Rassismus im Semesterplan

Warum Schwarze Theologie an hiesigen Fakultäten wichtiger werden sollte
Das Sankofa Peace Window in der New Mount Pilgrim Church in Chicago: Es erinnert an vier junge Mädchen, die bei einem Bombenattentat 1963 in Birmingham/Alabama ums Leben kamen, und an weitere Opfer rassistischer Gewalt.
Foto: picture alliance/Chicago Tribune
Das Sankofa Peace Window in der New Mount Pilgrim Church in Chicago: Es erinnert an vier junge Mädchen, die bei einem Bombenattentat 1963 in Birmingham/Alabama ums Leben kamen, und an weitere Opfer rassistischer Gewalt.

Man kann in Deutschland Pfarrer:in werden, ohne sich mit Rassismus, Kritischem Weißsein und Intersektionalität auseinandersetzen zu müssen. Für Nathalie Eleyth, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für christliche Gesellschaftslehre der Universität Bochum, ist das ein Missstand, der überwunden werden muss. Denn Rassismus zeige sich auch darin, wem theologisch Raum gegeben werde.

In seiner Einleitung zur deutschen Ausgabe des Buches Schwarze Theologie. Eine christliche Interpretation der Black-Power-Bewegung von James H. Cone schrieb Frederick Herzog im Jahr 1970: „Es geht um Dinge, die z. Zt. noch kaum in einem deutschen Vorlesungssaal oder in einer Pfarrbruderschaft verhandelt werden.“ Herzog stellt sodann die Frage, ob Black Power auch in Deutschland theologisch relevant werden kann. In einer Ausgabe der Zeitschrift Evangelische Theologie 1974 sieht Jürgen Moltmann in der Schwarzen Befreiungstheologie einen „eye-opener“ und eine „Einladung zur Befreiung von den Fesseln weißer bürgerlicher Religion zur Freiheit Christi“, und auch Helmut Gollwitzer unterstreicht die unbedingte Relevanz Schwarzer Theologie, die den Theologen zur Frage anregt, „inwieweit seine Theologie und ihre Tradition vielleicht nur Ausdruck seiner Welt, einer Welt der herrschenden Rasse, gewesen ist“.

50 Jahre später lässt sich ernüchtert feststellen: Black Power wurde in Deutschland theologisch nicht relevant. Die Realität der destruktiven Unterdrückungserfahrungen rassistisch diskreditierbarer Menschen im Licht des Evangeliums und die theologische Kritik weißer Vorherrschaft – die zentralen Anliegen Schwarzer Theologien – sind in Deutschland bis dato nicht angemessen reflektiert worden. Rassismuskritische Theologie konnte sich bislang in Deutschland nicht etablieren, und Theologiestudierende können ihr Studium absolvieren, ohne sich mit Rassismus, Kritischem Weißsein und Intersektionalität auseinandersetzen zu müssen.

Dies ist gleichzeitig irritierend und erklärbar: Irritierend ist die Ausblendung rassismuskritischer Diskurse in der Theologie, weil Rassismus im postkolonialen und postnationalsozialistischen Deutschland ein Strukturierungsmerkmal der Gesellschaft ist, rassismusfreie Räume nicht existieren und Menschen of Color alltäglich Ausschluss- und Entrechtungserfahrungen machen. Erklärbar sind die unterkomplexe theologische Verhandlung von Rassismus und die epistemische Marginalisierung der Erkenntnisprivilegien von Menschen of Color, weil Theologie und Kirche in Deutschland dominant weiße Räume bilden und Teil der weißen Dominanzkultur sind, in der die Verleugnung, strategische Bagatellisierung oder auch Externalisierung von Rassismus normalisiert sind. 

James H. Cone (1938–2018) war zwar nicht der Namensgeber der Schwarzen Theologie, jedoch mit seinem Buch Black Power and Black Theology (1969) der erste, der die Bezeichnung im Kontext eines theologischen Entwurfs verwandte. Ziel der Schwarzen Theologie ist, unterdrückten Schwarzen Menschen die befreiende Kraft des Evangeliums aufzuzeigen und ein neues Verständnis Schwarzer Würde zu schaffen. Cones Befreiungstheologie will als kontextuelle Theologie aber nicht nur abstrakt über Schwarze Erfahrungen reflektieren, sondern zielt als revolutionäre Theologie auf die Vernichtung unterdrückerischer Rechts- und Sozialordnungen ab. Dabei betont sie die Befreiungsperspektive der biblischen Botschaft, die Parteilichkeit Gottes und Gottes Solidarität mit den Unterdrückten.

Rassistische Machtverhältnisse

Mit der Konzeption Schwarzer Theologie verband sich eine radikale Anklage weißer Theologie und der weißen Kirchen angesichts ihrer Verstrickungen in rassistische Machtverhältnisse. „Wo Christus ist, da ist die Kirche. Christus ist – wie immer – dort zu finden, wo Menschen geknechtet und niedergetreten sind; Christus ist zu finden, wo er mit den Leidenden leidet; Christus ist im Getto – und dort ist auch seine Kirche. […] Wir müssen uns deshalb daran erinnern lassen, daß Christus nicht auf einem Altar zwischen zwei Kerzen gekreuzigt wurde, sondern an einem Kreuz zwischen zwei Dieben. Er ist nicht in unseren friedlichen, stillen, komfortablen Vorstadt-‚Kirchen‘, sondern im Getto, wo er den Rassismus der kirchlichen weißen Leute bekämpft“ (Cone, Schwarze Theologie, 77).

Weiße Theologie sei Theologie der privilegierten Klassen und spiegele auch das Bewusstsein dieser Klassen wieder. Sie ignoriere das Herrschaftssystem des Rassismus oder nutze Eschatologie zur Vertröstung Schwarzer Menschen bei gleichzeitiger Abwehr gesellschaftlicher Forderungen nach Anerkennung und Gleichberechtigung. Weiße Christ*innen maßen sich darüber hinaus an, Schwarzen Menschen Gewaltlosigkeit als einzig christliche Antwort auf erlebte Rassismuserfahrungen vorzugeben, wobei sie selbst nicht in der Lage sind, die Gewalt des von ihnen geschaffenen ungerechten Systems als solche wahrzunehmen. Schwarze Theologie sei als Einladung an weiße Theologie zu verstehen, „ihre glänzenden Monologe über irreale Probleme zu unterbrechen und sich den heutigen Fragen des Handelns Gottes in der Gegenwart zu stellen“ (C. Eric Lincoln).

Die „akademischen Turnübungen“ weißer Theologie und ihre Ignoranz gegenüber alltäglichen Entrechtungserfahrungen Schwarzer Menschen waren auch zentraler Kritikpunkt der Schwarzen Theologie Südafrikas, die sich im Zuge der Black-Consciousness-Bewegung Ende der 1960er-Jahre formierte. Hinsichtlich des Vorwurfs, Schwarze Theologie könne es genauso wenig geben wie Schwarze Mathematik oder Schwarze Chemie, stellte der frühere Erzbischof von Kapstadt und Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu (1931–2021) klar, dass das Attribut „Schwarz“ darauf verweise, dass Schwarze Menschen nicht länger Objekte, sondern Subjekte der Theologie sind. Zudem sei der Begriff „Schwarz“ in der Vorstellungswelt häufig negativ konnotiert (Schwarz als Farbe des Teufels oder des Todes) und solle durch die bewusste Aneignung positiv besetzt werden und die Würde und Identität Schwarzer Menschen hervorheben.

Redlicherweise kann aktuell von Schwarzer Theologie nicht im Singular gesprochen werden. Verschiedene Schwarze Theologien haben sich in den vergangenen Jahrzehnten vor allem im angloamerikanischen Raum ausdifferenziert. Die Womanistische Theologie stellt dabei die Glaubenserfahrungen Schwarzer Frauen und ihre Interpretationen christlicher Wirklichkeit ins Zentrum und entstand in bewusster Abgrenzung zum (Hetero-)Sexismus Schwarzer männlicher Theologen und dem Rassismus weißer Feministinnen. Als intersektional sensible Theologie macht sie auf die Verwobenheit von race, class und gender aufmerksam. In diesem Zusammenhang prägte Delores Williams (1937–2022) den Begriff des „Dämonarchats“: Die Patriarchatskritik weißer Feministinnen ging vielfach mit rassistischen, bürgerlich-elitären Positionen einher, die ein Bündnis von Schwarzen und weißen Frauen verunmöglichten. Gleichzeitig war die Schwarz-weibliche Patriarchatskritik angesichts sexistisch strukturierter Schwarzer Institutionen wie der Schwarzen Kirche und weiß-männlicher Vorherrschaft notwendig. Weiße Männer und weiße Frauen üben ergo komplizenhaft eine „dämonische“ Herrschaft über Schwarze Frauen aus, die sich in unterschiedlichen Machtinstrumenten zeigen kann (sexualisierte Gewalt, Ausbeutung der reproduktiven Fähigkeiten und der Arbeitskraft, Limitierungen im Arbeitsmarkt et cetera.).

Aus dem Raum der Schwarzen Theologien kommen profunde, rassismusreflektierte Analysen, beispielsweise zu Bibelhermeneutik, Kreuzestheologie, dem Verhältnis von Staat und Kirche, körperlicher Selbstbestimmung und ökologischer Gerechtigkeit, die die Theologien aus den weißen Machträumen herausfordern und sie aus der theologischen Selbstgenügsamkeit holen. Sie beanspruchen ihren Platz im Diskurs und wollen weder als optionale „Add-on-Theologie“ gelten noch im Rahmen eines „theologischen Tourismus“ (Robert Schreiter) erkundet werden, um der eigenen Forschung einen diversifizierten Anstrich zu verleihen (dazu auch: Claudia Jahnel, Interkulturelle Theologie im Horizont der Pfingstkirchen: Herausforderungen und Potenziale).

Die Notwendigkeit Schwarzer Theologie in Deutschland ergibt sich vor allem durch die Realität der superdiversen, aber keineswegs post-rassistischen Gesellschaft. Alle Menschen, die in Deutschland aufgewachsen sind, sind rassistisch sozialisiert – ob sie dies anerkennen oder nicht. Rassismus ist in unseren Wissensarchiven, unserer Sprache, in der Alltags- und Hochkultur, der Sozialstruktur und allen gesellschaftlichen Teilbereichen vom Bildungssystem über das Gesundheitssystem bis hin zum Wohn- und Arbeitsmarkt.

Schwerwiegende Anklage

In Deutschland dienen vielfältige Entzugs- und Verleugnungsstrategien dazu, die Normalität des Rassismus als gesellschaftliches Ordnungsprinzip zu negieren und ihn als Ausnahmeerscheinung oder Randphänomen darzustellen. Insbesondere im kirchlich-theologischen Raum begegnet die Vorstellung, christlicher Glaube immunisiere vor Ideologien der Ungleichheit und rassistische Handlungen fänden als böse, absichtsvolle Taten hoch amoralischer Menschen mehrheitlich im rechtsextremen Raum statt. Aufgrund der engen diskursiven Verknüpfung von Rassismus und nationalsozialistischem Terrorregime ist ein Rassismusvorwurf in Deutschland eine schwerwiegende moralische Anklage, die die Identität weißer Menschen erschüttert. Daher reagieren sie mit Relativierung, empörter Verteidigung, Einschüchterung, Gegenbeschuldigungen und Gaslighting-Strategien, wenn sie auf (mikroaggressives) rassistisches Verhalten angesprochen werden oder weiße Privilegien und die strukturelle Etablierung von Rassismus thematisiert werden.

An theologischen Fakultäten in Deutschland ist Rassismuskritik kein Querschnittsthema der einzelnen Fachdisziplinen. Studierende werden mehrheitlich nicht dazu ausgebildet, rassistische Wissensbestände in der eigenen theologischen Tradition zu identifizieren oder auch rassismusrelevante Sachverhalte in außertheologischen Medien zu erkennen und anschließend zu dekonstruieren. Fehlt Rassismuskritik als Professionskompetenz in der theologischen Ausbildung, fehlt es Religionslehrer*innen, Pfarrer*innen, Seelsorger*innen et cetra an Sensibilität im Umgang mit Personen of Color im Rahmen ihrer Arbeit oder auch an Argumentations- und Widerstandsstrategien angesichts rassistischer Angriffe oder rassistischer Positionierungen.

Empathielücken überwinden

Durch die Auseinandersetzung mit der Schwarzen Erfahrung (oder auch anderen Zeugnissen rassistisch diskreditierbarer Menschen) in der theologischen Ausbildung kann es gelingen, „Empathielücken“ zu überwinden, die theologische Reflexion stärker an die gelebte Realität zu binden und im Übrigen auch theologische Forschungsdesiderate zu Schwarzer deutscher Geschichte oder (antischwarzem) Rassismus in der deutschen Theologie zu überwinden. Profilierte Gesellschaftsanalysen sind ohne die Wahrnehmung von Rassismus nicht möglich, dies ist die wesentliche Erkenntnis der Schwarzen Theologien.

Schwarze Theologie geht von Schwarzen Menschen aus. Rassismuskritische Theologie ist nicht an eine spezifische race derjenigen gebunden, die sie betreiben. Gleichwohl ist evident, dass auch die biografische Erfahrungen von Theolog*innen die Fragen prägen, die sie wissenschaftlich verhandeln. Menschen mit Rassismuserfahrungen, Menschen, die aus dem Weißsein ausgeschlossen sind, formulieren aufgrund ihrer Erkenntnisprivilegien andere Fragen oder tragen mitunter andere Anliegen in die Theologie, da es ihnen leichter gelingt, aus dem white gaze herauszutreten. Ziel kann also nicht nur sein, die Auseinandersetzung mit Rassismuskritik nachhaltig in der akademischen Theologie zu verankern, sondern darüber hinaus auch die Präsenz von Wissenschaftler*innen of Color an den Fakultäten zu stärken.

Die Beschäftigung mit Schwarzen Theologien (und auch anderen Befreiungstheologien) darf nicht von der individuellen Interessenlage der Dozent*innen abhängen. Seminarpläne mit ausschließlich weiß positionierten Theolog*innen sind das Ergebnis von Rassismus. Reduktionistische Rassismusverständnisse gehen davon aus, dass sich Rassismus allein in verbalen oder physischen Gewalthandlungen oder Vernichtungsfantasien zeige. Rassismus zeigt sich ferner auch darin, wem wir theologisch Raum geben, wen wir ausschließen, wen wir rezipieren, wen wir als Standard ansehen und wen wir in der Bibliothek in die Abteilung der „Kontextuellen Theologien“ verschieben und dabei die Partikularität der eigenen nicht-markierten Theologie ignorieren.

Das Studium Schwarzer Theologien ist auch mit Distanz zu rassistischen „Jim-Crow-Gesetzgebungen“ in den USA im 19. und 20. Jahrhundert und Apartheidsregimen nicht anachronistisch, es bleibt relevant durch die daueraktuelle Frage nach der Befreiung von Unterdrückungssystemen. Es bleibt relevant durch die Zunahme von Christfluencer*innen mit rechter Agenda im digitalen Raum, die kirchlich-theologische Reflexionen zu sozialer Gerechtigkeit als nicht evangeliumsgemäße Ideologie disqualifizieren. Es bleibt relevant durch die Tatsache, dass Schwarze Theo­log*innen in Deutschland im digitalen Raum und im kirchlich-analogen Raum angegriffen werden. Es bleibt relevant, weil die Befragten des Afrozensus – der größten jemals durchgeführten Befragung unter Schwarzen, afrikanischen und afrodiasporischen Menschen in Deutschland – angegeben haben, dass die Kirche die Institution ist, der sie nach der Ausländerbehörde (aber noch vor der Polizei!) am wenigsten vertrauen. Gelingt es nicht, Rassismus ernsthaft theologisch zu adressieren, „das Christentum in Beziehung zu setzen zu dem Schmerz, der darin besteht, in einer weißen rassistischen Gesellschaft schwarz zu sein“, so formuliert Cone energisch, „dann ist das Christentum erledigt – in seiner perversen weißen Farbe ist es bedeutungslos“ (Cone, Schwarze Theologie, 128). 

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