ist, bedeutet. In dem dreiphasig aufgebauten Projekt habe ich rein qualitativ gearbeitet; diese Ergebnisse wurden anschließend von meinem Nachfolger in eine Statistik gebracht. Qualitative Forschung betreiben heißt, die Sichtweisen der Praktizierenden und die der Empfäng­er:innen von Seelsorge herauszuarbeiten. Was berührt die Menschen? Was verursacht eine Veränderung? Was verursacht einen (re-)turning point in der seelsorglichen Begleitung? Die Seelsorgenden der landeskirchlichen Konvente wurden gebeten, mir Fallberichte einzureichen, Berichte aus ihrer Praxis, von einzelnen Begegnungen oder auch von jahrelanger Begleitung, und diese nach einem von mir genutztem Schema niederzuschreiben. Dabei ging es darum, wo sie selbst bei sich oder bei den Empfänger:innen von Seelsorge Veränderungen wahrgenommen haben, im Gegenüber oder in den Strukturen, der Institution. Das habe ich ausgewertet. In einer zweiten Phase habe ich mit Patient:innen, Angehörigen, Personal im Krankenhaus, also mit Empfänger:innen von Seelsorge, narrative Interviews geführt und ausgewertet. Selbstverständlich alles streng anonymisiert. Diese Ergebnisse münden in mein Fazit: Die Vulnerabilitätskompetenz ist das den Seelsorgenden Eigene für ihre Profession, sie ist auch nur bei dieser Personen- und Berufsgruppe in breiter Wirksamkeit vorhanden. Vulnerabilität als solche, also als Grundphänomen allen menschlichen Seins, ist bei allen zu finden, also Seelsorgenden, Gegenüber und der Institution als organisatorisches Gebilde und Struktur. Ich benutze bewusst den Begriff der Vulnerabilität und nicht den der Verletzlichkeit. Denn ersterer beinhaltet umfassend sowohl die Fähigkeit, verletzt zu werden, sich selbst verletzbar zu machen und andere zu verletzen, aber ebenfalls eine gewisse Durchlässigkeit und eine Sensibilität für die Vulnerabilität des anderen. Das heißt, die Verletzlichkeit des Gegenübers physisch, psychisch, sozial und spirituell wahrzunehmen und damit umzugehen. Diese Kompetenz ist der kirchlichen Seelsorge eigen. Wir haben so mit wissenschaftlichen Methoden empirisch nachgewiesen, dass Krankenhausseelsorge wirkt und vor allem, was es ist, das wirkt. Auch gesundheitspolitisch ist das bedeutsam, denn schließlich muss jede medizinische Profession ihre Wirksamkeit nachweisen. Seelsorge ist anders als die Arbeit der anderen Berufsgruppen, sie birgt eine religiöse, spirituelle und kirchliche Komponente. Meine These ist, dass sich die Vulnerabilitäts-Kompetenz auf alle Seelsorgebereiche ausdehnen, ja übertragen lässt.

Was mich an der Untersuchung tatsächlich überrascht hat, war, dass die kirchliche, nicht nur die spirituelle und religiöse Komponente der Krankenhausseelsorge so wichtig war. Die Theolog:innen, die im Rheinland und in Westfalen Krankenhausseelsorge betreiben, sind alle ausgebildete Pfarrpersonen. Und wenn das nach außen kommuniziert wird, macht es einen Unterschied. Das Gegenüber reagiert und muss sich zwangsläufig zu dem Berufsbild Pfarrerin und Pfarrer verhalten. Da wir überwiegend ältere Personen interviewt haben, spielen die religiösen Traditionen natürlich eine andere Rolle als in meiner Generation. Das ist eine Einschränkung. Nach der Abgabe der Dissertation bin ich ins Vikariat, habe sie verteidigt und 2022 veröffentlicht. Seit März arbeite ich nun auf meiner ersten Pfarrstelle, einer theologischen Projekt- und Forschungsstelle. Für insgesamt dreieinhalb Jahre wirke ich als Beauftragte für Spiritual Care der bayerischen Landeskirche, kann also an die Forschungen meiner Dissertation anknüpfen. Meine Aufgabe ist es, Spiritual Care in der Landeskirche zu implementieren. Dazu besuche ich die Kliniken vor allem hier in München, halte Kontakt zur Universität und arbeite sehr eng mit der Seelsorge und der Palliativstation der Klinik in Großhadern zusammen. Das ist einmalig im Bereich der EKD-Landeskirchen. Spiritual Care ist ein Gattungsbegriff, ein Modell. Krankenhausseelsorge ist ein Teil davon. Der Begriff kommt aus der Palliativ Care und verfolgt die Grundannahme, dass jeder Mensch auf einer physischen Ebene versorgt werden muss, aber auch psychische, soziale und spirituelle Bedürfnisse hat. Ziel muss es deshalb sein, einen Menschen ganzheitlich zu betreuen. Alle Berufsgruppen, die am Versorgungsprozess beteiligt sind, sollten dafür entsprechend geschult werden. Meine Dissertation und meine jetzige Berufstätigkeit zeigen: Seelsorge ist wirksam und für eine umfassende und ganzheitliche Versorgung der Patienten unverzichtbar. Deshalb ist sie förderungswürdig. Ob Kirchen oder Krankenhäuser, das muss erkannt werden. 

 

Aufgezeichnet von Kathrin Jütte

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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