Toxischer Cocktail

Wie eine menschenrechtssensible Theologie dem Antisemitismus in die Hände zu spielen droht
Israelfeindliches Graffito in Berlin-Neukölln, 2024
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Israelfeindliches Graffito auf einer Hauswand am Alfred-Scholz-Platz in Berlin-Neukölln, 2024.

Der neuzeitliche Judenhass, der nach dem 7. Oktober 2023 erneut weltweit kulminiert, habe sich ein besonders „infames Versteck“ gesucht, meint der Nürnberger Theologieprofessor Ralf Frisch und unterzieht vor diesem Hintergrund dieser These einige Entwürfe neuzeitlicher evangelischer Theologie einer kritischen Relektüre. Sein Fazit: Wir müssen uns nicht nur einem aufgeklärten Humanismus verpflichtet fühlen, sondern genauso der jüdisch-christlichen Bundesgeschichte Gottes.

„Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.“[1] So schrieb Theodor W. Adorno vor fast sechzig Jahren in seiner „Negativen Dialektik“. Er brachte damit die Räson moralisch sensibler Philosophie und die Staatsräson der Bundesrepublik auf den Punkt. Nach Auschwitz ist es moralisch undenkbar, als Deutscher zu existieren und zu argumentieren, als gehöre der Holocaust so sehr der Vergangenheit an, dass er – in Hegels Worten – „bald nicht mehr wahr“ ist. 

Anders gesagt: Es kann im kollektiven Bewusstsein der Deutschen nie eine Epoche anbrechen, die nicht eine Epoche „nach Auschwitz“ ist. Der Schwund des kulturellen Auschwitzgedächtnisses ist undenkbar. Wobei die Wendung „nach Auschwitz“ tückisch ist. Sie kann eben auch so gelesen werden kann, dass man Auschwitz hinter sich haben und der Vergangenheit, vor allem aber der Vergessenheit übereignen könnte, wenn nur genügend Zeit vergangen ist oder sich Zeitgemäßeres vor die Erinnerung schiebt und sie trübt, verändert oder zersetzt. Genau das aber scheint derzeit zu geschehen. Und zwar nicht nur in Deutschland.

In jüngster Zeit ist oft zu hören und zu lesen gewesen, dass wir in einer Zeitenwende leben – sei es aus Gründen des Klimawandels, des Ukrainekriegs oder des Überschreitens anderer Kipppunkte. Der für mich maßgeblichste Grund, die Rede von der Zeitenwende für zutreffend zu halten, hat mit dem Terroranschlag der Hamas auf Israel und mit seinen Folgen zu tun. Der 7. Oktober 2023 und die zunehmend israelfeindseligen Reaktionen darauf markieren einen historischen Kipppunkt insofern, als im Abendland das Undenkbare geschehen ist. Die Epoche „nach Auschwitz“ ist zu Ende gegangen. Alles ist auf Anfang gesetzt, und an die Geschichte ergeht die mehr oder weniger schweigend ausgesprochene Einladung, sich unter anderen Vorzeichen, in veränderten Konstellationen und mit neuer philosophischer, politischer, medialer und ideologischer Rückendeckung zu wiederholen. Der Ring ist frei für die Wiederkehr des ewiggleichen uralten Antisemitismus in neuem Gewand und für die Bewahrheitung eines Satzes des vielleicht meistgelesenen jüdischen Literaten Europas, des französischen Comicautors Joann Sfar. Der sagte vor einigen Jahren: „Jede Generation hat ihre eigene Art erfunden, Juden zu hassen.“[2]

Besonders infames Versteck

Der Judenhass der neuesten Generation hat sich ein besonders infames Versteck gesucht. Er baut seine Tunnel inmitten der Menschenrechte. Der Judenhass 2.0 trägt moralgeschnei­derte Designermode und kommt im humanitären Gewand daher. Während die Schmuddeligkeit des rechtsradikalen Antisemitismus von je her schon von weitem zu riechen war und der Judenhass 1.0 von einer scharfgestellten deutschen Öffentlichkeit denn auch reflexartig und zu Recht moralisch verabscheut wurde, sonnt sich der israelbezogene postkolonialistische Antisemitismus seit einigen Monaten im moralischen Glanz derselben Empathie für die Opfer von Krieg und Gewalt, die nach Auschwitz zu einer bedingungslosen christlich-abendländischen Solidarität mit Jüdinnen und Juden führte – insbesondere in den intellektuellen, akademischen und künstlerischen Milieus. 

Die Unwiderstehlichkeit, mit der sich das Virus des moralischen Antisemitismus gerade in diesen Milieus und in ihren Leitmedien besonders ungeschützt und obendrein kulturwissenschaftlich befördert ausbreitet, kann als Indikator dafür gelten, dass der sogenannte Westen die Schwelle zu einem neuen Zeitalter tatsächlich überschritten hat. Man erkennt dieses Zeitalter daran, dass Judenfeindlichkeit in ihm immer salonfähiger, vor allem aber immer erwartbarer, immer selbstverständlicher und immer akzeptierter wird. Ein Indiz dafür ist die geradezu pornographische Schamlosigkeit, mit der sich der Judenhass der propalästinensischen Demonstrantinnen und Demonstranten an den abendländischen Universitäten in die Brust wirft und selbstgerecht zur Schau stellt – jüngst sogar am Rande einer Gedenkveranstaltung auf dem ehemaligen Gelände des Vernichtungslagers Auschwitz selbst. Achtzig Jahre nach Auschwitz hat der Antisemitismus eine neue, epochale Qualität erreicht.

Wie konnte das geschehen? Warum ist das möglich? Weil ein Naturgesetz der Geschichte dafür sorgt, dass die individuelle und kollektive Erinnerung nach drei Generationen gleichsam automatisch gelöscht wird? Weil die Täter-Opfer-Umkehr mittlerweile zu einer medial und politisch gern ausgeübten Moralsportart geworden ist? Weil es eine unzertrennliche Fanfreundschaft von postkolonialistischen und antisemitischen Hooligans gibt, die jeden Konter gegen den Westen und jeden Angriff auf Israel im Namen der globalen Gerechtigkeit frenetisch bejubeln? Weil Judenhass Judenhass ist und bleibt und weder pädagogische Prävention noch argumentative Therapie den offenbar unausrottbaren Keim des Antisemitismus zu ersticken vermögen? Oder weil das christliche Abendland untergegangen ist?

Makabre Ironie der Geschichte?

Aber könnte das wirklich sein? Könnte es wirklich sein, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Ende der Epoche nach Auschwitz und dem Untergang des christlichen Abendlands gibt? Könnte es wirklich sein, dass der Judenhass im Herzen des aufgeklärten Westens derzeit deshalb so fröhlich barbarische Urstände feiert, weil die Verankerung in der christlichen Tradition nahezu keine Rolle mehr für die Identität der abendländischen Zivilisation spielt?

Eigentlich ist das zu unsäglich, um wahr sein zu können. Angesichts der Geschichte des christlichen Judenhasses erscheint die These, dass das Schicksal des jüdischen Volkes nicht nur auf Verderb, sondern auch auf Gedeih an das Schicksal des christlichen Abendlands ge­knüpft sein könnte, absurd. Wenn sie wirklich triftig wäre, dann wäre das eine höchst makabre Ironie der Geschichte.

Ich glaube allerdings tatsächlich, dass es sich so verhält. Ich bin davon überzeugt, dass es eine Korrelation zwischen dem Ende des christlichen Abendlands und dem Ende der Epoche nach Auschwitz gibt. Ob und in welchem Maß Jüdinnen und Juden im Abendland geachtet, anerkannt und als selbstverständliches Element kultureller Diversität wahrgenommen und wertgeschätzt oder eben verachtet und gehasst werden, hängt meiner Überzeugung nach nicht zuletzt davon ab, wie lebendig das christliche Narrativ im Abendland ist. 

Unfreiwillig Gedächtnisverlust befördert

Ich glaube aber auch noch etwas anderes. Ich glaube, dass es sich dabei mitnichten um eine Ironie der Geschichte, sondern um die unvermeidliche Konsequenz dezidierter theologischer Fehlentscheidungen handelt – und zwar um theologische Fehlentscheidungen der moralisch und politisch alarmiertesten, holocaustsensibelsten Theologien des vergangenen Jahrhunderts. Gerade diejenigen Theologien, die nach 1945 erklärtermaßen Theologien nach Auschwitz sein wollten, sind es gewesen, die unfreiwillig den Auschwitzgedächtnisverlust befördert haben. 

Gerade diejenigen Theologien, für die der Holocaust, die Theodizeefrage, die Sensibilität für die Opfer von Macht und Gewalt und die Befreiung Unterdrückter absolut systemrelevant waren, nahmen in den Jahrzehnten nach Auschwitz so unwillkürlich wie programmatisch die entscheidenden Weichenstellungen für die theologische Dekomposition des jüdisch-christlichen Narrativs im Abendland vor. Indem sie die humanitäre Zwischenmenschlichkeit emphatisch zur letzten, göttlichen Wirklichkeit erklärten, leisteten sie in bester Absicht Beihilfe zu einer verhängnisvollen israelblinden und antijudaismusanfälligen Transformation der identitätsstiftenden Narrative des christlichen Glaubens: 

Entweder vermochten sie nicht zu sehen, dass in einer nachchristlichen säkularen Zeitalter, dem sie Einlass in ihre Theologien verschafften, die Drift hin zur Identifikation mit der universalen menschenrechtlichen Erzählung unweigerlich größer sein würde als die Drift hin zur Identifikation mit der partikularen jüdisch-christlichen Erzählung, also mit der ureigensten religiösen Story des christlichen Glaubens. Oder sie trachteten um der globalen Durchsetzung der Menschlichkeit genau das zu befördern. Dann nahmen sie die antijudaistischen Kollateralschäden in Kauf, die sie durch das Design ihrer Theorien mitverursachten. 

Neues Leben im „Dasein-für-andere“

Ich will im Folgenden nur einige dieser verhängnisvollen Weichenstellerinnen und Weichensteller kurz, aber dafür umso pointierter zu Wort kommen lassen:

Dietrich Bonhoeffer, der im Predigerseminar der Bekennenden Kirche in Finkenwalde ausrief, nur wer für die Juden schreie, dürfe auch gregorianisch singen, übermittelt im August 1944 seinem Freund Eberhard Bethge einen Entwurf für eine Arbeit, mit welcher er der „Zukunft der Kirche einen Dienst tun zu können“[3] hofft. Er schreibt: „Unser Verhältnis zu Gott ist ein neues Leben im ‚Dasein-für-andere‘, in der Teilnahme am Sein Jesu.“[4] Nicht die Beziehung zu demjenigen Gott, der sich in seiner Bundesgeschichte in Israel auf den Menschen hin transzendiert hat, sondern das nichtreligiöse Für-andere-Dasein nach dem Vorbild Jesu ist Bonhoeffer zufolge die wahre, eigentliche Transzendenz. Entsprechend ist Kirche überall und nur dort, wo sich dieses Sein-für-andere vollzieht[5]. Just mit dieser Denkskizze reißt Bonhoeffer den christlichen Glauben aus seiner jüdisch-christlichen Verankerung. Seine humanistische Bearbeitung der Theodizeefrage öffnet einer nachchristlichen und damit einer nachjüdisch-christlichen Theologie Tür und Tor. 

In ihrem Buch „Stellvertretung“, das „ein Kapitel Theologie nach dem ‚Tod Gottes‘ zu sein beansprucht, knüpft Dorothee Sölle nahtlos an Bonhoeffers atheistische Dekonstruktion der Theologie an. Im Jahr 1965 notiert sie über die „anonyme“ oder „latente“ Kirche: „Es gibt eine anonyme Christlichkeit in der Welt, die sich selber nicht als christlich weiß und die sich nicht auf Christi Namen beruft, die aber dennoch in stellvertretender Vorläufigkeit Christi Sache tut.“[6] In einer veränderten Welt, so Sölle, braucht der (tote? abwesende?) „Gott Schauspieler, die seinen Part übernehmen … Auch wir können nun Gott füreinander spielen“[7]

Zwar redet Dorothee Sölle wie Dietrich Bonhoeffer davon, dass Christen an der Ohnmacht Gottes teilnehmen. Faktisch jedoch übereignet sie dem menschlichen Menschen die Allmachtseigenschaften Gottes, ohne einzukalkulieren, dass in the long run des langen Marschs der Menschlichkeit die Schattenseiten der Allmacht als brutale moralistische Anerkennungs- und Selbstdurchsetzungskämpfe zu Tage treten könnten. Das Reich der Ohnmächtigen ist vor Anarchie und Gewalt und vor deren Verherrlichung nicht weniger gefeit als das Reich der von Sölle verurteilten Mächtigen. Das gilt auch für die Architektinnen und Architekten von Ohnmachts-, Opfer- und Gerechtigkeitstheorien. Judith Butler ist gegenwärtig das vielleicht sprechendste Beispiel dafür.

Chiffre für globale Freundschaft mit der Schöpfung

Jürgen Moltmann entgrenzt in seinem Buch „Trinität und Reich Gottes“ im Jahr 1980 die jüdisch-christlich-trinitarische Erzählung pneumatologisch zu einer menschheits- und schöpfungsgeschlechtlichen Erzählung. Für Moltmann ist die „offene Solidarität mit der ganzen Welt“[8] Ausdruck der „allgemeinen Ausgießung des Heiligen Geistes ‚auf alles Fleisch‘“[9]. In dieser Solidarität zeigt sich der „Anfang der Zukunft der Welt“[10]. Es „öffnet sich die göttliche Trinität in der Sendung des Geistes. Sie ist offen für die Welt, offen für die Zeit, offen für die Erneuerung und Vereinigung der ganzen Schöpfung“[11]. In der Sendung des Geistes wird also die ganze Schöpfung in die Trinität hineingenommen. 

Jürgen Moltmann hat immer wieder beklagt, dass es in der vor neunzig Jahren verfassten Barmer Theologischen Erklärung keine These gibt, die explizit für Jüdinnen und Juden Partei ergreift. Seine Trinitätstheologie, die nirgendwo anders wurzelt als im gekreuzigten Juden Jesus, lässt letztlich nicht nur den Juden Jesus und die Verbundenheit mit dem Judentum hinter sich. Sie löst auch die Trinität selbst in eine Chiffre für die globale Freundschaft der Menschen und für die geheilte Schöpfung auf.

Gerd Theißen spricht 1989 in einer Auslegung des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter von einer „Konvergenz zwischen theologischen und humanen Motiven“[12], also von einer Übereinstimmung humaner und christlicher Motive. Die Geschichte vom barmherzigen Samariter, so Theißen, „kann als Aufforderung an uns verstanden werden, Hilfsmotivationen bei allen Menschen zu entdecken und anzuerkennen. Hilfsmotivation ist souverän gegenüber kulturellen und religiösen Grenzen.“[13] 

Im Gegensatz zu Bonhoeffer begründet Theißen das helfende Handeln als „transkulturelle Lebensäußerung“[14] nicht christologisch, sondern schöpfungstheologisch – und zwar mit der Gottebenbildlichkeit des Menschen. „Was in theologischer Sprache ‚Ebenbildlichkeit‘ des Menschen genannt wird, wird in menschenrechtlicher Tradition als ‚Würde des Menschen‘ bezeichnet“[15] – und zwar als Würde aller Menschen. Am Ende seines Aufsatzes begründet dies Theißen mit Albert Schweitzers altruistischer Christusmystik. Diese Mystik soll als „Liebesmystik“[16] im Sinne der in 1. Johannes 4,16 thematischen Identifikation von Gott und Liebe Gestalt gewinnen. Wo geliebt wird, so Theißen, fallen die Grenzen zwischen Menschen, Religionen, Nationen und Kulturen. Da diese Liebesmystik auch eine „Willensmystik“ des „unbedingten Willens zum Leben“[17] ist, steht die Problematik dieses Konzepts unübersehbar vor Augen. Als Mystik des Willens zum Leben, das leben will inmitten von Leben, das leben will, kann sie nämlich umstandslos in den von Theißens „antiselektionistischer“[18] Ethik verabscheuten sozialdarwinistischen Kampf antagonistischer Lebensdurchsetzungswillen umschlagen. „Ein unbedingter Wille zum Leben“, so Theißen, „findet sich in allen Kreaturen, wird im Menschen seiner selbst bewusst, erkennt hier seine Verwandtschaft mit allem anderen Lebenswillen“[19] – und, so ließe sich illusionslos fortsetzen, lässt Opfer zu Tätern werden, denen das Leben nicht gegeben, sondern geraubt werden muss. Die Problematik der Willensmystik offenbart sich gegenwärtig nicht zuletzt in der gerechtigkeitslegitimierten postkolonialistischen Befürwortung von Gewalt. 

Unwiderstehlicher Sog aufgeklärter Rationalität

Verknüpft man die roten Fäden der theologischen Argumentationen Bonhoeffers, Sölles, Moltmanns und Theißens, dann formt sich ein Narrativ, dessen Christlichkeit nicht ohne Weiteres zu detektieren ist. Um der Solidarität mit der Menschheitsfamilie muss die jüdisch-christliche Geschichte postjüdisch und postchristlich enden. Dabei ist nicht ausgemacht, ob am Ende dieser Geschichte nicht die ewiggleiche uralte Gewalt wiederkehrt, die doch aus der Welt geschafft werden soll.

Man könnte es dreihundert Jahre nach Immanuel Kants Geburt auch anders sagen: Dass gerade die zeitgeist- und ungeistsensibelsten aufgeklärten Theologien um der höheren Moral willen nur noch säkulare Geschichten erzählen können, zeigt, wie unwiderstehlich der Sog aufgeklärter Rationalität ist. Er zieht die partikulare jüdisch-christliche Story in den Strudel von Kants moralischer Religionskritik, dem sich nur eine ethische Theologie zu entwinden vermag, die sich in die Sprache des kategorischen Imperativs übersetzen lässt.

Weil die erfolgreiche Diskursumstellung von religiöser Kommunikation auf moralische Kommunikation im Sinne Kants auch eine Diskursumstellung von Partikularität auf Universalität nach sich zieht, sucht man einen besonderen philosophischen oder theologischen Ort für Israel und sein verheißenes Land in dieser aufgeklärten moralischen Transformation der jüdisch-christlichen Erzählung in eine humanistische Erzählung vergebens. Zwar ist das Judentum stillschweigend, selbstverständlich und intentional in das Menschenrechtsnarrativ hineinverwoben. Aber es spielt darin keine handlungstragende Rolle – schon gar nicht als Gottes erwähltes Volk. Wie sollte es auch, wo doch jede säkulare Erzählung unweigerlich blind, taub und stumm im Blick auf theologische Kategorien ist. 

Kein Sinn für Besonderheit Israels

Mögen die theologischen Erzählerinnen und Erzähler dieser transformierten Erzählung auch noch so sehr darauf hinweisen, dass die Erzählung des Gottesbundes in der säkularen Menschenrechtserzählung codiert aufbewahrt bleibt: Am Ende ist sie unsichtbar und irrelevant geworden. Ja noch mehr: Weil die säkulare humanistische Erzählung keinen Sinn für die Besonderheit Israels hat, kann Israel jederzeit aus dieser Erzählung entfernt werden, wenn sich die Perspektive der Erzählerinnen und Erzähler so verändert, dass der Staat Israel auf einmal als menschenrechtsfeindlicher Akteur und Aggressor erscheint. Polemisch gesprochen: Jüdinnen und Juden sind im vollmundigen Narrativ des Menschheitsethos nur als heimatlose, versprengte, vergaste und vernichtete Opfer sicher. 

In einer Theologie, die sich konzeptionell ausschließlich mit den Opfern von Gewalt solidarisiert und Gott nur noch in Ohnmacht und hilflos-helfender Zwischenmenschlichkeit erkennt, hat Israel keine Daseinsberechtigung mehr, sobald es als Täter angeklagt werden kann und soll. Ebenso wie der allmächtige Gott ist es aufgrund seiner Taten und Unterlassungen dann theologisch und moralisch erledigt. Der Moralismus kennt anders als der Gott der hebräischen Bibel im Falle moralischer Verfehlungen keine Gnade.

Erstes Fazit: Die moralischen Beteuerungen und theologischen Konstruktionen jener Theologinnen und Theologen, die nach Auschwitz dafür sorgen wollten, dass künftig kein Abendland, keine Theologie und keine Kirche ohne die unverbrüchliche Solidarität mit dem jüdischen Volk denkbar sein sollte, erweisen sich langfristig als haltlos und auf Sand gebaut. Weil Israel für ihre theologischen Systeme letztlich nicht relevant, jedenfalls nicht relevanter als menschenrechtliche Argumentationen ist, wird ihre Widerstandskraft umso geringer, je mehr der menschenrechtliche Widerstand gegen Israel seine Muskeln spielen lässt. Im gleichen Maß, indem ihre Widerstandskraft abnimmt, nimmt ihre Blindheit gegenüber antisemitischen Beweggründen menschenrechtlicher Israelkritik zu.

Zweites Fazit: Sobald in der Theologie zunehmend ausdrücklicher die transnationale globale Menschheitsfamilie zum Volk Gottes erklärt und darüber die ureigene Herkunfts-, Bundes- und Gottesgeschichte vergessen wird, droht eine so ungewollte wie fatale Nebenwirkung dieser grundsätzlich bejahenswerten und im Übrigen genuin neutestamentlichen menschheitsfamilienfreundlichen Selbstbefreiung aus der religiösen Provinzialität einzutreten: Die kosmopolitische interreligiöse Theologie der heilsgeschichtlichen Fokussierung auf die Völker führt dazu, das Volk Israel durch den Rost fallen zu lassen und gewissermaßen auf dem Altar der Menschenrechte und der Interkulturalität zu opfern – ungeachtet dessen, dass die israelische Gegenwartsgesellschaft geradezu als strahlendes Beispiel verwirklichter interkultureller Diversität gelten kann. Das theologisch vogelfreie Israel wird zum gefundenen Fressen für den neuen alten Judenhass. Einmal mehr erscheint das Wurzelvolk des Heils für die Völker als Wurzel allen Übels. Und die postkolonialistischen Antisemiten, die nur der Täter-Opfer-Umkehr und der Verstetigung der Teufelskreise der Gewalt, nicht aber der Menschlichkeit und schon gar nicht der Interkulturalität, geschweige denn der Diversität dienen, stürzen sich wie die Geier auf die Beute herab. 

Idee des jüdisch-christlichen Abendlandes

Weil in einer säkularen Welt leichter ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als dass das Abendland zu seinen religiösen Wurzeln zurückfindet und seine Identität in der jüdisch-christlichen Tradition wiederentdeckt, ist das jüdische Volk derzeit gefährdeter denn je. Denn es ist nicht nur von physischen und von religiösen, sondern auch von moralischen Vernichtungswünschen bedroht. Der Cocktail von Moralismus und Antisemitismus ist toxisch.

Da man das aus christlicher, aus jüdischer und aus menschenrechtlicher Perspektive nur als entsetzlich bezeichnen kann, bleibt für eine Theologie, die ihrem Namen Ehre macht, die sich also nicht allein dem aufgeklärten Humanismus, sondern auch der jüdisch-christlichen Bundesgeschichte Gottes mit den Menschen verpflichtet fühlt, nur eine einzige Möglichkeit. Sie muss den Sinn für ihre spezifisch religiöse Identität wiederentdecken und das Bekenntnis wagen, dass nur aus der Idee des jüdisch-christlichen Abendlands die metaphysische, die spirituelle, die moralische und die humane Kraft erwächst, dem antiwestlichen und dem antisemitischen Nihilismus zu trotzen.


 

[1] Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt am Main 1966, 356.

[2] Siehe dazu Sarah Pines, „Die schlimmsten Judenfeinde waren nie die Skinheads“, in: DIE WELT, 6. Juni 2024, 16.

[3] Dietrich Bonhoeffer Werke Bd. 8, hg. v. Christian Gremmels, Eberhard Bethge und Renate Bethge in Zusammenarbeit mit Ilse Tödt, Gütersloh 1998, 561.

[4] Ebd. 558.

[5] Ebd. 560.

[6] Dorothee Sölle, Stellvertretung. Ein Kapitel Theologie nach dem „Tod Gottes“, Stuttgart 1965, 154.

[7] Ebd. 160 und 162.

[8] Jürgen Moltmann, Trinität und Reich Gottes. Zur Gotteslehre, München 1980, 140.

[9] Ebd., 139.

[10] Ebd., 140.

[11] Ebd., 142.

[12] Gerd Theißen, Die Bibel diakonisch lesen. Die Legitimationskrise des Helfens und der barmherzige Samariter, in: Gerhard Schäfer und Theodor Strohm (Hrsg.), Diakonie – biblische Grundlagen und Orientierungen. Ein Arbeitsbuch zur theologischen Verständigung über den theologischen Auftrag, Heidelberg, 2. Aufl. 394, 376-401, 382.

[13] Ebd., 383.

[14] Ebd., 394.

[15] Ebd., 394f.

[16] Ebd., 401.

[17] Ebd., 400.

[18] Ebd., 392 u.ö.

[19] Ebd., 400.

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Foto: Johannes Minkus

Ralf Frisch

Ralf Frisch, Jahrgang 1968, ist Professor für Systematische Theologie an der Evangelischen Hochschule Nürnberg.


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