Verriegelter Weg in die Zukunft

Warum die Israeltheologie im Stresstest des antisemitischen Antizionismus steht
Überall in Israel, wie hier in Tel Aviv, sind Bilder der Geiseln, die während des Massakers vom 7. Oktober durch die islamistische Gruppe Hamas entführt wurden, plakatiert.
Foto: picture alliance/Reuters
Überall in Israel, wie hier in Tel Aviv, sind Bilder der Geiseln, die während des Massakers vom 7. Oktober durch die islamistische Gruppe Hamas entführt wurden, plakatiert.

In den kirchlichen Debatten um das Verhältnis von Christen und Juden war und ist die Frage nach der theologischen Bedeutung des Staates Israel kompliziert. Gemieden wird das Problem der Landverheißung, das theologisch im Hintergrund jeglicher religiösen Fassung der Staatlichkeit Israels steht, erläutert der Bochumer Systematiker Günter Thomas.

Politische Ereignisse können theologische Debatten einem unfreiwilligen Stress aussetzen. Herausgefordert wird dann deren Belastbarkeit und Orientierungsfähigkeit. Für die protestantische und die ökumenische Israeltheologie geschieht dies durch das Pogrom am 7. Oktober 2023 und dem dann einsetzenden Krieg in Israel und Gaza. In gesteigertem Maße wird die Israeltheologie einem Stresstest durch den geradezu explodierenden antisemitischen Antizionismus unterzogen. Weltweit ertönt „From the river to the sea, Palestine will be free“ und halten vermeintlich linke Intellektuelle dies für eine schicke oder gar unterstützungswürdige Meinungsäußerung.

Dieser „antisemitische Antizionismus“ (Alan Johnson) deformiert die Bedeutung Israels und des Zionismus so, dass schließlich beide zu den Bildern des klassischen Antisemitismus passen. Was früher der zum Dämon gemachte Jude war, ist heute der Dämon Israel. Durch und durch bösartig, voller Blutrünstigkeit, heimtückisch, kindermordend, hinterlistig, immer in böser Absicht handelnd, zersetzend und schlicht strafwürdig. Wie der Jude früher, so ist jetzt Israel aus der Gemeinschaft der Nationen zu verbannen. Das Geschwür am Leib der Staaten. Israelfreie Zonen werden geschaffen. Kurz: Israel ist das Hindernis für eine bessere Welt im Allgemeinen und einen friedlicheren Nahen Osten im Besonderen. Der feinere antisemitische Antizionismus hat nichts gegen den Juden an sich, nur gegen Israel – wenngleich in seinem Rahmen heute viele Juden auch außerhalb Israels und ohne israelischen Pass nicht mehr sicher sind.

Aus drei Elementen besteht dieser antisemitische Antizionismus. Sein politisches Programm hat als Ziel – trotz aller vordergründigen Betonung einer Zwei-Staaten-Lösung – das Ende des jüdischen Heimatlandes. Die von den Palästinensern so unerbittlich vorgetragene wie von den Kirchen und westlichen Staaten so selbstverständlich akzeptierte Forderung der Rückkehrmöglichkeit der Flüchtlinge zielt letztlich auf die Abschaffung Israels. Eben: „From the river to the sea, Palestine will be free.“ Judenfrei.

Zum antisemitischen Antizionismus gehört auch ein dämonisierender intellektueller Diskurs, der sich massiv verzerrender Begrifflichkeiten eines postkolonialen Denkens bedient: „Zionismus ist Rassismus“. Israel ist demgemäß ein „Kolonialstaat“, der das Land den „Indigenen“ geraubt hat. Israel ist ein „siedlungskolonialistischer Staat“, der das Land der Palästinenser „ethnisch gesäubert“, dann einen „Apartheidstaat“ errichtet hat und schlussendlich nun in Gaza einen „Völkermord“ begeht. Aus den Gottesmördern wurden Menschheitsmörder.

Als drittes Element gehört zum antisemitischen Antizionismus eine globale soziale Bewegung, die meint, einen Staat – und eben nur diesen einen und diesen wahrhaft kleinen jüdischen Staat – aus dem wirtschaftlichen, kulturellen und bildungspolitischen Leben der Menschheit ausschließen zu müssen.

Ethisches Christentum

Warum beteiligen sich die internationalen ökumenischen Bewegungen so eifrig am antisemitischen Antizionismus und schauen die protestantischen Kirchen mehr oder weniger tatenlos zu? Warum zählt das über Jahrzehnte erarbeitete besondere Verhältnis zum Judentum augenblicklich so wenig? Anders formuliert: Warum erweist sich die Israeltheologie der vergangenen Jahre im aktuellen Stresstest als unzureichend belastbar? Meines Erachtens sind zwei sich ergänzende Gründe anzuführen:

Für all diejenigen, die Dietrich Bonhoeffers Verabschiedung einer vertikalen Transzendenz beherzigen und ganz und gar auf ein ethisches, das heißt emanzipatorisch-politisches Christentum abstellen („Auferstehung heißt gegen Unrecht aufstehen.“), ist die Rede von einem „ungekündigten Bund“ Gottes mit Israel (Martin Buber) oder davon, „Miterben der Verheißung zu sein“ (Römer 9,4), ohnehin Begriffsfolklore und Dekor, oder gleich weißes Rauschen. Ist die Dimension eines heilvollen Handelns Gottes an uns (pro nobis) faktisch verabschiedet zugunsten menschlicher Arbeit für Gerechtigkeit, Frieden und für die Bewahrung der Schöpfung (kurz: „ökologische Gerechtigkeit“), so verschwindet nicht nur der alte theologische Antijudaismus einer christlichen Be- beziehungsweise Enterbung von Heil, Bund und Erwählung. Für das ganz und gar diesseitige Christentum löst sich auch der im jüdisch-christlichen Dialog über Jahrzehnte erarbeitete Anti-Antijudaismus vollständig auf. Das besondere Verhältnis von Christen zu den Juden ist „im besten Fall“ nur noch ein ethisch-moralisches: Inmitten einer politischen Welt voller Unrecht und Gewalt fühlen sich viele Christen vornehmlich zur moralischen Beurteilung und Erziehung Israels berufen. So kann im emanzipatorisch-aktivistischen Christentum eine menschenrechtsorientierte neue Judenmission mit einem antisemitischen Antizionismus verschmelzen.

Der zweite Grund ist ein genuin theologischer. Die Mehrheit der Kirchen, Experten und Theologen, die noch an dem theologisch besonderen Verhältnis zum Judentum festhalten und auch nicht einer nur horizontalen Transzendenz verfallen, scheuen sich gegenwärtig, theologisch ein besonderes Verhältnis zum Staat Israel auszuformulieren und anzuerkennen. Da der durch postkoloniale Theorie befeuerte antisemitische Antizionismus auf den ersten Blick „nur“ auf die Delegitimation des Staates Israel zielt, bleiben die Kirchen ohne eine klare theologische Qualifizierung des Staates Israel entweder sprachlos, in allgemeinen Empörungsformeln gefangen oder verbünden sich offensiv mit dem kaum gezügelten Hass auf diesen Staat Israel (zum Beispiel im Kairos-Palästina-Netzwerk).

In den kirchlichen Debatten um das Verhältnis von Christen und Juden war die Frage nach der theologischen Bedeutung des Staates Israel immer wieder „der neuralgische Punkt“ (Klaus Wengst). Die verzweigten Debatten um den Staat können auf diesem knapp bemessenen Raum nicht dargestellt werden. Die erste theologisch prägnante Qualifizierung des Staates erfolgte durch den rheinischen Synodenbeschluss von 1980. Dieser formulierte aus der Perspektive des Glaubens die „Einsicht […], dass die fortdauernde Existenz des jüdischen Volkes, seine Heimkehr in das Land der Verheißung und auch die Errichtung des Staates Israel Zeichen der Treue Gottes gegenüber seinem Volk sind“. Das „auch“ signalisiert eine Denkpause, nach welcher gezielt der Staat Israel als politische und völkerrechtlich gestützte Realität in der Perspektive der glaubenden Kirche eben „auch“ als Zeichen der Treue Gottes genannt ist.

Außerhalb der rheinischen Kirche blieb und wurde zunehmend die Staatlichkeit Israels zur Problemmarkierung. Nur die EKD-Studie „Christen und Juden II“ aus dem Jahr 1991 formuliert zugestehend und zugleich einschränkend, dass „die Verbindung von Volk und Land für das Judentum unabdingbar ist“. In den Distanzierungen dominieren wohlfeile Warnungen vor den Schreckgespenstern einer religiösen Überhöhung des Staates, eines fundamentalistisch-christlichen Zionismus, einer Etablierung einer Geschichtstheologie oder ganz allgemein einer heilsgeschichtlichen Aufladung des Nahostkonflikts. Gemieden wird das Problem der Landverheißung, das theologisch im Hintergrund jeglicher theologischen Fassung der Staatlichkeit Israels steht.

Charakteristisch für die gegenwärtige Positionierung der Kirchen ist die 2001 von der Gemeinschaft Europäischer Kirchen in Europa (GEKE) angenommene Studie „Kirche und Israel“. Die Studie sieht zu Recht ein „Nebeneinander“ des Volkes Israel und einer Erwählung der Kirche „durch denselben Gott“ – und hält dann fest: „Gott hat Israel durch die Gabe der Tora seinen Bund gewährt.“

Ausgeklammerte Rückkehr

In der durchgehenden Konzentration auf die Gabe der Tora verschweigt die GEKE laut und aktiv die Gabe des Landes. Damit wird, gegenläufig zu einer breiten exegetischen Motivbasis und gegenläufig zu einer breiten theologischen Diskussion im Judentum, das Thema der Heimkehr in das Land der Väter systematisch ausgeklammert. Nur aufgrund dieser letztlich reduktionistischen und verzerrenden Rede vom Volk Gottes kann sich die Studie dann in Dialektik üben, um „jede direkte politische Inanspruchnahme der biblischen Landverheißung zurückzuweisen“ und zugleich „alle Deutungen, die diese Verheißungen im Licht des christlichen Glaubens als überholt ansehen, abzulehnen.“ Nur wenn die Problematik der Gabe des Landes als aktuelle Herausforderung solchermaßen getilgt wird, kann man vage, nivellierend und theologisch desorientierend davon sprechen, dass sich „sowohl die Palästinenser als auch das jüdische Volk auf je eigene Weise an das eine Land gebunden fühlen“ (Ulrich Körtner). Nur dann kann man versuchen, ein wahres unsichtbares und ein problematisches sichtbares Israel zu unterscheiden (Peter Scherle). Offensichtlich ist: Das Ärgernis der Partikularität und der physischen Konkretion der Erwählung Israels hat in der Landgabe seine Spitze.

Das mit der Heimkehr verbundene Motiv der Gabe des Landes ist jedoch auch angesichts seiner vielfältigen Verarbeitungen in den verschiedenen Gestalten des Judentums aus dem empirisch existierenden Judentum nicht herauszurechnen. Selbstverständlich hat das rabbinische Judentum die Vertreibung aus dem Land theologisch kreativ verarbeitet, und es gibt ein gelebtes Judentum in vielen Ländern dieser Erde. Ebenso selbstverständlich gibt es jüdische Intellektuelle und Rabbiner, die, zumeist vom Boden sicherer Nationalstaaten aus, sich für einen Internationalismus, für eine jüdische Kulturnation, gegen jüdische Nationalstaatlichkeit und gegen einen vermeintlichen Siedlerkolonialismus aussprechen, bis dahin, dass eine hybride Diasporaexistenz faktisch zur Norm für Juden erhoben (Judith Butler, Daniel Boyarin und andere) oder eine Einstaatenlösung als Ideal gepriesen wird. Allerdings ist die mit dem Land verbundene Zionssehnsucht über die Jahrhunderte ebenso wenig erloschen wie die jüdische Präsenz im Land der Vertreibung. Und wie die Dinge liegen, gab und gibt es auch in der Zukunft keine Möglichkeit selbstbestimmter jüdischer Existenz im Land ohne einen Staat Israel – der immerhin zu 25 Prozent aus israelischen Palästinensern besteht.

Hybride Diasporaexistenz

Stärker als die Israeltheologie der 1990er-Jahre wird man heute differenzhermeneutisch fundiert sprechen müssen. Konkret: Was Christen aufgrund ihrer eigenen Gotteserkenntnis zum Staat Israel meinen sagen müssen, ist von dem zu unterscheiden, was sie als Christen in Anerkennung des Weges Gottes mit Israel die Juden selbst über Staat und Land Israel sagen lassen müssen. Differenzhermeneutisch gedacht, haben Christen kein Recht, das Judentum auf die Diasporaexistenz festzulegen. Selbst wenn die Errichtung und der Erhalt des Staates Israel für Christen nur ein Zeichen der Treue Gottes ist, haben sie kein Recht, den Juden abzusprechen, dass diese glauben, „dass Israel den Juden als physisches Zentrum des Bundes zwischen ihnen und Gott versprochen und gegeben“ wurde (Dabru Emet) – und dass diese erwarten dürfen, dass dieser Glaube wiederum von Christen anerkannt und respektiert wird! Was Christen anerkennen, muss nicht ihr Eigenes sein – und doch wird es politisch einen Unterschied machen.

Die Vermeidung, ja die gezielte theologische Löschung des bundestheologischen Motivs des Landes – in all seinen Varianten der kritischen Verarbeitung in der Geschichte wohlgemerkt – erweisen sich im Kontext eines antisemitischen Antizionismus als ein fataler Fehler. Das für weite Teile des Judentums so zentrale Moment der realen und/oder möglichen Heimkehr wird nämlich gleich mit gelöscht. Damit sind die Kirchen weithin unfähig, die verbreitete Rede von einem Siedlerkolonialismus theologisch (!) als das zu erkennen, was sie ist: eine Mischung aus unterkomplexer Geschichtsbetrachtung, ideologischem Schwindel und politischer Propaganda. Als stünde die al-Aqsa-Moschee nicht auf den Trümmern des zweiten jüdischen Tempels. Aber es ist dieses Denken, das dieser Tage auch innerhalb der Kirchen die Legitimität des Staates Israel zunehmend offensiv und mit politischen Folgen in Frage stellt. Diese Löschung der Landthematik öffnet zumindest die Tür für eine Dämonisierung jeglichen Zionismus, auch eines liberalen. Diese Löschung ist auch noch Grundlage der neueren Versuche, allen drei Religionen irgendwie den gleichen Anspruch auf das Land zuzugestehen und damit die Juden des besonderen Verhältnisses zum Land zu berauben.

Eine Israel-Theologie, die sich nicht theologisch zur Staatlichkeit des Judentums in Palästina als zentrale Selbstgestaltung des gegenwärtigen Judentums bekennt, bezieht sich eher billig und risikofrei auf das Phantom eines nur gedachten Volkes Gottes. Oder aber sie anerkennt theologisch abgründig nur die Diasporaexistenz des Judentums. Im Kontext der gegenwärtig massiven Infragestellung des Existenzrechts Israels genügt es nicht, innerhalb der Kirchen nur auf das Völkerrecht zu verweisen. Der alte Antisemitismus und der neue antisemitische Antizionismus wollen beide im Namen einer höheren Moral die Welt vor den Juden respektive Israel retten.

Falsche Versprechen

Dieser theologische Ansatz hat realpolitische Folgen. Die Palästinenser und auch die palästinensischen Christen machen mit guten Gründen auf das Leiden aufmerksam, das mit der Verkettung von Flucht, Vertreibung und falschen Versprechen verbunden war und immer noch ist. Angesichts der langen Geschichte der gewaltsamen Infragestellung der Existenz Israels wird es eine Zwei-Staaten-Lösung jedoch nur mit dem Verzicht auf ein Rückkehrrecht der Palästinenser geben. Die mögliche Rückkehr von 5,9 Millionen Palästinensern wäre das Ende Israels im Sinne jüdischer Selbstbestimmung – weshalb an dem Rückkehrrecht unerbittlich festgehalten wird. (Man stelle sich vor, die auf 99 Millionen angewachsenen zwölf Millionen Ostflüchtlinge wollten zurück in die deutschen Ostgebiete.) Darum ist die Utopie einer „gemeinsamen jüdisch-palästinensischen Föderation“ (Omri Boehm) eine Sehnsuchtsflucht aus dem politisch Möglichen.

Weil die palästinensische Seite stets beides will, den eigenen Staat und das Rückkehrrecht, gibt es den Staat nicht und wird es ihn nicht geben. Wollten die christlichen Kirchen tatsächlich für einen in die Zukunft gerichteten Frieden arbeiten, so müssen sie den palästinensischen Christen in deren „Kampf um Rückkehr“ (Adi Schwartz; Einat Wilf) scharf widersprechen. Auch eine zutiefst postkolonial grundierte palästinensische Befreiungstheologie müssten die Kirchen sowohl theologisch wie politisch entschlossen zurückweisen – ist sie doch Wasser auf die Mühlen eines immer mächtiger werdenden und am Ende gewaltgesättigten und letztlich eliminatorischen antisemitischen Antizionismus. „Noch nie war die Moral ein solcher Feind des Guten“ (Eva Illouz). Wer hier einen allseitig gerecht erachteten Frieden sucht, verriegelt den Weg in die Zukunft. Die Menschen in Gaza verdienen einen realistischen Blick nach vorne – ohne die nächste Katastrophe. 

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