Zwischen den Töpfen
Die anhaltend hohen Kirchenaustrittszahlen frustrieren viele. Wie können und sollten Menschen, denen ihr Christsein und das Wirken der Kirche viel bedeuten, damit umgehen? Christiane Tietz, Professorin für Systematische Theologie in Zürich und Herausgeberin von zeitzeichen, nimmt diese Fragen ernst und eröffnet neue Perspektiven auf dem Hintergrund aktueller Forschungen zur Theologie von Karl Barth.
Wenn ich junge Eltern mit einem Kinderwagen vorbeilaufen sehe, denke ich manchmal: ‚Wieso bringt ihr euer Kind nicht zu mir, die ich ihm doch Segen weitergeben kann? Wieso wollt ihr das Geschenk nicht, das ich für euer Kind habe?‘“ So erzählte mir eine Pfarrerin neulich in einem Gespräch. Fast als persönliche Kränkung empfinde sie es, dass Menschen Gottes Segen von ihr nicht wollten. Sie formulierte damit sehr individuell, dass der Rückgang des Interesses an der Kirche und die Abwendung von ihr etwas mit unserer Identität als Christenmenschen machen. Im vergangenen Jahr sind in Deutschland rund 380 000 Menschen aus der evangelischen Kirche ausgetreten (vergleiche zz 6/2024). Trotz vieler kirchlicher Aktivitäten und zahlreicher neuer Ideen ist es bislang nicht gelungen, den Trend der hohen Austrittszahlen zu stoppen.
Die 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung hält fest, „dass Evangelische vor allem deshalb austreten, weil ihnen das Thema Religion und Kirche in einem längeren biografischen Prozess gleichgültig geworden ist“. Darin liegt eine gehörige Anfrage auch an unseren eigenen Glauben. Wenn anderen Religion und Kirche für ihr Leben gleichgültig geworden sind, wieso meinen wir, dass das für unser Leben anders ist? Wieso meinen wir, etwas zu brauchen, was für andere überflüssig ist? Vielleicht können wir feststellen, dass in unserm Leben Glaube und Kirche immer wieder wichtiger Halt und Impulsgeber gewesen sind. Dann drängt sich unausweichlich die andere Frage auf: Wieso schaffen wir es nicht, mehr Menschen zu vermitteln, dass Glaube und Kirche auch für sie wichtig sein könnten? Warum inspiriert unser Glaube nicht auch sie? Was machen wir falsch? Die jährliche Veröffentlichung der hohen Austrittszahlen wirkt wie eine zuverlässige Bestätigung unserer Unfähigkeit.
In diesem Beitrag soll es genau um diese Frage gehen: Was macht der ständige Rückgang der Kirchenmitgliederzahlen eigentlich mit unserem Glauben? Anders formuliert: Welche Rolle spielen Zahlen für unseren Glauben?
Blicken wir zunächst auf das Offensichtliche und Handfeste: die mit dem Rückgang der Mitgliederzahlen schrumpfenden Finanzmittel der Kirche. Sie machen in vielerlei Hinsicht ein konkretes Handeln aus Glauben heraus möglich. Es wäre schön, wir könnten angesichts dessen die kirchlichen Aufgabenbereiche einfach in zwei Töpfe sortieren: in den einen diejenigen Aktivitäten, die für die Menschen, die Gesellschaft und die Kommunikation des Evangeliums wichtig sind, und in den anderen die letztlich unwichtigen; in den einen diejenigen, die gut laufen, und in den anderen diejenigen, die es nicht tun. Und wir könnten dann die unwichtigen, nicht gut laufenden endlich lassen – und die wichtigen, gut laufenden umso fröhlicher weiterpflegen. Dann könnten wir das Schrumpfen der Finanzmittel als einen längst überfälligen Klärungs- und Aufräumprozess verstehen, der uns von unproduktiven Altlasten befreit.
An manchen Stellen unserer Kirche ist dies genau so möglich. Aber insgesamt ist es doch komplizierter! Schon die Sortierung dürfte strittig sein: Sind die Aufgabenbereiche wirklich so klar in einen von den beiden Töpfen zu sortieren? Gibt es nicht vieles, was zwischen die Töpfe gehört? Müssen wir nicht auch – und das ist besonders traurig – in Bereichen sparen, die wichtig sind und gut laufen? Und schließlich: Fallen nicht die Bewertungen, was wichtig und gut ist, bei Einzelnen durchaus unterschiedlich aus? Die Diskussion über unterschiedliche Bewertungen ist anstrengend und schmerzhaft. Wenn wir sie mit Respekt für den anderen oder die andere führen, weil es auch ihm oder ihr um unsere Kirche geht, dann fügen wir uns wenigstens gegenseitig keine weiteren Schmerzen zu.
Was bedeutet das für unseren Glauben? Wir müssen mit der Spannung umgehen lernen, dass unser Glauben und unser durch die Gelder ermöglichtes Handeln nicht mehr deckungsgleich sind. Nüchtern betrachtet war es vermutlich noch nie so, dass das Glauben und das Handeln der Kirche sich völlig entsprachen. Was jetzt anders ist? Wir spüren deutlicher die Spannung, dass wir gern aus dem Glauben heraus etwas Bestimmtes tun wollen, es aber (wegen der fehlenden Finanzen) nicht können.
Deutliche Spannung
Diese Spannung kann zu einer Chance werden, wenn wir die Energie, die in dieser Spannung liegt, transformieren: in ein kreativeres Handeln zugunsten unserer Finanzen. Ich gebe ein Beispiel: In meinem Wohnort im Oberengadin kann die Sanierung und der Unterhalt der Kirchen nicht mehr von der Kirchengemeinde bewältigt werden. Deshalb haben wir einen „Gönnerverein Alte Kirchen Sils“ gegründet, um die notwendigen Mittel durch Spenden zusammenzubekommen. Die Gründung war ein Handeln aus und im Glauben. Die drei wunderschönen Silser Kirchen sind für Einheimische, Zweitheimische und Touristen lebendige Orte des Glaubens. Wir vertrauen darauf, dass sich Menschen für eine finanzielle Unterstützung „ihrer Kirchen“ gewinnen lassen. Wir haben keine Garantie, dass wir genug Geld zusammenbekommen werden. Aber wir haben damit einen Weg eingeschlagen, bei dem sich das Verhältnis der Menschen zur Kirche ändert, nämlich – wie es jüngst Reinhard Bingener in der Frankfurter Allgemeinen formulierte – „hin zu einer aktiven Bereitschaft, zum Erhalt dieses Erbes beizutragen, obwohl die Mehrzahl der Bürger dies nicht tut“.
Gegenseitig bestärkt
Blicken wir nun angesichts des Rückgangs der Kirchenmitgliederzahlen auf den Zusammenhang von Glauben und Gemeinschaft und fragen einmal umgekehrt: Welche Auswirkung hatte es auf unseren Glauben, dass wir früher so viele waren? Das Wissen, dass man als Christin, als Christ in der Gesellschaft in der Mehrheit war, hat Bestätigung und Geborgenheit vermittelt. Es hat sich richtig angefühlt, zu den Vielen zu gehören. Wir haben uns gegenseitig im Christsein bestärkt.
Aber schon beim Schreiben dieser Sätze kommt mir meine Erfahrung als Jugendliche in den Sinn, mich dafür rechtfertigen zu müssen, dass ich regelmäßig in die Kirche ging. Schon damals haben viele Gleichaltrige nicht nachvollziehen können, dass der christliche Glaube die zentrale Orientierung für mein Leben war. Heute beeindruckt mich bei Kontakten zur weltweiten Christenheit, mit welcher Selbstverständlichkeit so genannte Minderheitskirchen (da, wo es Religionsfreiheit gibt) ihr Christsein leben.
In Japan oder Tschechien hat mich dies besonders berührt. Für die Christinnen und Christen dort ist das regelmäßige Zusammenkommen als kleine Gemeinschaft der Lebensnerv ihres Alltags. Sie sind sich dessen bewusst: „Es ist nichts Selbstverständliches für den Christen, dass er unter Christen leben darf. Sichtbare Gemeinschaft ist Gnade. Die Nähe des christlichen Bruders [und der christlichen Schwester] ist ein leibliches Gnadenzeichen der Gegenwart des dreieinigen Gottes.“ (Dietrich Bonhoeffer) Kann auch uns die gegenwärtige Situation dabei helfen, den Wert des konkreten, sichtbaren Zusammenkommens neu zu entdecken? Dann, wenn es viele sind, die zusammenkommen – wie bei großen Tauffesten –, aber auch dann, wenn es nur zwei oder drei sind?
Der letzte Aspekt verdient, besonders herausgestrichen zu werden. Denn die Gefahr ist groß, dass wir aus Angst vor den Zahlen den Einzelnen, der da ist, nicht mehr wertschätzen. Leicht denkt man dann: Diese Veranstaltung war nichts wert, denn es waren nur wenige Menschen da! Aber lasst uns nicht vergessen, dass sie auch dann etwas wert war, wenn ein einziger Mensch gestärkt und mit neuer Zuversicht nach Hause ging. Deshalb darf der Ausruf „Schön, dass du da bist!“ in der Kirche lauter sein als die Klage über den Rückgang der Mitgliederzahlen. Ja, es sind nicht mehr alle da. Aber jeder oder jede Einzelne, die da ist, ist wichtig.
Gleichzeitig bleibt er, auf jeden Fall bei mir: der Wunsch, Menschen neu für den Glauben zu interessieren, sie vielleicht wieder für die Kirche zu gewinnen (und sie auf jeden Fall nicht als Mitglieder zu verlieren). Wolf Krötke hat dazu prägnant formuliert: „Die Menschen haben die Kirche in Scharen verlassen. Wir werden sie nur als Einzelne zurückgewinnen.“ Der letzte Satz ist doppeldeutig. Er besagt zum einen, dass die Menschen nur als Einzelne wieder für Kirche gewonnen werden können (oder als Mitglieder nicht verloren gehen), also wenn sich einem Menschen für sein persönliches Leben der Glauben, die Kirche als relevant erschließen. Und er besagt zum anderen, dass Menschen nur durch konkrete, andere Menschen, die mit ihnen in eine Beziehung treten, gewonnen werden können. Nur indem wir als Einzelne in unserem Glauben erkennbar werden, ihn authentisch leben, aufscheinen lassen, wieso für uns die Gemeinschaft mit anderen Glaubenden wichtig ist, kann der Glaube, kann die Kirche heute Attraktivität entfalten. „Religiöse Kommunikation lebt vom Vertrauen in die Glaubwürdigkeit derer, die an der Kommunikation beteiligt sind“ (Isolde Karle). Hier sind die Erzählungen von Ehrenamtlichen, von Nicht-Berufs-Religiösen besonders faszinierend. Denn sie bringen eine Vielfalt von Lebensbereichen und eine Breite von Kontexten mit, in denen sie ihren Glauben leben und sie ihr Glaube trägt.
In religiöser Kommunikation ist es nach meiner Überzeugung unerlässlich, das Selbstverständnis der Menschen zu respektieren. Wenn sie von sich sagen, dass ihnen der Glaube oder Gott nicht fehlen, dann sollten wir ihnen nicht unterstellen, dass ihnen doch etwas fehlt und sie das nur noch nicht merken. Was aber möglich ist: Ich kann selbst als Glaubende erkennbar werden. Ich kann davon erzählen, was mir selbst in meinem Leben fehlen würde ohne den Glauben, ohne Gott: Was fehlt mir, wenn Gott fehlt? Wo würde Gott mir fehlen? Wo fehlt Gott mir?
Ein Sachverhalt verdient in diesem Zusammenhang noch Aufmerksamkeit: Wir können von uns erzählen und davon, was der Austausch, die Zusammenarbeit und die Gemeinschaft in der Kirche für unseren Glauben bedeuten. Wir können viele verschiedene Formen probieren und pflegen, damit Menschen mit der frohen Botschaft von der freien Gnade Gottes und mit Kirche in Kontakt kommen. Aber wir können nicht garantieren, dass dadurch Menschen den Glauben an Gott für sich entdecken. Es kann sein, dass er für manche Menschen, egal was wir machen, bedeutungslos bleibt. Das ist eine realistische Erdung aller unserer Aktivitäten. Theologisch gesprochen liegt, ob sich der Glaube an Gott einem Menschen als für sein Leben hilfreich erschließt, nicht in unserer Hand, sondern in der Hand Gottes. Das kann uns entlasten.
Glauben hinterfragt
Schließlich: Dass Menschen aus der Kirche austreten, hinterfragt auch meinen eigenen Glauben an Gott. Wieso denke ich, mit Gott leben zu müssen, den Glauben und die Kirche zu brauchen? Irre ich mich über den Sinn meines Lebens und seinen Grund? Dass andere anders leben, fordert mich heraus, stärker darüber nachzudenken, wieso ich selbst glaube und in der Kirche bin. Das ist gut reformatorisch. Martin Luther, für den Gemeinschaft der Christenmenschen untereinander unverzichtbar war, hat gleichwohl eingeschärft, dass ich im Glauben letztlich als Einzelne gefragt bin. Ich kann mich nicht hinter dem Glauben anderer verstecken, sie nicht für mich glauben lassen. Hier bin ich ganz schlicht „ich“: „Ein Christ ist eine Person für sich selbst, er glaubt für sich selbst und sonst für niemand“ (Martin Luther). In der gegenwärtigen Situation kann ich mir stärker dessen bewusstwerden, wieso ich nicht ohne Gott, Glauben, Kirche leben will. Ich spüre deutlicher, dass für mich mein Leben mit Gott zwar nicht einfacher, aber tiefer, ehrlicher, tragfähiger ist, als wenn ich es ohne Gott bewältigen müsste. Ich erinnere mich bewusster an Situationen, die ich nur im Vertrauen auf Gottes Nähe durchgestanden habe.
Wo ist Gott?
Gleichzeitig spüre ich Fragen in mir: Wo ist Gott jetzt, in diesen Entwicklungen, im Kleiner-Werden der Kirche? Lässt Gott seine Kirche, zumindest die evangelischen Landeskirchen, im Stich? Vielleicht mache ich, wenn ich so frage, den Fehler, die Nähe Gottes mit dem zahlenmäßigen Erfolg der Kirche zu identifizieren. Dabei gehört zu den Grundmomenten des Glaubens, dass sich Gott in der Welt nicht so identifizieren lässt, wie wir dies wünschen: Schau hier, schau dort – genau da ist Gott zu finden. Es ist eben nicht so: Wenn die Mitgliederzahlen hochgehen, dann ist Gott da; wenn sie sinken, ist Gott nicht da.
Doch wo ist Gott da? Aus christlicher Sicht hat er sich in besonderer Weise in Jesus Christus gezeigt, als ein allen Menschen freundlich zugewandter Gott. Was bedeutet dies für unseren Blick auf den Rückgang der Kirchenmitgliederzahlen? Hilfreich erscheint mir hier mehr und mehr der Ansatz Karl Barths. Eigentlich denkt man, dass Karl Barth bei seiner Theologie von der Christlichkeit der Gesellschaft ausgeht; er – so meint man – setzt voraus, dass fast alle Menschen zu den beiden großen christlichen Kirchen gehören. Wie kann sein Ansatz in einer ganz anderen gesellschaftlichen Situation hilfreich sein?
Michael Pfenninger hat in seiner großartigen Zürcher Dissertation „Die Welt ist Gottes. Karl Barths Theologie der Welt im Kontext der Säkularisierung“ gezeigt, dass Barth ganz im Gegenteil bereits von einer säkularisierten Welt ausgeht, in der die Kirche eine Minderheit ist. Barth kann gelassen damit umgehen und hat im Unterschied zu vielen seiner Zeitgenossen nicht verkrampft für eine Rechristianisierung der Welt gekämpft (vergleiche zz 8/2023). Ihm gelingt es überdies, und das scheint mir in der gegenwärtigen Situation besonders hilfreich, einen Dualismus „Kirche hier – Welt dort“ zu relativieren. Denn Barth setzt voraus, dass die Wirklichkeit Christi schon jetzt die ganze Welt und nicht nur die Kirche betrifft. Alle Menschen sind, aus christlicher Sicht, als in Christus Erwählte, als von Gott Begnadigte anzusprechen. Barth ist überzeugt, dass in Bezug auf Gottes Bezogenheit auf die Menschen ihr Glauben keinen Unterschied macht. Damit ist klar: Die Zahl derjenigen, die zur Kirche gehören, ist kein Maß für die Nähe Gottes. Maß der Nähe Gottes ist Christus allein, und er ist allen nah.
Die besondere Dynamik von Barths Ansatz liegt nun im einzigen Unterschied zwischen „Kirche“ und „Welt“: Die Kirche versteht sich von Gottes Zuwendung her, die allen gilt; sie glaubt die Erwählung und Begnadigung Gottes und lässt diesen Glauben ihr Leben prägen. Weil auch die „Welt“ um das wissen soll, was in der „Kirche“ schon geglaubt wird, ist die Kirche in die Welt gesandt. Die Kirche vermittelt nicht die Gnade, aber sie macht auf Gottes Gnade in ihren Worten und Taten aufmerksam. So ermutigt sie die Welt zum Glauben und Leben von Gottes Gnade her – und immer wieder auch sich selbst.
Christiane Tietz
Christiane Tietz ist Professorin für Systematische Theologie in Zürich und Herausgeberin von zeitzeichen.