„Krone der Humanität“

Eine Replik auf Ralf Frischs Artikel „Toxischer Cocktail“
East Pride in Berlin, 29.6.2024
Foto: picture-alliance
Der East Pride am 29.06.2024 vor der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin Mitte.

Gestern hat der Nürnberger Theologe Ralf Frisch an dieser Stelle die These aufgestellt, der seit dem 7. Oktober grassierende Judenhass sei durch bestimmte Theologien des 20. Jahrhunderts befördert worden. Ihm widerspricht heute Albrecht Grözinger, Praktischer Theologe in Basel, entschieden. Er ist unter anderem sehr irritiert, dass bei Frisch auf einmal das «Christliche Abendland» auftaucht.

Ralf Frisch hat gestern auf zeitzeichen.net einen provokativen Artikel zur Genese des neuen Antisemitismus, dessen Existenz von mir weder bestritten werden kann noch bestritten werden soll, veröffentlicht. Seine pointierte These lautet, dass der neue Antisemitismus auch durch eine fatale theologische Weichenstellung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begründet sei. Dort sei nämlich „die humanitäre Zwischenmenschlichkeit emphatisch zur letzten, göttlichen Wirklichkeit“ erklärt worden, womit die alles menschliche übersteigende Transzendenz Gottes letztlich eliminiert werde und die Besonderheit der „Gottesgeschichte“ in eine allgemeine Geschichte des Humanum hinein aufgelöst werde. Eine These, die in ihrem scharfen Profil durchaus etwas Bestechendes hat, die gleichwohl den konkreten Verlauf der protestantischen Theologiegeschichte nach dem Ende des 2. Weltkriegs verzerrt. Und deshalb widerspreche ich dieser These Frischs und möchte dies im Folgenden näher ausführen.

Gedächtnisarbeit: Ich beginne biografisch. Den Text von Frisch zu lesen, tat weh. Und das aus einem spezifischen Grund. Ich gehöre zu der theologischen Generation, die durch die von Frisch namentlich genannten Theologen und die eine Theologin nachhaltig geprägt ist: Dietrich Bonhoeffer, Dorothee Sölle, Jürgen Moltmann. Vor dem Hintergrund meiner eigenen theologischen Entwicklungsgeschichte ist es geradezu absurd, Dorothee Sölle und Jürgen Moltmann vorzuwerfen, dass durch ihre Theologie das Besondere der jüdischen Kultur und Religion aus unserem Gedächtnis zu verschwinden drohe. 

In den Seminaren von Dorothee Sölle bin ich zum ersten Mal dem Reichtum jüdischer Poesie und Literatur begegnet. Diese war zuvor in der muffig-soften Ästhetik der Adenauerrepublik nicht oder nur marginal präsent. In ihrer Habilitationsschrift „Realisation. Studien zum Verhältnis von Theologie und Dichtung nach der Aufklärung“ widmet sie dem jüdischen Exilautor Alfred Döblin ein eigenes, instruktives Kapitel. In der Schule wurden wir dagegen im Deutschunterricht noch mit der These konfrontiert, dass die Literaten des Exils (und es schwang meist mit: Es waren hauptsächlich Juden) vielleicht doch nur einen warmen Platz an der Sonne Kaliforniens gesucht hätten. Dementsprechend lasen wir Reinhold Schneider, Albrecht Goes, Rudolf Alexander Schröder und Ina Seidel. Sicher alles ehrenwerte Literatur, das will ich gar nicht bestreiten. Aber der Weite der Literatur und insbesondere der bis dahin fehlenden jüdischen Literatur bin ich erst bei Dorothee Sölle begegnet. 

Profund eingeführt

Ähnliches kann ich von Jürgen Moltmann sagen. In seinen Vorlesungen führte er uns profund in die großen intellektuellen Debatten der Weimarer Republik ein – und daran war die jüdische Kultur entscheidend beteiligt. Namen wie Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Walter Benjamin, Gershom Scholem und Hannah Arendt hörte ich bei Jürgen Moltmann zum ersten Mal. Dass Ralf Frisch heute all diese Namen wohl vertraut sein können und wohl auch sind, verdankt sich unter anderem gerade der Wirkungsgeschichte derjenigen, denen er heute einen wirkungsgeschichtlichen Schub zum Gedächtnisverlust unterstellt. 

Wo nimmt Theologie ihren Ausgang? „Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei“ –  mit dem Titel seiner Schrift aus dem Jahre 1523 erinnert Luther daran, dass das Christentum und damit auch die christliche Theologie ihren Ursprung in einer ganz besonderen Geschichte haben und deshalb auch ihren Ausgang davon zu nehmen haben: nämlich in der Geschichte Gottes mit Israel und in der Person Jesu von Nazareth. An dieser Stelle wirft Ralf Frisch wirklich eine wichtige Frage auf. Wovon nimmt die Theologie ihren Ausgang? Und ich kann ihm da in gewisser Weise durchaus zustimmen.

Eine Theologie, die von einem allgemeinen Religionsbegriff ausgeht, steht gerne (zuerst wollte ich schreiben „immer“, belasse es aber lieber beim „gerne“) in der Gefahr, das Judentum lediglich als partielle Religionsform zu identifizieren, die dann letztlich durch das universelle Christentum überholt werde. Dies kann man bei Schleiermacher beobachten, der dann die Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts entscheidend geprägt hat. Man kann dies auch bei Rudolf Bultmann sehen, der den historischen Jesus schlicht zur „Voraussetzung“ einer Theologie des Neuen Testaments herabstuft. 

Aber hier ist dann auch wieder zu sehen, dass es die Exegese in der Spur Bultmanns war, die dann gerade das Spezifische der Geschichte Jesu von Nazareth in unser Bewusstsein gerufen hat. Und hier kommt der Name des Neutestamentlers ins Spiel, dem von Frisch eine Mitschuld an dem Verschwindenlassen der besonderen Geschichte Israels bescheinigt wird, nämlich Gerd Theißen. Dabei war es sein sozialgeschichtlicher Zugang, der uns das Neue Testament gerade in seiner historischen Besonderheit, Konkretheit und Einmaligkeit erschlossen hat. Zugespitzt würde ich sagen: Seit Gerd Theißen spricht die Bergpredigt gerade in ihrem jüdischen Kontext noch wuchtiger und provozierender zu uns als vor ihm.

Über all dies kann und soll man mit Ralf Frisch streiten. Und eines sage ich gerne noch einmal: An dieser Stelle hat er eine so richtige wie wichtige Frage gestellt.

Entschiedenster Widerspruch

Welche Narration soll uns theologisch leiten? Mein entschiedenster Widerspruch gegen Frisch meldet sich dort an, wo er plötzlich die alte Narration vom „christlichen Abendland“ aufruft. Mich hat es zunächst einmal schlicht sprachlos gemacht. Aber angesichts meines Erstaunens habe ich dann schnell meine Stimme wiedergefunden.

Ralf Frisch zitiert zu Beginn seines Aufsatzes den wuchtigen Satz Theodor W. Adornos aus dessen Buch „Negative Dialektik“: „Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.“[1] Nun steht im selben Buch das wichtige Kapitel „Meditationen zur Metaphysik“. Adorno zeigt in diesem Kapitel, dass es eben nicht mehr möglich ist, ungebrochen an die traditionellen Denkformen der Metaphysik und des abendländischen Geistes anzuknüpfen. Das wusste eben auch der gescholtene Dietrich Bonhoeffer, der uns die Aufgabe stellte, die traditionelle abendländische Metaphysik und die Anlehnung an deren Religionsbegriff hinter uns zu lassen. 

Das «Anders-Sein» Gottes – «die Vertikale», wie dies jüngst Günter Thomas in einem Artikel in Zeitzeichen formuliert hat[2]  – lässt sich eben nicht mehr in den alten Bahnen traditioneller Metaphysik formulieren. Das Anders-Sein Gottes – und daran hat Dorothee Sölle in den Spuren Bonhoeffers nachdrücklich erinnert – kann nicht mehr in theistischen theologischen Begriffen gefasst und formuliert werden. Es ist alles Andere als ein Zufall, dass etwa Henning Luther, der mit Sicherheit auch in der von Frisch gezeichneten Traditionsspur zu verorten ist, ganz zentral die Philosophie von Emmanuel Lévinas aufnimmt, wo das Ganz Andere im Gesicht des menschlichen Gegenübers aufscheint. 

Bestenfalls(!) beschönigender Begriff

In gewisser Weise habe ich an dieser Stelle sogar Verständnis für Frischs Plädoyer für die „jüdisch-christliche Tradition“. Ich selbst habe den Begriff in meinen Vorlesungen und Veröffentlichungen lange gebraucht. Ein Umdenken hat sich bei mir durch meinen Wechsel in die Schweiz eingestellt. Damit verbunden waren – nicht zuletzt durch meine Mitarbeit im Stiftungsrat unseres Basler Zentrum für Jüdische Studien – intensive Begegnungen und Gespräche mit Juden und Jüdinnen mit religiösem und säkularem Hintergrund. Und ich musste realisieren, dass der Begriff der „jüdisch-christlichen Tradition“ dort als ein bestenfalls (!) beschönigender Begriff erfahren wurde. Denn es gab sie nur marginal – die jüdisch-christliche Tradition. In der Geschichte Europas war es das Christentum, das das Judentum marginalisierte bis hin zu den Ausrottungsphantasien und den ihnen folgenden Taten. 

Orientierung an biblischen Geschichten: Es ist mir unbegreiflich, wie man gerade nach dem 7. Oktober 2023 diese Begriffe wieder als Leitbegriffe einer großen Erzählung reaktivieren möchte, noch dazu, um dem gegenwärtig grassierenden Antisemitismus entgegenzutreten. Gerade der Begriff des „christlichen Abendlandes“ hat de facto weitgehend als Vergessensbegriff gewirkt, weil er die über Jahrhunderte währende jüdische Leidensgeschichte unter dem Christentum in Europa ausgeblendet hat.

Was dann? An dieser Stelle bin ich wahrscheinlich barthianischer als der Barthianer Ralf Frisch. Ich plädiere schlicht für eine Orientierung an den biblischen Geschichten selbst. Geschichten, die uns Orientierung geben können, die uns emotional an die Seite treten könne, die uns aber auch – und daran hat uns die Dialektische Theologie nachdrücklich erinnert – kritisch gegenübertritt. Eine nachhaltige Orientierung an den biblischen Geschichten wird uns dann auch davor bewahren, uns als Agenten (oder gar Vollstrecker?) eines „christlichen Abendlandes“ zu verstehen. Sie wird uns (hoffentlich) davor bewahren, zu meinen wir hätten eine sei‘s christliche oder sei’s jüdisch-christliche Tradition einfach so in der Tasche. Und die Orientierung an den biblischen Geschichten wird uns davor bewahren, einen Gegensatz zu sehen zwischen der Gottesgeschichte und einer „universalen menschenrechtlichen Erzählung“, wie Frisch das tut. Karl Barth hat in seinem großen Vortrag aus dem Jahre 1956 über die „Menschlichkeit Gottes“ emphatisch für die Einheit von partikularer Gottesgeschichte und „universalen menschenrechtlichen Erzählung“ plädiert, weil in dieser Konstellation „die Krone der Humanität, nämlich des Menschen Mitmenschlichkeit, sichtbar werden darf“.[3]


 

[1] Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt am Main 1966, 356.

[2] Zeitzeichen, Juli 2024. 

[3] Karl Barth, Die Menschlichkeit Gottes, Zollikon-Zürich 1956, 27

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