Kreuz und Lynchbaum

Was ich als weißer Mann von der Black Theology gelernt habe
Pastor Marshall Hatch von der New Mount Pilgrim Church in Chicago vor dem MAAFA-Remembrance-Window.
Foto: Mark Peterson/Redux/laif
Pastor Marshall Hatch von der New Mount Pilgrim Church in Chicago vor dem MAAFA-Remembrance-Window.

Wie ein ungebetener Gast auf einer Veranstaltung, zu der er keine Einladung hat, fühlte sich zunächst Claus-Dieter Osthövener, Professor für Systematische Theologie in Marburg, als er sich mit James H. Cone und seiner Black Theology beschäftigte. Später entdeckte er, dass diese Theologie sehr viel mit ihm als weißen Mann aus Europa zu tun hat. Er habe dort die Menschheit neu kennengelernt.

Meine Beschäftigung mit der Black Theology reicht schon einige Jahre zurück, in eine Zeit, in der ich mich in Marburg intensiver als zuvor mit der außereuropäischen Theologie der Gegenwart zu befassen begann. Und so lasen wir im Seminar neben postkolonialen und prozesstheologischen Entwürfen oder Texten der „Radical Orthodoxy“ auch das mittlerweile zum Klassiker avancierte Buch von James H. Cone A Black Theology of Liberation. Eine in jeder Hinsicht prägende Erfahrung. Man las da zum Beispiel: „Molotow Cocktails in die Häuser von Weißen zu werfen ist keine Lösung“ – ja, klar, versteht sich. Aber dann ging es weiter: „… aber es ist ein Anfang“. – Moment. Hatte ich da gerade einen eher unverblümten Aufruf zur Gewalt gegen Menschen in einem theologischen Buch gelesen?

Engagiert und erbaulich

Erst allmählich, und immer wieder unterstützt durch solche Irritationen meines im Rückblick noch immer recht bräsigen theologischen Selbstverständnisses, haben wir im Seminar realisiert, dass hier keine der sonst üblichen theologischen Erörterungen vorlag, in fußnotengepanzerter Distanz zu jedem Überschwang. Hier handelte es sich um engagierte Theologie in einem sehr emphatischen Sinne. Hier wollte jemand etwas und vor allem: Hier war jemand sehr wütend.

Das Buch erschien 1970. Die Ermordungen von Malcolm X und Martin Luther King lagen sozusagen noch in der Luft, und diese Luft brannte. Die jahrhundertelange bestialische Ausbeutung, Unterdrückung, Verstümmelung und Ermordung schwarzer Menschen schien im 20. Jahrhundert überwunden werden zu können, ein im Geiste des Evangeliums oder des Humanismus neu gestaltetes Miteinander schien möglich zu werden. Doch immer noch war die Segregation, die „Rassentrennung“, eine bedrückende Tatsache. Und nirgends zeigt sich in den USA diese Segregation so klar wie am Sonntagvormittag, wenn die Kirchenglocken läuten.

Genau hier setzt James H. Cone an. Es geht zuallererst einmal darum, die Black Community zu stärken, ja sie als Gemeinschaft überhaupt auf den Weg zu bringen. Das ist der Hintergrund des Buches, darin liegt sein Engagement. Die Black Theology ist nämlich nicht zuletzt eine erbauliche Theologie im wörtlichen Sinne. Sie will eine Gemeinschaft, die Black Community, ermöglichen, aufbauen, stärken für eine Welt voller Hass, voller weißer Überlegenheitsfantasien, voller Angst vor dem Kontakt mit „anderen“ Menschen, deren Andersheit gewaltig (und gewalttätig) dämonisiert wurde.

Marginalisierte Theologie

In der akademischen deutschen Theologie haben wir wenig Erfahrung mit einer in diesem Sinne engagierten und erbaulichen Theologie. Strukturell ähnliche Theologien wie die feministische Theologie oder die Befreiungstheologie sind nie bis ins Zen­trum theologischen Nachdenkens vorgedrungen, sondern wurden erfolgreich als Nischentheologie oder (was faktisch das Gleiche ist) als Kontextuelle Theologie marginalisiert. Hier stellte sich gleich die nächste Frage: War das denn überhaupt „mein“ Kontext? Wenn sich Cone an die tatsächliche oder auch an die künftige Black Community richtet, dann war ich als weißer Mitteleuropäer ja schon einmal nicht gemeint. Fast kam ich mir vor wie ein ungebetener Gast auf einer Veranstaltung, auf der er nichts zu suchen hat und jedenfalls nicht eingeladen war. Doch wie zumeist in solchen Fragen ist es um einiges komplizierter. Denn natürlich hat auch James H. Cone über dieses Problem nachgedacht und ist zu dem Ergebnis gelangt, dass es immerhin nicht schaden könnte, wenn auch weiße Menschen diese schwarze Befreiungstheologie zur Kenntnis nehmen.

So habe ich in den folgenden Jahren immer wieder Texte der Black Theology (oder auch der Womanist Theology, der schwarzen feministischen Theologie) gelesen und in die akademische Lehre eingebunden – bis hin zu einem eigenen Seminar über Theologie und Rassismus, in dem wir ausschließlich Entwürfe dieser Art studiert und diskutiert haben. Was also gibt es da zu lernen? Wie kann die deutsche akademische Theologie reicher, weiter und integrativer werden durch die Beschäftigung mit der Black Theology? Und wie hat sich meine eigene Sicht auf die Welt und meinen Glauben durch dieses Nachdenken verändert?

Nun hat zunächst einmal die Existenz schwarzer Gemeinden in den USA historisch einen entschieden europäischen Hintergrund. Denn durch nichts wurde die Globalgeschichte der vergangenen sechs Jahrhunderte so sehr geprägt wie durch die europäische Expansion. Die „nachkoloniale“ Zeit, in der wir leben, ist von dieser Geschichte der Kolonisierung immer noch an allen Ecken und Enden durchwoben. Das Stichwort „postkolonial“ steht insofern nicht in erster Linie für eine komplizierte Theorienlandschaft (oder gar für identitätspolitische Eindeutigkeiten), sondern für diesen schlichten (wenngleich komplexen) historischen Sachverhalt.

Man kann sich das an einem symbolträchtigen Datum deutlich machen: 1492. Dass in diesem Jahr die später so genannten Amerikas „entdeckt“ wurden, dürfte bekannt sein. Aber in diesem Jahr fand auch die Reconquista statt, die endgültige Befreiung der iberischen Halbinsel von der muslimischen Herrschaft. Und es wurden in diesem Jahr alle Jüdinnen und Juden von dort vertrieben. Europa konsolidierte sich – als „christliches Abendland“ – durch die radikale Fremdsetzung nach außen (mit Überlegenheitsfantasien gegenüber anderen „Rassen“) und nach innen (mit christlichen Überlegenheitsfantasien gegenüber dem Judentum). Der Rassismus wurde in den ersten Jahrhunderten vor allem außerhalb Europas wirksam, in den genozidalen Besiedlungen der Amerikas, im Sklavenhandel über den „Black Atlantic“, in der Unterwerfung asiatischer Kulturen. Der Antisemitismus wiederum war eine dauernde und oftmals ebenfalls gewalttätige Abgrenzung nach innen, mit den bekannten katastrophischen Folgen im vergangenen Jahrhundert.

Tragische Geschichte

All dies geschah nun nicht zuletzt mit tatkräftiger ideologischer Unterstützung der Kirchen und ihrer Theologien, gleichviel ob katholisch oder protestantisch. Zwar erweckt die Theologie gegenwärtig gerne den Eindruck, bei der Geburt der Menschenrechte als gute Fee an der Wiege gestanden zu haben (Stichwort: Gottebenbildlichkeit), tatsächlich aber hat es bis weit ins 20. Jahrhundert gedauert, bis sich diese Idee im europäischen Christentum halbwegs heimisch machen konnte. Noch in der Bezeichnung der Black Theology als kontextuelle Theologie verbirgt sich die skurrile Idee, selber die (kontextfreie) Norm zu verkörpern – am Ende auch ein Fall von White Supremacy. Das umfassendste und zugleich tiefschürfendste Buch zu diesem Themenfeld hat J. Kameron Carter 2008 geschrieben Race, A Theological Account.

Es gehört nun zu den bewundernswerten Zügen der zutiefst tragischen Geschichte des schwarzen Amerikas, in dieser oftmals ausweglosen Situation eine eigene Identität, eine eigene Kultur und eine eigene Ausprägung des christlichen Glaubens entwickelt zu haben. Eine solche Situation war den obrigkeitsgestützten europäischen Kirchen weitgehend unbekannt, seit das junge christliche Startup vom römischen Imperium geschluckt wurde (also seit dem 4. Jahrhundert). Diese privilegierte Situation ändert sich nun allmählich. Weltweit ist das europäische Christentum schon länger eine Minderheit, und auch in Mitteleuropa richtet man sich auf eine eher bescheidene Rolle in den hiesigen Gesellschaften ein. Statt also üppigen Staatsleistungen nachzutrauern, wäre es hilfreich zu lernen, wie man mit weniger als nichts blühende Gemeinden aufbauen kann.

Was genau lerne ich also nun von der Black Theology? Natürlich lerne ich viel (indirekt) über Blackness, aber ich lerne ebenfalls viel (direkt) über Whiteness, nämlich über mich selbst. In Deutschland haben wir viel gelernt durch den Versuch, eine Theologie nach Auschwitz möglich zu machen, wir haben über Schuld und Verantwortung nachgedacht. All das war und ist schwer und bedrückend. Schwer und bedrückend ist es auch, über die Schuld und Verantwortung Europas im Blick auf Menschen nachzudenken, die wir jahrhundertelang als „anders“ markiert haben, mit erheblichen, mitunter brutalen Folgen. Die spätmittelalterliche Passionsfrömmigkeit hat viel Wert darauf gelegt, die eigene Beteiligung an der Passion Christi spirituell zu vergegenwärtigen (man erinnert sich vielleicht an Bachs Passionsmusik „Wer hat Dich so geschlagen?“). Zu einer entsprechenden Einkehr und Umkehr (Buße, im Wortsinn) führt auch die Beschäftigung mit dieser historischen Erblast („Was ihr getan habt einem von diesen Geringsten …“).

Eine Art Vision

Ein Beispiel möge für viele stehen. Im Seminar lasen wir das Buch Enfleshing Freedom der katholischen Theologin M. Shawn Copeland (es ist kürzlich in einer überarbeiteten zweiten Auflage erschienen). Es geht um „Body, Race, and Being“, wie der Untertitel lautet, also offenbar, wie häufig in der Systematischen Theologie, um alles – aber eben nicht um alles im Allgemeinen. Sondern es ging um sehr konkrete, häufig genug nahezu unerträglich konkrete Vergegenwärtigungen der körperlichen Leidensgeschichte Schwarzer Menschen zur Zeit der Sklaverei und danach (denn man sollte nicht vergessen, dass die abgründige Praxis der Lynchmorde lange nach formeller Abschaffung der Sklaverei ihren Höhepunkt erreichte). Das Buch mündet in eine Theologie der Eucharistie (die Anwendung auf das Abendmahl macht sich im ökumenischen Geiste fast von selbst). Und hier, in dieser heiligsten Zeremonie fällt auf den Tisch des Herrn nicht nur der Schatten des Kreuzes, sondern auch der tiefe Schlagschatten des Lynchbaums. Es ist in wenigen Worten gar nicht zu sagen, wie eindrücklich und bewegend dieses Ineinanderschauen der Leidensgeschichte Christi, der Leidensgeschichte seiner versklavten und geschundenen Brüder und Schwestern mit der Versammlung um den Tisch des Herrn geraten ist. Man muss es selber lesen und auf sich wirken lassen. Im Seminar war es sehr still, sehr konzentriert, alle waren sich bewusst, dass es um gewichtige Probleme ging.

Der „Kontext“ einer solchen Theologie ist kein abgezirkelter Bereich, den man betreten könnte oder auch nicht, den man beachten oder aber ignorieren kann, um dann in seinem eigenen „Kontext“ das zu tun, was man immer schon tat. Dieser Kontext ist in einem sehr konkreten Sinne universal, so universal zumindest wie „die Menschheit“, ein Gedanke, der sich ja oft genug ins Luftige und Unverbindliche verflüchtigt. Nicht hier, nicht in der Black Theology. Ich lerne dort „die Menschheit“ neu kennen, in ihren Abgründen und in ihrem den bedrückendsten Umständen abgerungenen Stolz, in ihrer unbändigen Freude und in ihrem dumpfen Hass. Und inmitten dieser Gegensätze und Spannungen zeigt sich dann doch als eine Art Vision die Idee einer vielfältigen und zugleich solidarischen, im emphatischen Sinne „weltbürgerlichen“ Gemeinschaft aller Menschen.

Ist also das Studium der Black Theology für eine derzeit tief verunsicherte akademische Theologie, die sich oft genug ängstlich an das Vertraute und Überkommene klammert, die Lösung? Wohl eher nicht. Aber es wäre ein Anfang. 

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