In anderer Gestalt

Umnutzungen von Kirchen

Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte in Westdeutschland eine historisch einmalige Bautätigkeit ein. Zum einen mussten zerstörte Gebäude ersetzt werden. Zum anderen kamen durch die Vertreibung der Deutschen aus den östlichen Gebieten des Deutschen Reiches Katholiken in protestantische Regionen und brauchten entsprechend eigene Kirchen et vice versa. Zum Dritten sollten kleinteilige Gemeinden entstehen, um in den Großstädten Beheimatung zu bieten. Zum Vierten suchten neue Konzepte gemeindlicher Arbeit nach passenden Gebäuden. Möglich wurden die neuen Kirchen und Gemeindezentren durch den wachsenden Wohlstand.

Stimmen, die vor einem modernen „morbus edificandi“, also vor einer krankhaften Bauwut, warnten, verhallten. Die Lage änderte sich mit den 1990er-Jahren. Demografie, sozialer Wandel, Traditionsabbrüche sowie weniger Kirchensteuern – nicht selten aber auch die mangelhafte Bauqualität der 1960er-Jahre – führten zu der Frage, was mit all den Kirchen zu tun sei. Kann man sie in andere Hände und andere Nutzung geben? Anfangs erschien dies als Tabubruch. Mehrere Tagungen des Evangelischen Kirchbautags bemühten sich darum, die neue Situation zu verstehen, Kriterien zu entwickeln und sinnvolle Veränderungen zu ermöglichen. Nun liegt eine kunsthistorische Doktorarbeit vor, die fünf ausgewählte frühe Beispiele einer Umnutzung von Nachkriegskirchen analysiert. Sie ist sehr willkommen, denn auf die anfängliche Skandalisierung in den Medien folgte allzu oft ein vom Problemdruck getriebener Pragmatismus. Nachdenken tut aber auch in Sachen Kirchenumnutzung Not.

Hanna Weber hat die katholischen Kirchen St. Bonifatius in Münster (1963), jetzt ein Verwaltungsgebäude des Dialogverlags, St. Agnes in Berlin (1965), heute Sitz der Galerie König, St. Elisabeth in Münster (1965), nun eine Wohnanlage, sowie St. Sebastian in Münster (1960), nun eine Kindertagesstätte, untersucht. Hinzu kommt die evangelische Kapernaum-Kirche in Hamburg (1961), aus der die Al-Nour-Moschee wurde. Indem Weber architekturhistorische und diskursanalytische Elemente verbindet, versucht sie, die Konzepte und Motive der Akteure (Kirchengemeinden, Kirchenämter, Architekturbüros, Denkmalschutz, Städte und Kommunen) besser zu verstehen. Ihr Buch ist nicht das erste über dieses Thema. Aber die Genauigkeit und Ausführlichkeit ihrer Fallanalysen bieten eine erhellende Lektüre. Zudem hat das Buch sehr viele und gute Abbildungen. Man bekommt also einen plastischen Eindruck, um sich selbst ein Urteil zu bilden.

Die katholischen Beispiele überzeugen zum großen Teil inhaltlich wie gestalterisch. Die neue Nutzung steht nicht in einem Konflikt zur alten. Die architektonischen Lösungen gehen respektvoll mit dem Ursprungsbau um. Allerdings ist Weber etwas zu vornehm, wenn es um die Kosten geht. Die ersten Umbauten waren zum Teil teuer. Man konnte sich das leisten, musste es wohl auch, um der öffentlichen Empörung zu begegnen. Das wird in Zukunft nicht mehr so oft möglich sein. Etwas mehr Betriebswirtschaft hätte dem Buch gut getan, weil dadurch die Konflikthaftigkeit selbst gelungener Umnutzungen besser fokussiert worden wäre. Zu blauäugig ist auch die Fallbeschreibung von Kapernaum/Al-Nour geraten. Hier hätten die politischen Konflikte im Hintergrund präziser analysiert werden können. So entsteht ein zu harmonisches Bild dieser bisher in Deutschland einmaligen Umwandlung einer Kirche in eine Moschee. Auch fragt sich, ob die fünf Beispiele tatsächlich „hybride“ – ein zurzeit modischer Begriff – Gebäude darstellen. Man könnte auch nüchterner davon sprechen, dass etwas Altes aufhört und etwas Neues beginnt. Es lohnt, darüber nachzudenken und zu diskutieren. Dieses sorgfältig recherchierte, gut lesbare und feinsinnig illustrierte Buch regt dazu an.

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Foto: EKDKultur/Schoelzel

Johann Hinrich Claussen

Johann Hinrich Claussen ist seit 2016 Kulturbeauftragter der EKD. Zuvor war er Propst und Hauptpastor in Hamburg.


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